- Essays
- A Dance Happening at steirischer herbst?
- Körper im Werden, zusammen
- Gabriele d’Annunzio oder der Soldat als Akrobat
- Smoky Venus of Dada
- Die progressive Fischkultur
- Ξ: Reform, Revolution, Spektakel
- Ξ: “Sur-Realist” Parade
- Das fluide Begriffstier
- Black Box in flüssiger Moderne
- Ida Rubinstein as Saint Sébastien
- Getanzte Satire
- 168 Stunden Bodenunruhe
- Neunzehnhundertachtundsechzig
- „Good bye, Derrida!“
- Anti-Museum, Super-Museum, Heterotopia
- Ballet Mécanique im Chthuluzän
- Postcontemporary: Vorwort zum Essay
- Postcontemporary: Posting
- Postcontemporary: Eine Kritik
- Postcontemporary: enthauptungsphilosophie
- Postcontemporary: Big Chill
- Postcontemporary: Das Post ist da
- Postcontemporary: Keine Zeit
- Körper-Szenen
- Analysen
- Wege aus dem Treibhaus
- Die emanzipierte Kulisse
- Glückliches Ende der Hoffnung
- Smartphones als biblische Tafeln
- Die Faust unter der Sonne
- Sprache als Naturpodukt
- Walking Dead im Volkstheater
- Sekrete der Erregung
- Die tiefste Frage der Welt
- Souveränität eines Leibes
- Songs of the deliberating will
- Raffinierte Relationen
- Dem Sterben ein Fest
- Tanz der fleischfressenden Bilder
- Principessa Pina Bausch
- Das Herzchen ist ein Monolith
- Der Körper gibt das Bild
- Nurejews odalisker Nußknacker
- Plötzliches Erschrecken
- Mutter der Seufzer
- In der Unterwelt des Glücks
- Eine Emulsion auf dem Rhombus
- Der namenlose Tanz
- Geworfen gleich entworfen
- Indonesierinnen auf Augenhöhe
- Gefangen im Kunstwerk
- Was macht Sisyphos in Modena
- Leben eines Choreografen
- Zeit der Nacktvergessenheit
- Identität als Out
- After Natten
- Zum Abschied der alten USA
- Der geschmeidige Choreograf
- The Spooky Jakob Lena Knebl Show
- between a rock and a hard place
- Alain Platel kann „nicht schlafen“
- Leichtigkeit proben
- Donnie Rotten, The Apprentice
- Portraits
- Interviews
Die Faust unter der Sonne
ELISABETH BAKAMBAMBA TAMBWES PERFORMANCEINSTALLATION “CARRÉ NOIR” IM WIENER BRUT THEATER
Der Glaube, ein Ereignis sei so weit weg, bloß weil zum Beispiel 105 Jahre zwischen „damals“ und heute liegen, hat Tücken. Während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts etwa wurden die Weichen für alles gestellt, was wir heute unter zeitgenössischer Kunst verstehen. Als Kasimir Malewitsch 1915 sein schwarzes Viereck malte, das als Schwarzes Quadrat zu einer der Ikonen der Moderne werden sollte, lag der dem Motiv zu Grunde liegende künstlerische Coup bereits zwei Jahre zurück: Die „futuristische Oper“ Sieg über die Sonne von Alexei Krutschonych, Welimir Chlebnikow, Michail Matjuschin und Malewitsch, der auf den Bühnenvorhang sein allererstes schwarzes Quadrat aufgetragen hatte.
Es macht durchaus Sinn, beim Besuch von Elisabeth Bakambamba Tambwes neuem Stück Carré Noir an Sieg über die Sonne zu denken, obwohl die Künstlerin selbst expressis verbis nur auf das Gemälde von 1915 referiert. Denn bereits die russische Avantgarde-Oper im St. Petersburger Lunatheater hatte immersiven Charakter wie nun auch die Performanceinstallation Carré Noir im Studio des Wiener Brut Theaters. Auch hier zeigt der Vergleich, dass die Innovationskraft der Ersten Avantgarde, inklusive jener in Rußland, bis heute unübertroffen ist. Zwei Weltkriege, Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus schafften es nicht, ihren Einfluß auszulöschen. Es hat allerdings – seit 1945 und 1989 – Jahrzehnte gebraucht, um die Bedeutung dieser Avantgarde langsam einschätzen zu lernen.
Die Schwachstellen der Aufklärung
Der Prozeß ist längst noch nicht abgeschlossen, aber es ist den Weg wert, vor allem jetzt, am möglichen Beginn eines nächsten dunklen Zeitalters. Tambwes Arbeit erweist sich als ein hervorragender Indikator dafür, wie spannend der Versuch sein kann, zu untersuchen, an welcher Stelle auf diesem Weg wir uns heute befinden. Anders als die Erste Avantgarde scheint die Gegenwartskunst am Beginn der 2020er Jahre weder revolutionär noch radikal oder innovativ zu sein. Sondern ein von Selbstzensur und Kommerz kontaminiertes künstlerisch-navigatorisches Instrument jener westlichen Gesellschaft, die mitten in den Umbrüchen einer technisch-ökonomischen Revolution dabei ist, die Schwachstellen ihrer historischen Aufklärung genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Maßstäbe dafür setzt der Westen nicht mehr allein.
Nun ist nicht der Sprung nach vorn von Bedeutung, sondern das Vordringen in die Tiefen jener kulturellen Verstrickungen, die geschichtsbildend für die Neuzeit waren. Auch das deutet Tambwe in Carré Noir an, genauso wie den Umstand, daß die Gesellschaften der Gegenwart Komplexitäten entwickelt haben, auf die sie sich einlassen müssen, wenn sie nicht wieder – wie im 20. Jahrhundert – an den eigenen Hervorbringungen scheitern wollen. Im Foyer des Brut-Studios beginnt Tambwe, die in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa geboren ist, als Performerin mit blonder Perücke und in blauem Overall sowie transparenten High Heels, aus einem blaßgrauen Plastikschlauch eine Skulptur zu formen.
All die Schiffbrüchigen an Bord
Es ist ein Nachbau des Kompositionsprinzips von Théodore Géricaults Gemälde Le Radeau de La Méduse (1818/19): zwei – eigentlich drei – Pyramiden, innerhalb dessen sich ein Schiffbruchsdrama widerspiegelt. In diese Skulptur verstrickt sich die Performerin. Später wird sie ihr Publikum einladen, auf eine Bodenprojektion des Géricault-Gemäldes und damit auf das Floß der Medusa und zu den Schiffbrüchigen zu treten. Wer weder das Bild noch die tragische Geschichte dahinter kennt, wird eventuell die Referenz auf die vielen Flüchtlinge übersehen, deren Boote nun, 200 Jahre später, im Mittelmeer versinken.
Und wer Malewitschs Schwarzes Quadrat nicht kennt, wird mit seiner Andeutung als weißlichtige Projektion im Theaterraum wohl kaum zu Rande kommen. Wer darüber hinaus den Text nicht liest, der im Foyer über einen Bildschirm läuft, versäumt den Kontext dieser Arbeit. Carré Noir repräsentiert eine anspruchsvolle Referenzstruktur, die sich der schnellen und oberflächlichen Rezeption entzieht. Das Stück verlangt Aufmerksamkeit und Bildung, läßt seinem Publikum aber keine Zeit für entspannte Kontemplation. Tambwe tritt zusammen mit Eric Abrogoua auf, der erst in einem weiß-orangem Fell erscheint, aus dem er sich schließlich schält und in der Folge an eine Figur aus Géricaults Bild erinnert: den afrikanischen Seemann, der auf dem Floß einem Schiff zuwinkt, das ganz klein am Horizont auftaucht.
„Unser Licht ist in uns“
Gegen Ende der Performance trägt Abrogoua, der die Leidenschaften eines Menschen, der sich fremd fühlt, mimt, ebenfalls High Heels. Das Motiv der Queerness fädelt sich in das Geschehen ein und drängt sich dem Blick als vertrautes Stereotyp der Gegenwart auf. Noch ein weiteres Detail: Tambwe taucht das Haar ihrer blonden Perücke in Wasser, läßt dieses Wasser erst ins Publikum auf den weißen Bühnenboden tropfen (Drip Painting) und schleudert danach mit heftigen Kopfbewegungen Wasser auf eine „Leinwand“ aus Transparentpapier (Action Painting). Diese beiden performativen Motive zeigen Bilder, die dazu bestimmt sind zu verschwinden, sobald das Wasser getrocknet ist: Auch das vermeintlich Bleibende ist letztlich ephemer.
Das entspricht jenem Teil des Texts auf dem Bildschirm im Foyer, in dem erklärt wird, daß aufgrund chemischer Prozesse in dem von Géricault verwendeten Farbmaterial Le Radeau de La Méduse einmal verschwunden sein wird. Übrig bleibe nur eine schwarze Fläche. Der letzte Satz in der Oper Sieg über die Sonne lautet: „Die Welt wird vergehen, doch wir sind ohne / Ende.“ Davor heißt es: „Von Angesicht sind wir dunkel.“ Beides korreliert mit dem Geschehen in Carré Noir. Vor allem mit einer dritten Behauptung aus Sieg über die Sonne: „Unser Licht ist in uns.“ Die wahre Größe von Carré Noir liegt weniger in seiner Dramaturgie als in dem diesem Werk eingeschriebenen Anspruch, mit den erratischen Projektionen unserer Wahrnehmung ein Spiel zu treiben, das aus Malewitschs Verbannung der gegenständlichen Darstellung aus dem Bild generiert sein könnte.
Der Künstler hatte 1913 der Sonne, die das zaristische Regime symbolisierte, das schwarze Quadrat entgegengestellt: als Zeichen für das Nichts. Damit läßt sich auch heute hervorragend arbeiten: Elisabeth Bakambamba Tambwe dreht dem Publikum den Rücken zu, beugt sich und steckt ihre braune Faust durch einen Sphinkter, den sie in ihre Hose eingearbeitet hat. Das schließlich ist eine Metapher, die nach 105 Jahren jener von Malewitschs Nichts um nichts nachsteht.
(10.1.2019)