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Smartphones als biblische Tafeln

“PLEASANT ISLAND”: SILKE HUYSMANS UND HANNES DEREERE IM TANZQUARTIER WIEN

Von Helmut Ploebst

Die dokumentarische Performance ist eine hohe Kunst. Zu den vielen bemerkenswerten Arbeiten aus diesem Genre, die in Österreich zu sehen waren, gehörte etwa Janez Janšas Slovene National Theatre über die Odyssee einer Roma-Familie, gezeigt 2009 im Brut Theater (Wien), wo unter anderem 2011 auch Tagfish des Antwerpener Kollektivs Berlin aufgeführt wurde, das wiederum 2015 beim Osterfestival Tirol mit Perhaps all the dragons gastierte. In Tagfish geht es um Mechanismen der Korruption am Beispiel eines Luxushotelprojekts, und Perhaps all the dragons ist eine Videoinstallation, in der das Publikum außergewöhnlichen Leuten zuhört, die ihre Geschichten erzählen.

 

Ong Keng Sens The Continuum: Beyond the Killing Fields – eine Tänzerin erzählt, wie sie den Rote-Khmer-Genozid überlebt hat – war 2003 im Wiener Schauspielhaus zu Gast, Hate Radio von Milo Rau über das Massaker Mitte der 1990er Jahre in Ruanda wurde 2011 im Bregenzer Kunsthaus uraufgeführt und kam im Jahr darauf ins Brut. Und die dokumentarischen Strategien in den Performances von Rimini Protokoll sind ohnehin legendär.

 

Ermittlungen im Realraum

 

Unvergeßlich bleiben auch strikt subjektiv angelegte Grenzfälle wie Oil Pressure Vibrator (Impulstanz, 2014) und CPR Practice (Brut, 2016) der Koreanerin Geumhyung Jeong oder auch, wieder näher am eigentlich Dokumentarischen, Cuckoo von Jaha Koo aus Südkorea, präsentiert 2018 von Impulstanz im Schauspielhaus. In Cuckoo ist zu sehen, wie ein Wirtschaftssystem die Bevölkerung eines ganzen Landes terrorisiert. Die Liste ähnlich nachhaltig beeindruckender Arbeiten könnte noch lange fortgeführt werden.

 

Bemerkenswert ist, daß der hochpolitischen Dokuperformance noch nicht wirklich jene ganz große Anerkennung gezollt wurde, die sie eigentlich verdient hätte. Denn sie leistet oft etwas ganz Außergewöhnliches, indem sie sich aus den Bildschatten von massenmedialen Perspektiven bewegt und der Ermittlung im Realen unterschiedliche, aus künstlerischen Praktiken entlehnte Methoden zur Verfügung stellt. Der dokumentarischen Performance stehen andere Mittel zur Verfügung als dem Dokumentartheater, daher nimmt sie in den darstellenden Künsten einen eigenen Platz ein.

 

Dammbruch, Plünderung und Planierung

 

Mitte der 2010er Jahre hat das Genre mit Silke Huysmans und Hannes Dereere eine weitere Bereicherung erfahren. 2018 überraschte das Stück Mining Stories des belgischen Künstlerpaars sein Publikum bei Impulstanz im Schauspielhaus, und im Jänner 2020 zeigte das Tanzquartier Wien die neue Dokuperformance der beiden: Pleasant Island, uraufgeführt im Mai 2019 beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel. Bestechend an Huysmans’ und Dereeres Arbeitsweise ist, wie sicher und klug die Künstlerınnen mit minimalistisch wirkenden digitalen Medien spielen, diesen Produkten der permanenten technischen und technologischen Revolution, die unseren Planeten, seine Natur und seine Kulturen seit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht nur ungehindert, sondern auch mit wachsender Wucht planiert.

 

Mining Stories erzählt von der Dammbruchkatastrophe eines Bergbauunternehmens in Brasilien. Und Pleasant Island gibt einen Einblick in das multiple Desaster der kleinen Pazifikinsel Nauru. Erst – zur Zeit des alten Kolonialismus – wurden Naurus Bodenschätze, die Phosphatvorkommen des einst „Pleasant Island“ genannten Stücks Land in der Weite des Ozeans, geplündert. Auch die Insulaner wurden dabei reich. Als sich jedoch der Abbau nicht mehr lohnte, holte sie die Armut ein. Die einstige Kolonialmacht Australien errichtete ein Flüchtlingslager, für das sie bis heute bezahlt. Andere Einkünfte gibt es zur Zeit nicht mehr für Nauru.

 

Brand der Bibliothek auf Nauru

 

In einem ausgeklügelten Setting berichten Huysmans und Dereere von ihrer Reise dorthin. Sie knüpften als Künstler Kontakte mit den Bewohnern, denen es verboten ist, mit Journalisten zu sprechen, und ließen sie darüber reden, wie es ihnen heute auf ihrer unfruchtbar gewordenen Insel geht. Die Erzählung bildet sich als Mosaik aus Bild- und Tondokumenten, das über die traurige Realität der verbannten Flüchtlinge ebenso Auskunft gibt wie über die prekäre Lage der Insulaner. Diese wissen heute nur noch wenig über die Vergangenheit ihrer Insel, vor allem, weil die meisten Unterlagen darüber bei einem Brand ihrer Bibliothek vernichtet wurden. Silke Huysmans und Hannes Dereere setzen künstlerische Mittel ein, die ganz aus dem Fundus der technologischen Revolution stammen, deren Kinder heute erwachsen werden.

 

Die Sprößlinge der schönen neuen Digitalwelt erben auch die Kosten für all die Errungenschaften, deren sie sich so selbstverständlich und so gläubig bedienen, als wären Smartphones und „soziale“ Medien Elemente einer unanzweifelbaren Weltreligion. In diesem Sinn projizieren die beiden Künstlerınnen die Oberflächen ihrer Telefonmonitore auf zwei übermannsgroße, hochformatige Screens, nutzen eine Notizen-App, die Videoplayer, spielen ihre Interviews als Telefon-Tonaufnahmen ab, machen Musik über verschiedene dafür designte Programme, zeigen Whatsapp-Chats und Youtube-Clips.

 

„Nutzerınnen“ als Botschaft: das Cool-Hot-Paradoxon

 

Huysmans und Dereere stehen selbst als Performer während des gesamten Stücks neben diesen Screens und bedienen ihre kleinen Geräte. So sind ihre Körper präsent, aber ausschließlich als Operateure der Smartphone-Apparate. Das mutet ebenso unheimlich an wie der Inhalt ihrer Arbeit: zwei mit Fingerspitzen tippende und wischende Gestalten, die ihr Medium berichten und es politisch werden lassen. Als wäre das Medium ihr Werkzeug. Heute wissen wir: In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Neu ist nun, daß nicht nur das Medium seine eigene Message ist, sondern auch seine „Nutzerınnen“.

 

Damit stellt das Künstlerpaar eine Situation her, in der es noch stärker um das Erleben ihres Berichts über Nauru als um den Inhalt dieses Berichts geht. Dieser Widerspruch teilt sich durch die aktiv-passive Anwesenheit der Performerınnen mit und bringt das Publikum in ein unterschwelliges Dilemma. Durch die Bildschirme der beiden Smartphones dringt eine Verfremdung des Dokumentarischen, weil das Medium auf der Bühne seinen pseudointimen Charakter verliert. Mit Marshall McLuhan – Understanding Media – gesprochen, machen Huysmans und Dereere in ihrer Performance ein cooles zu einem heißen Medium: weil sie es selbst auftreten lassen. Dieses Paradoxon knistert gefährlich in den Rezeptionsapparaten der Zuschauerınnen.

 

Monumentale Gesetzestafeln einer digitalen Religion

 

Wie die Gesetzestafeln des Moses stehen die beiden Smartphone-Screens auf der Bühne: zwei Monumente, inszeniert als Übermittler einer Wahrheit. Der mediale Subtext steht im Vordergrund, der Bericht über Nauru selbst flimmert darauf wie ein virtuelles Gespenst und erfüllt trotzdem seine Bestimmung. Die Bühne übernimmt die Rolle des Metamediums Bibel, in dem sich das archaische Medium der Steintafeln repräsentiert, dessen einzige Botschaft die Bestätigung der übergeordneten Autorität ist. Dieselbe Funktion erfüllen auch die beiden Screens in Pleasant Island. Sie künden von dem – profanen – Allmachtsanspruch des digitalen Mediums.

 

Das Smartphone als technologische Apparatur ist auch eine Allegorie des Bergbaus und der Rohstoffgewinnung. Es enthält unter anderem Edelmetalle, seltene Erden, Kobalt und Lithium. Und es bildet die Ikone eines vom aktuellen postkolonialen Diskurs ausgeblendeten Elektronischen Kolonialismus. Huysmans’ und Dereeres Performance enthält gegen Ende eine Darstellung der neuen Hoffnung der Politik auf Nauru: Künftig soll auf Lizenzen zur Gewinnung von Manganknollen auf dem Meeresboden gesetzt werden.

 

Sie liefern die gesetzlichen Grundlagen dafür, daß bald metallische Rohstoffe für Batterien aus dem Ozean geholt werden können. Verhandelt wird mit der als „grünes“ Unternehmen auftretenden DeepGreen Corporation aus Vancouver, Kanada. So verspricht Naurus Zukunft nach Ausbeutung der Phosphatvorkommen mit fatalen Folgen für die Insel nun auch die Zerstörung des Tiefseebodens im Umfeld, um den wachsenden Rohstoffbedarf für digitale Hardware und E-Mobilität decken zu helfen. Der abgründige Zynismus hinter dieser Entwicklung bildet den Höhepunkt einer herausragenden performativen Dokumentation.

 

(15.1.2020)