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Was macht Sisyphos in Modena
DIE “ENDLOSE GEGENWART” BEIM KREMSER DONAUFESTIVAL 2018
„I'm gonna take the stone of Sisyphus
I'm gonna roll it back to you.“
Chicago, Stone of Sisyphus (1993/2008)
Tief unter der Erdoberfläche rackert sich in Wiederholungsschleifen ein Mann ab, den man sich Albert Camus zufolge „als einen glücklichen Menschen vorstellen“ müsse. [1] Zu irdischen Lebzeiten, bevor er endgültig an den Ort seiner Bestimmung kam, galt Sisyphos dem Mythos zufolge als Musterbeispiel an Hybris und Gerissenheit. Er hatte nicht nur Thanatos, den Tod, sondern auch den Kriegsgott Ares und Hades, den Herrscher der Unterwelt, überlistet. Für den französischen Existentialisten war der „ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter“ ein Held. [2] Sisyphos starb schlußendlich an Altersschwäche. Als steinrollender Bewohner der Unterwelt stellt er für Camus das Sinnbild für die Vertreibung eines Gottes mit „Vorliebe für nutzlose Schmerzen“ dar. Aus dem übergeordneten Schicksal sei „eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß“, geworden. [3]
Heute sind die Götter von den Geschichten über sie absorbiert, und das alte Universum schweigt. Also machen sich die die Stimmen der Erdlinge bemerkbar. „Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr“, schreibt Camus. Und im übernächsten Satz: „Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit.“ Glücklich ist Camus’ absurder Mensch vor der Erkenntnis, daß dieses Leben, immerhin als „seine ureigene Schöpfung“, „durch den Tod alsbald besiegelt wird“. [4] Nicht ohne an Friedrich Torbergs Tante Jolesch zu denken – „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist“ [5] –, könnten wir sagen: Die modernen Sterblichen sind gegenüber dem mythologischen Sisyphos glücklicher durch die Aussicht auf ihren endgültigen Tod.
Sisyphos im Stein
In der Parallaxe zwischen repetitiver Mühsal und selbstbestimmter Zeit wird die Listigkeit des Philosophen sichtbar. Denn mit keiner Silbe versprach er – damals, 1942 – den Ausgang aus dem Tartaros. Seitdem hat sich das Denken weiterbemüht. Der postmoderne Sisyphos, dem bekanntlich die Autorschaft über sein Leben genommen ist, sucht nun als entmachteter „Herr seiner Zeit“ weiterzuarbeiten. [6] Weil er aber sein Werk nicht mehr in autonomer Größe umsetzen kann, da es nun über, sagen wir, „soziochoreografische Vorschriften“ kollektiviert ist, wird Sisyphos von seinem Stein in sich aufgenommen. Übersetzt in die gegenwärtige Gesellschaft bedeutet das: Die Zeit innerhalb des entmündigten, weil absorbierten Subjekts erstarrt, während zugleich die Zeit, die es mit sich reißt, zu einem performativen Präsens mutiert.
Eine Gegenwart wird performativ, sobald sie – vom Diskursmainstream ermächtigt – durch Absorption von Zukunft und Vergangenheit ihr Kontinuum auflöst und sich in gleichbleibender Umlaufbahn zirkulierend als Loop aufführen läßt. In dieses Phänomen konnte sich das Publikum des diesjährigen, zum zweiten Mal von Thomas Edlinger gestalteten Kremser Donaufestivals [7] einarbeiten. Unter dem Titel „Endlose Gegenwart“ und mit Beispielen aus Performance (Kuratorin: Astrid Peterle), Popmusik und bildender Kunst wurde in der Festival-Ausgabe 2018 der „gedehnte Spuk“ des heutigen Präsentismus als „Anwesenheit der abwesenden Zeiten im Netzwerk der Gegenwart“ erfahrbar. [8]
Durch die Performances und Installationen, die am ersten Wochenende präsentiert wurden, geisterte der postmoderne, infolge seiner Absorption „ungerührte“ Sisyphos in unterschiedlichen Erscheinungen. Am auffälligsten bei den beiden Film-Loops Pasajes I (2012) und Pasajes II (2013) des argentinischen Künstlers Sebastian Diaz Morales. In Pasajes I geht ein Mann, ohne je innezuhalten, durch Räume ganz unterschiedlicher, mittels Filmschnitten aneinandergekoppelter Gebäude. Das Durchschreiten jeder Tür bedeutet einen Bruch im raumzeitlichen Kontinuum der Realität. Doch auf diese Realität sind die Betrachter nicht angewiesen, weil sie direkt in die Unterwelt des Films selbst blicken können – und horchen, denn die harten Schrittgeräusche des Mannes sind nachträglich eingefügt. Nicht er selbst geht, sondern die Unterwelt schreibt ihm das Schreiten durch ein horizontal angelegtes Labyrinth ohne erkennbaren Ausgang vor, in einem Loop, der sich alle zwölfeinhalb Minuten wiederholt.
Im Nessushemd der Identität
Noch näher an den Sisyphos rückt Pasajes II. Dort steigt derselbe, von seinem Schreiten absorbierte Mann Stufen, Treppen, Leitern, Stiegenhäuser hinauf, und auch hier sind die architektonischen Schleusen aus unterschiedlichen Bauwerken durch den Filmschnitt zusammengeführt. Offenbar ohne je ermüden zu können, steigt dieser Sisyphos immer weiter nach oben, aber nur, um nach jeweils fünfzehn Minuten in eine Wiederholung einzutreten. Weil er aber kein klassischer und auch kein moderner (wie bei Camus) Sisyphos ist, sondern ein postmoderner, gibt es für ihn weder Narrativ noch Deszendenz, sondern nur einen schöpfungslosen Auftrieb im Dauerpräsens der „vorgeschriebenen“ Zeit-Loops. [9]
Sebastian Diaz Morales’ Filme transferieren den Sisyphos in die Schatten des Hades. Die beiden Räume der Installation Premise Place (edit 1) von Ryan Trecartin und Lizzie Fitch (USA) aus dem Jahr 2009 dagegen gestatten den Besucherınnen eine Passage durch den lärmigen Tartaros, den Folterkeller der griechischen Unterwelt. Zwei trashige Räume mit insgesamt sieben Monitoren, aus denen dem Besucher die Hölle eines social-media-geboosteten Videoclip-Narzißmus entgegenkreischt. Ausschlaggebend ist hier, daß die höllische Hysterie der Verdammten hinter die Aquarienscheiben der medialen Geisterräume verbannt bleibt, die wir zwar beäugen, aber nicht betreten können – doch die beiden analogen Zimmer, in denen die Monitore hängen, sind von einer so heillosen Tristesse, daß sie sich nahtlos mit den niederschmetternden Manien in den Videos verbinden.
Hier wird Sisyphos – von Trecartin und Fitch ironisch überhöht – als in nessushemdhafte Identitätshäute gepreßte und entmenschte Fleischfülle durch einen vorgegebenen medialen Fäkalienkanal, eine „Youtube“ im Retro-Look-Loop, gespült. Treffender kann man das US-amerikanische Debakel nicht karikieren. Das kreischende Umsichselbstrotieren einer konsumgekreißten Supermacht, die als retardiertes Politsystem und hochtoxische Sozietät seit Jahrzehnten einen der aggressivsten kulturellen Kolonisatoren auch Europas darstellt. Dafür hat John Gerrard, der in Dublin und Wien arbeitet, das passende Symbol gefunden: eine computersimulierte Flagge aus schwarzem Rauch, die an einem hohen Mast inmitten einer von der Ölindustrie verwüsteten texanischen Landschaft weht. Western Flag (Spindletop, Texas) von 2017 ist eine postapokalyptische Reminiszenz an den Nationalismus der Vereinigten Staaten.
Zerstörung der Kommunikation
Europäische Künstlerınnen reagieren kulturbedingt weniger schrill auf die Zeitenwende. So erinnert die niederländische Gruppe Wild Vlees mit ihrer Performance When everything is human, the human is an entirely different thing (2016) an einen anderen hellenischen Rebellen: Prometheus, von dem Karl Kerényi unter Berufung auf die Mythografen Hyginus und Apollodorus berichtet, er habe „Menschen aus Wasser und Erde“ geschaffen. [10] Wild Vlees kehrt diese Schöpfungsgeschichte um. Aus Gips und Wasser wird eine Masse gerührt, in die sich ein nacktes Menschenpaar langsam und bis zur Unkenntlichkeit einarbeitet. Was den postmodernen Sisyphos erneut beschreibt: Hier allerdings hat sich der Stein erweicht und nimmt das im Anthropozän heillos gewordene Leben stoisch wieder in sich auf.
Diese Heillosigkeit erinnert an den unseligen Bruder des „Vorausdenkers“ Prometheus, den unbedachtsamen Epimetheus, der entgegen Prometheus’ Warnung, jedes Geschenk abzulehnen, das von Zeus geschickt wurde, die Pandora mitsamt ihrer „Büchse“ als Gabe annahm. Mit Blick auf die Loops unserer „endlosen Gegenwart“ beobachten wir gerade eine Phase in der komplexen prometheisch-epimetheischen Dialektik, die den Epimetheus als Prometheus verkleidet auftreten läßt [11] und damit das Prinzip von Rede und Gegenrede zum Einsturz bringt. Die Konsequenz ist eine zwitschernde Glossolalie als an- und abschwellender Nonsensgesang, wie ihn die Gruppe Liquid Loft im Versuch wiedergibt, die Wirkungen „fremder Zungen“ zu durchdringen, was beim Donaufestival in eine Performance mit dem Titel Church of Ignorance – die ironischerweise innerhalb einer säkularisierten Kirche stattfand – mündete.
Getrieben von erratischen Vorgaben, krochen, taumelten, jagten oder kaprizierten sich die acht schwarzgekleideten Tänzerınnen des Choreografen Chris Haring durch den sakralen Raum, trugen ständig zylindrische MP3-Lautsprecher mit und sprachen mit tonlosen Lippenbewegungen nach, was ihnen über die Geräte vorgegeben wurde. Hinter diesem scheinbar ziellosen Treiben rankte sich die alttestamentarische Geschichte vom Turmbau zu Babylon. Auch hier ist ein Gott „mit Vorliebe für nutzlose Schmerzen“ zugange, der die als Hybris beschriebene, aber in Wirklichkeit rebellische menschliche Annäherung an sein Reich durch den Bau eines „Wolkenkratzers“ mit einem Schlag zunichte macht: Indem er einfach ihre Kommunikation zerstört.
Sisyphos trifft auf den Pop
An diesem Punkt kam auch bei Liquid Loft der vom Göttergeschenk überlistete und die Argumente seines Bruders ignorierende Epimetheus ins Spiel. In ihm ist definitiv eine Allegorie auf die Erfinder und Betreiber der global vernetzten Kommunikation zu erkennen, die sich als prometheisch ausgeben, die Folgen ihres Tuns aber erst im Nachhinein bedenken. Dementsprechend entpuppt sich die digitale Technologie als neues Gefäß der Pandora. Dazu passend hielten die Tänzerınnen in der Church of Ignorance ihre MP3-Lautsprecher wie perforierte Büchsen in Händen, aus denen die antidialektischen Glossolalien und Nonsensgesänge der digitalen Medien drangen.
So gesehen erschienen die von Liquid Loft gesammelten und dann gesampelten Proben unterschiedlicher Sprachen vor allem als Bestandteile identitärer Simulacra. Eine beeindruckende Situation. In die profanisierte Kirche als ehemaliges Haus eines strafenden Gottes und diametrales Gegenstück zur antiken Studierstube namens μουσεῖον waren die Schatten von Musen eingezogen, um die Vernichtung der Sprache als endloses Gotteswerk zu zelebrieren. Buchstäblich ent-mündigt – hier ergibt sich eine metaphorische Verbindung zwischen dem postmodernen Sisyphos und der klassischen Nymphe Echo –, waren sie dazu verurteilt, im Lipsynch nachzuformulieren, was ihnen die technische Umgebung vorsagte.
Genau hier trifft Sisyphos auf den Pop. Und auf dessen Musik, der das Wort „Loop“ mitzuverdanken ist. Das Donaufestival 2018 hat auch die Videoinstallation Late Metal (2015) der aus Schweden stammenden Künstlerin Elisabeth Kihlström gezeigt. Darin ereignet sich eine Wiedererstehung des Hades als postmoderne Unter(haltungs)welt, in der schemenhaft die archaischen Relikte des Kultischen dahinziehen. Der Pop ist ein tödlich erschöpfter Kult, der im Moment zu weit verbreitet und ein zu gutes Geschäft ist, um auszusterben. Ein sich selbst hetzender Endlos-Boom, der ohne Unterlaß den Präsentismus feiert, der die Kirche, das Theater, die Auftritte von Predigern und Herrschern imitiert und zugleich ad absurdum führt oder sie, immer gleich alt, wieder und wieder erstehen läßt. Da müssen wir uns den von seinem Stein absorbierten Sisyphos als ekstatischen Tänzer innerhalb einer rasenden Blase vorstellen, in der die Zeit stillsteht. Oder als headbangende Echo, die dazu verdammt ist, auf immer und ewig irgendwelche Lyrics nachzusingen. Respektive als so hampelnden wie sampelnden Epimetheus, der, während er im Prometheus-Outfit den DJ vormacht, noch einmal die Gaben der Götter verschwendet.
Wrumm, wrumm
In Kihlströms Video werden die Zeichen der Erschöpfung gestreichelt: der vor Jahrhunderten behauene Stein, der alte Ferrari, die kultische Verkleidung, das Vinyl von Judas Priests Album British Steel von 1980, die kalte Fassade des Ferrari-Museums in Modena. Dort ist aus dem μουσεῖον der gefesselten Kultur ein „Museo“ der entfesselten Industrie geworden, in dem stillgelegte Mobilitätsfetische angehimmelt werden sollen. Wir stellen uns den Sisyphos vor, wie er selbstvergessen in einem dieser lackierten Fetische sitzt. Wie er bei abgestelltem Motor aufs Gaspedal tritt, durch die Lippen häufig „Wrumm, wrumm“ macht und zwischendurch Chicago nachsingt: „I'm gonna take the stone of Sisyphus / I'm gonna roll it back to you.“
Fußnoten:
- ^ Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg: Rowohlt 1978, S. 101.
- ^ Camus, Albert: Ibid., S. 99.
- ^ Camus, Albert: Ibid., S. 100. Die Geschichte vom ganz normalen Ableben des Sisyphos hat Karl Kerényi (vgl. FN 10) am besten gefallen; es heißt aber auch, der Listenreiche wäre von Hermes gewaltsam zurück in die Unterwelt und dort gleich in den Tartaros geschleppt worden. Im Zweifel jedoch ist Kerényi immer die bessere Quelle.
- ^ Camus, Albert: Ibid., S. 101.
- ^ Torberg, Friedrich: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München: dtv 1984, S. 14.
- ^ Diesen Gedanken unterstützen auch Michael Ure und Federico Testa in ihrem Essay „Foucault and Nietzsche: Sisyphus and Dionysus“. Mit Bezug auf Nietzsches Idee vom „philosophischen Arzt“ bechreiben die Autoren Foucaults ethischen Experimentalismus als „Ethik der Irrungen“ und stellen fest: „Foucaults philosophischer Arzt gibt den modernen Subjekten den Auftrag, ständig die Grenzen der Gegenwart zu überschreiten bis hin zu der Sisyphosarbeit, mit der gleichen Aufgabe immer wieder neu zu beginnen.“ In: Westfall, Joseph; Rosenberg, Alan: Foucault and Nietzsche. A Critical Encounter. London: Bloomsbury 2018. Hier in Übersetzung des Autors zitiert aus einer Vorabveröffentlichung: http://www.academia.edu/32850970/Foucault_and_Nietzsche_Sisyphus_and_Dionysus.
- ^ 27. 4. bis 6. 5. 2018.
- ^ Vgl. Edlinger, Thomas (et al.): Endlose Gegenwart. Krems: Donaufestival 2018. Dieses Buch ist als Begleitlektüre zur Festivalkuratierung entstanden.
- ^ Das absorbierte Subjekt bleibt, gefangen im Medium des kollektivierten Werks, ungerührt und wird „kulturmedizinisch“ mit einem unter dem Label „Empathie“ vermarkteten Substitut geimpft. Dieser Impfstoff wurde beim vorangegangenen Donaufestival (2017) eingehend untersucht.
- ^ Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen. Band I: Die Götter- und Menschheitsgeschichten. München: dtv 1992, S. 169.
- ^ Exakt diese Rolle spielt die Wirtschaft des Neoliberalismus ganz generell: Sie agiert wie Epimetheus, der erst „nachher denkt“, umgibt sich aber mit einer prometheischen Aura.
(24. 5. 2018)