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Sekrete der Erregung

DIE URAUFFÜHRUNG VON EL CONDE DE TORREFIELS “KULTUR” BEIM DONAUFESTIVAL 2019 IN KREMS

Von Helmut Ploebst

Über Kopfhörer dringt die Stimme einer Frau in die Ohren der Rezipientınnen und richtet sich dort ein. Durch diese intime Nähe vermag die mit dieser Stimme vorgetragene Schilderung ganz unmittelbar intensive Bilder im Kopf zu erzeugen. – Aber einen Moment noch, das ist nicht der Beginn von Kultur, der jüngsten Produktion der spanischen Gruppe El Conde de Torrefiel, die beim Donaufestival 2019 in Krems ans Licht der Bühne kam. Und, so viel muß an bereits dieser Stelle gesagt werden, am Ende war das Uraufführungspublikum so irritiert, daß es ohne zu klatschen aus dem Raum ging.

 

Erstaunlich. Ein großartiger Ausgang, weil es im Theater eigentlich nur zwei Arten des Triumphs gibt: einerseits die üblichen Standing Ovations als Folge eines im Sinn der Zuschauerınnen äußerst geglückt affirmativen Ereignisses, andererseits aber die Verunmöglichung des Applausrituals. Nach Kultur verließ das Publikum den Schauplatz der Performance so betroffen wie den eines Unfalls. Etwas ähnliches wie ein Crash ist auch passiert. Denn Kultur entschreibt die Seherwartungen vor allem von popkulturaffinen jungen Erwachsenen gleichermaßen wie es deren kindliches Bedürfnis nach Bestärkung konterkariert.

 

Sofa und Du

 

Wie kann das passieren? Am Anfang gibt es nur die Kopfhörer, die man bereits aufsetzen kann, bevor der Einlaß begonnen hat, dann die über die Geräte übertragene Klaviermusik und drittens das Wissen um den Stücktitel. Letzterer, das deutsch geschriebene „Kultur“, wirkt von vornherein so unheimlich wie der Geruch von Rauch in einem Treppenhaus. Eine Assoziation, die sich in der Folge als nicht unbegründet erweist. Sobald die Türen des Theaters geöffnet werden, löst elektronischer Sound die hübschen, aber langweiligen Klaviertöne ab.

 

Das Bühnenbild ist einfach: Ein breites Sofa in der Mitte, dahinter weißer Hintergrund wie für eine Fotositzung, seitlich ein Tisch. Auf der Bühne stehen zwei junge Männer und reden miteinander. Worüber, ist nicht zu verstehen. Sobald das Publikum Platz genommen hat, beginnt die unsichtbare Protagonistin, deren ruhige Stimme durch die Kopfhörer kommt, zu sprechen. Sie erzählt in der seltenen appellativen Du-Form.

 

Mix des Monats

 

„Du bist mit dem Bus nach Hause gefahren“, so beginnt sie ihr Selbstgespräch, das ihre Zuhörer, mehr aber noch sie, die sich selbst als Gegenüber ansprechende Erzählerin, adressiert. Daheim – „was für ein Genuß, alleine zu sein“ – startet sie ihren Computer und dort auf Spotify eine von dem Algorithmus der Website zusammengestellte Mix-des-Monats-Playlist, die auf sie persönlich zugeschnitten sein soll. Heraus kommt eine Mischung aus Gregorianischen Chorälen, Rap und Bossanova. „Der Algorlithmus versteht dich eben doch nicht richtig“, stellt die Frau fest und die Videofunktion an.

 

Hinter dem Tisch auf der Bühne sitzt ein Mann und schreibt auf einem Laptop. Die Erzählerin spricht weiter in die Ohren des Auditoriums: Sie höre die Playlist, um ihren Kopf zu leeren. Als Deutschlehrerin an einem Gymnasium schreibe sie nebenbei Bücher. Drei habe sie bereits publiziert. Sie gerät ins Grübeln: „Manchmal denkst du, ob du nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen hast, weil du eine schreibende Frau bist.“ Zur Zeit scheine es einen Mehrwert darzustellen, eine Frau zu sein.

 

Resilienzen

 

Gute Ideen für ihr neues Buch hat die Erzählerin bereits, aber den ersten Satz sucht sie noch. Sie macht sich die bei Schreibenden üblichen Gedanken über erste Sätze, erinnert sich an Beispiele, holt unter anderem Emma Clines Buch The Girls über die jungen Frauen, die für Charles Manson gemordet haben, hervor. Auf einen schlechten ersten Satz, sagt sie, könne trotzdem ein gutes Buch folgen. Genauso wie Schriftsteller, die sich praktischen Problemen nicht zu stellen vermögen, oft großartige Chronisten des Lebens seien.

 

Während der Mann auf der Bühne in sein Tippen vertieft bleibt, läßt sich die Protagonistin weiter in Gedanken treiben, die von ihrem Blick durch ihr Zimmer stimuliert werden. Die Resilienz der werweißwielange ungegossen gebliebenen Zimmerpflanze erinnert sie an die Leidensfähigkeit von Kindern in der Schule, von Schweinen im Mastbetrieb oder Arbeitern in der Fabrik. Und, ausgehend von der Pflanze, erinnert sie sich an einen spanischen Biologen, der die Erde mit einer großen Blume verglich, um die die Menschen wie Insekten schwärmen.

 

Das Weltall bestäuben

 

Das Ziel der Menschen sei es, sagt die Erzählerin, der Erde eines Tages zu entkommen. „Die Erde benutzt uns, um das Weltall mit Leben zu bestäuben.“ Das würde, denkt sie, ihre Lust an der Abstraktion erklären. Der Glaube an Gott, das Masturbieren, die Sehnsucht, so weit wie möglich zu reisen – das sei dasselbe, alles Versuche, den Körper zu verlassen.

 

Nach einer Weile tritt eine junge Frau auf die Bühne. Sie trägt Brille, Schal und Rucksack. Ohne Weiteres könnte sie die Verkörperung der Stimme sein, die durch die Kopfhörer in die Köpfe der Zuschauerınnen sinniert. Der Mann verläßt seinen Computer, begrüßt sie freundlich. Mit der Zeit stellt sich heraus, daß die beiden einander getroffen haben, um im Studio des Mannes ein Pornovideo zu drehen. Eine delikate Situation: Die Erzählerin hat von einer Abart der Panspermie geredet, weiters von der Möglichkeit für Millionen, im Internet über ein digitales Alter Ego performativ tätig zu sein, und von ihrer, der Lehrerin, Konversation mit einem Schüler darüber, warum sich die Menschheit über Jahrhunderte hin die immer gleichen Geschichten erzählt.

 

Flüssige Symbole

 

Außerdem vergleicht sie, bevor die Frau auf der Bühne erscheint, unsere Gegenwart mit der Niedergangszeit des Römischen Reichs, als es dort üblich wurde, im Theater explizite Gewalt zu zeigen. Das sei, sagt die Protagonistin, die Kultur von heute: Blut, Orgasmen und Tränen explizit zu machen, als „flüssige Symbole der Sehnsucht nach einer neuen Wahrheit, die noch keiner versteht“.

 

Das Paar auf der Bühne wirkt aisgesprochen entspannt und beginnt eine Unterhaltung, die wegen der Stimme aus den Kopfhörern nicht zu verstehen ist. Und weil die erzählende Protagonistin ihre lapidare Geschichte so hinreißend vorbringt, fällt es schwer, die Geräte abzusetzen. Sie wird erst zu schreiben beginnen, nachdem sie ein Werbespot auf Spotify aus den Gedanken reißt – „und schon ist vergessen, was du gerade gedacht hast“. Von hier an lenkt der gesprochene Text seine Figur genau in jene Sphäre, die auch das Paar auf der Bühne ansteuert. Weil aber El Conde de Torrefiel das Visuelle und das Akustische voneinander trennen, tut sich in der Wahrnehmung ein Riß auf.

 

Spaltende Spekulation

 

Damit wird auch jener Bruch in unserer Kultur spürbar, den die von der Unterhaltungsindustrie – aber auch vom Theater – über Darstellungen des Expliziten und Eindeutigen betriebene Spekulation mit dem Affekt verursacht hat. Dieser Bruch ist mittlerweile unübersehbar ein weit klaffender Spalt: In Kultur werden Dinge normabweichend so angesprochen, wie sie eigentlich nicht mehr formuliert werden, seit die Kulturwelt zunehmend aus sich sehr empfindlich gebenden Personen besteht, die den Teufel in der Sprache und im Bild versteckt wähnen. Die schreibende Lehrerin gehört nicht zu ihnen. Sie erwähnt sie auch mit keinem Wort.

 

Der annähernd synchrone Tanz der Erzählung und der Handlung auf der Bühne führt durch eine lange Liste auf der einen und einer freundlichen, wenn auch nicht jugendfreien Situation auf der anderen Seite, die beide auf einen Zustand der Beiläufigkeit und des Selbstverständlichen zulaufen, der sich über den Spalt schiebt, wie um ihn zu tarnen oder wie um zu zeigen, daß das normative Pornografische dabei ist, die Kultur so sehr zu durchdringen, daß sie zu ihrem primären Paradigma wird. Darauf hat 2013 auch Ivo Dimchev in seiner Performance Fest reagiert.

 

Nüchternheit

 

El Conde de Torrefiel nutzt die Möglichkeit, im inneren Diskurs von Kultur das, worum es geht, explizit zur Sprache und Darstellung zu bringen. Die inszenatorische Nüchternheit, mit der dies geschieht, macht den Diskurs umso plastischer. Die scheinbare Magie einer unverstellten, vielgestaltigen Pornografie, ihr dennoch ewiggleiches Brimborium, die tiefen Versprechen, die hohe Energie, ihre unglaubliche Gewalt, die die Augen derer, die von dieser Pornografie penetriert sind, schier aus den Köpfen quellen lassen, werden auf die Gelassenheit der Atmosphäre bei einem netten Nachmittagskaffee unter guten Bekannten heruntergebrochen.

 

Dadurch verspricht diese Performance selbst gar nichts und wird eben zu jenem Überfüllungs- und zugleich Entzugserlebnis, bei dem es den Zuschauerınnen beim Donaufestival das Klatschen verschlagen hat. Klüger, raffinierter und verunsichernder kann ein Stück als Kommentar zur Lubrifikation der Moderne (vergleiche dazu Zymunt Baumans Buch Liquid Modernity) wahrscheinlich gar nicht gemacht werden. Mit einem kleinen und feinen Format wird hier eine Gegenwart als erregungsgesteuerte Anti-Vision gezeigt. In dieser entweicht dem durch Dauerstimulation überreich austretenden Sekret ein sanfter Nebel. Und der riecht gefährlich nach Rauch.

 

(5.5.2019)