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Das Herzchen ist ein Monolith
EIN “GRAND FINALE” VON HOFESH SHECHTER IM FESTSPIELHAUS ST. PÖLTEN
Am Anfang war der Monolith. Das ist seit etwas mehr als fünfzig Jahren bekannt, also seit 1968, als Stanley Kubrick seinen Film 2001: A Space Odyssey herausbrachte. Der aus Israel stammende britische Choreograf Hofesh Shechter brachte 2017 das Stück Grand Finale zur Uraufführung, in dem ein ganz ähnlicher Monolith die Bühne beherrscht. Das Stück war nun [1] auch im Festspielhaus St. Pölten zu sehen, und das Publikum reagierte am Ende mit Standing Ovations.
Daß am Anfang eines Endes etwas erscheinen kann, das den Charakter eines Monolithen hat, irritiert heute wahrscheinlich weniger als 1968, und zwar deshalb, weil die allgemeine Irritation nun bereits so hoch ist, daß ihr Rauschen so gut wie alles überlagert. 1969 tat Neil Armstrong seinen „großen Schritt für die Menschheit“. Dieser war ein monolithischer Tanz auf dem toten Trabanten. Es folgten einiges Pathos und rasch nachlassendes Interesse. Ein raumfahrttechnischer politischer Propaganda-Coup, auf den alle Beteiligten philosophisch (auch wenn das nun wie ein Witz klingt) schlecht vorbereitet waren und der unter der Leitung eines NS-Ingenieurs über die Weltbühne ging.
Der Mann, der die Rakete liebte
Man hätte besser vorbereitet sein können, etwa so wie Kubrick es – „Eyes Wide Shut“ – zweifelsfrei war. Aber nicht er, sondern Wernher von Braun [2] wurde zur Symbolfigur seiner Zeit: Nicht Künstler vom Schlag Kubricks sollten die Welt ab 1968 gestalten, sondern Technikfreaks, wie von Braun einer war. Nicht die Visionäre der Erkenntnis also, sondern smarte Gestaltwandler nach dem Geschmack von Tommaso Marinetti. [3] Hofesh Shechter erfaßt in der ersten Grand-Finale-Minute die Wucht des Monuments, seine Drohung, seinen Schatten, seine Reaktion auf Berührung. Der eine, breite Monolith teilt sich in zwei schmale, die Figur, die ihn berührt hat, bricht zusammen, und im Spalt, der sich zwischen den beiden monumentalen Hälften auftut, erscheint – eine Musikgruppe.
So beginnt eine „Zellteilung“. Sie wird sich in den fahlen Nebeln fortsetzen, die das gesamte Stück durchziehen. Die Monolithen werden dabei jenen Baublöcken immer ähnlicher, mit denen Architekturen der Trennung wie die Berliner Mauer, die Mauer zwischen Israel und Palästina oder die Mauer zwischen den USA und Mexiko errichtet wurden oder werden. Zehn Männer und Frauen tanzen auf der Bühne. Sie wirken alles andere als entspannt. Ihr Ort ist kein „natürlicher“ oder „realer“, noch weniger allerdings einer der Träume oder Halluzination. Dieses grandiose Finale findet innerhalb der Labyrinthe des Metaphorischen statt, und seine Bildlichkeit ist die einer Sinnbildlichkeit – also die Übertragung des Wirklichen in eine deutlichere Sprache.
Sie knien nieder: Seifenblasen sind ihr Lohn
Die Gruppe bewegt sich erst in wohlkalkuliertem Durcheinander, das sich bald zu einer Reihe formiert, die kurz demonstrativ vor die Zuschauer tritt, bevor eine Dynamik der Gewalt die Choreografie zu bestimmen beginnt. Und schon ist es soweit: Einige aus der Gruppe machen andere zu Marionetten, diese anderen lassen sich von den einigen manipulieren, hängen wie benommen oder tot in deren Armen. Wachen wieder auf, tanzen wie von selbst. Aller Münder öffnen sich: Kinnladen hängen, Münder erstarren zu stummen Schreien. Fünf, sechs der Monolithen schieben sich durch den Metaphernraum, vor jedem kniet eine oder einer nieder. Das Licht wechselt von kaltweiß auf unheilsorange. Die Mauerkompartimente bilden zwei parallele Wände, die die Gruppe in einen schmalen Gang zwingen.
Das Bild verwandelt sich: Eine der Tänzerinnen beginnt zur Musik zu singen, die Musikgruppe drängt sich in den Vordergrund. Unvermittelt liegt einer der Tänzer wie tot auf dem Boden, die anderen begutachten die Leiche. Gleich darauf ertönt zauberhaft und (hier) melancholisch instrumental Franz Lehárs Walzer Lippen schweigen, dazu fallen Seifenblasen schillernd leicht von oben herab, und wieder, aber jetzt schon routinierter, tanzen etliche mit ihren Marionetten. Die Gruppe versammelt sich und wirft einen der Ihren hoch in die Luft, bevor einige strammstehen und die Hände zum Habt-acht-Gruß heben.
Das Karma nach der Pause
Grand Finale hat eine Pause. Der Vorhang schließt sich, ein Tänzer plaziert sich auf einem Sessel mit einem Schild, auf dem „Pause“ geschrieben steht. Nach zwanzig Minuten kehrt das Publikum wieder auf seine Plätze zurück, da liegt der Mann neben dem Sessel, auf dem ein Schild steht mit dem Kulturkürzel „Karma“ – und die Musikgruppe spielt schön, sie fordert die Rückkehrer sogar zum Mitsingen auf und lädt sie dann dazu ein, lippenschweigend mitzupfeifen. Ein wuchtiges Geräusch beendet diese zwiespältige Fröhlichkeit, der Liegende wird durch den Vorhang ins Bühneninnere gezerrt.
Wer nun das große Showdown erwartet, irrt. Hofesh Shechter wählt das realistischere und weniger pathetische Konzept des Ausklingens, des Verendens oder Verödens im Versickern und Verblassen. Einmal noch feiert sich de Gruppe. Die Atmosphäre wird leichter, denn der Ereignishorizont ist überschritten und der Prozeß der Entfremdung von der Zeit vor Einsetzen des Untergangs beendet. So kommt das Ende erst als Schluß des Stücks. Es braucht nicht eigens dargestellt zu werden, denn die Logik der Aufführung sieht ohnehin vor, daß diese einmal aus sein muß. Die Standing Ovations des Publikums gehören zum postapokalyptischen Wechsel aus dem Metaphernraum in den des praktischen Gebrauchs.
Du bist dir selbst ein Alien
Der Applaus klatscht das Stück wie immer auch in diesem Fall tot, während die Darsteller auf der Bühne dafür ihre Verbeugungen absolvieren. Dieses Ritual erinnert daran, daß alle Beteiligten sich nicht in der Fiktion verlieren sollen oder wollen. Und weil „sich verbeugen“ auf Englisch „to bow“ heißt, sei hier an das Ende von Dave Bowman in 2001: A Space Odyssey erinnert. Der wackere Raumfahrer gerät ins Innere eines im Weltraum schwebenden Monolithen, und er wird sterben. Dieses Ausklingen seines Lebens feiert Stanley Kubrick als psychedelisches „Grand Finale“ ab. Dabei erkennt das Kinopublikum vielleicht, daß das „Andere“ des Monolithen auch stellvertretend für jenen Bereich im Menschen steht, der diesen sich selbst zum Alien macht.
Bei Shechter sind die Monolithen monumentale Mitspieler von zweifacher Bedeutung. In einer politischen Lesart repräsentieren sie Herrschaft, anonyme Autorität und Trennung. Aus psychoanalytischer Perspektive können sie für ein Es stehen, das jedes Ich vor jenen Arealen der Psyche abriegelt, die mit evolutionsspezifischen systemischen Bereichen der Spezies zusammenhängen. Beide Ebenen sind klar unterscheidbar, aber nicht voneinander zu trennen. Das nicht erst seit seiner biblisch-apokalyptischen Ästhetisierung periodisch wiederkehrende „große“ Finale verwirklicht sich immer wieder – bloß eben als böse erscheinende Banalität, deren Verdrängung allen bereits eingeschrieben ist. Daher kann das Publikum ganz lustig mitpfeifen: „Bei jedem Walzerschritt / Tanzt auch die Seele mit, / da hüpft das Herzchen klein...“
Fußnoten:
- ^ Aufführung vom 31. Jänner 2019.
- ^ SS-Nummer 185.068; SS Sturmbannführer seit 28. Juli 1943. Von Braun leitete die Entwicklung der NS-„Vergeltungswaffe“ V2 in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und später in Mittelbau-Dora, in denen KZ-Insassen Zwangsarbeit verrichteten.
- ^ Mussolini selbst sorgte dafür, daß Marinetti nach dessen Tod 1944 ein feierliches Staatsbegräbnis in Mailand erhielt.
(2. 2. 2019)