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Das fluide Begriffstier
DER OKTOPODE ALS VIELSINNIGE FIGUR DER SZENISCHEN KÜNSTE IM KONTEXT VON GESELLSCHAFTLICHER SPALTUNG
Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation der Spaltungen provoziert zu einer Frage, einer These: [1] Warum taucht in den szenischen und bildenden Künsten der Gegenwart, in Zeiten der angeführten gesellschaftlichen Spaltungen, signifikant häufig die Figur des Oktopus auf, also eine Figur, die per se gerade keine gespaltene ist, sondern im Gegenteil eine fluide und vielsinnige Erscheinungsform hat?
Einleitend seien einige künstlerische Arbeiten und Inszenierungen genannt: Laure Prouvost Deep See Blue Surrounding You und Joas Jonas Moving off the Land (Ocean Space, Chiesa di San Lorenzo) im Kontext der Kunstbiennale in Venedig (2019), im Gegenwartstheater Crash Park von Philippe Quesne, im Tanz Cecilia Bengolea mit Oneness oder Octopus von Marta Navaridas, Alex Deutinger und Christoph Szalay. In Crash Park setzt der französische Theatermacher Quesne – ähnlich wie in Nuit des taupes oder Swamp Club – den Oktopus als Allegorie für Gesellschaft, Existenz und Denken ein: Dramaturgisch ans Ende von Crash Park gesetzt wird ein titanenhafter Kampf inszeniert: Gemeinsam bekämpft eine Gruppe von Gestrandeten im Stil des Hollywood-Blockbusters Jurassic Park einen Widerstand leistenden Oktopoden in der Dunkelheit der Nacht, tötet ihn, breitet seine Fangarme aus und drapiert ihn schließlich in einer dystopischen Szene als bloße Hülle auf ein Flugzeugwrack.
Maulwurf, Schlange, Oktopode: Begriffstiere der Moderne und Gegenwart
Erinnern wir uns: In der frühen Moderne wurde der Maulwurf als Emblem für eine moderne Gesellschaft und ihre Subjekte konstruiert. Hier sei beispielsweise an Karl Marx‘ ‚Brav gewühlt, alter Maulwurf‘ in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte erinnert, an die Idee einer von der Arbeit ausgehenden Revolution und die potentielle Unterminierung eines bestehenden Regimes; weiters an Nietzsches Rehabilitation des Maulwurfs als Instanz des Denkens, in dem von diesem der Boden der Kultur jenseits des Bekannten durchwühlt und umgegraben wird; oder an Franz Kafkas Riesenmaulwurf als Figur einer radikalen Subjektivität. Der Maulwurf ist im europäischen Denken der Moderne zu Metapher einer Tätigkeit geworden, die das Aufgraben, Aufwühlen, Umwälzen als stete Veränderung von Geist, Gesellschaft und Körper anerkennen sollte. Gilles Deleuze wird schließlich in seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaft das Ende der Ära des Maulwurfs als Begriffstier für die die moderne (europäische) Gesellschaft einläuten:
„Der alte Geldmaulwurf ist das Tier der Einschließungs-Milieus [einer Disziplinargesellschaft], während das der Kontrollgesellschaften die Schlange ist. Der Übergang von einem Tier zum anderen, vom Maulwurf zur Schlange, ist nicht nur ein Übergang im Regime, in dem wir leben, sondern auch in unserer Lebensweise und unseren Beziehungen zu anderen. Der Mensch der Disziplinierung war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn.“ [2]
Der Maulwurf ist hier als ein Begriffstier zu verstehen, das ähnlich wie die Deleuze’sche Begriffsperson mehr als eine Allegorie, ein abstrakter Begriff oder eine Personifizierung für die Moderne ist, da er/es insistiert. [3] Dies insistiert (noch) auf der Möglichkeit des Umwälzens, Aufwühlens und Aufgrabens, die sich – mehr abstrahiert als konkret – in den Strukturen und den Erscheinungsformen des Theaters der Moderne mit ästhetischen und politischen ‚kleinen‘ Revolutionen zeigt: Man denke nur an die großen Reformbewegungen und an die Theateravantgarde. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird das Begriffstier Maulwurf von dem der Schlange abgelöst. Hier wäre zu überlegen, ob und wie sich beispielsweise die Körper- und Bewegungskonzepte des Postmodern Dance oder des Tanztheaters mit der Denkfigur der Schlange engführen ließen. Eine erste These dazu ist, dass die Aktionen und Performances der des Postmodern Dance wenig konkrete stilistische Gemeinsamkeiten aufweisen: vielmehr sind alle an der Enthäutung eines zuordenbaren Stils interessiert. Doch es ließen sich auch konkrete Bezüge benennen: Pina Bausch beispielsweise nannte die Bewegungsidee eines ‚Schlangenmenschen‘ als Hauptmotiv für ihre Tanzfaszination. [4]
In der Wissenschaft und den Künsten der Gegenwart taucht häufig die Figur des Oktopoden als Begriffstier auf. Nicht zufällig beginnt die Monographie der feministischen Sozialtheoretikerin und Biologin Donna Haraway Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene mit der Entdeckung von Mächten, die unter der Erde leben und als wesentlich für die gegenwärtige Denkfigur einer ‚Multispezien-Gefährtenschaft‘ erklärt werden. [5] Und nicht ohne Grund rekurriert Haraway auf Oktopoden, diese intelligenten, äußerst beweglichen und skelettlosen Meeresbewohner. Mit dieser radikalen Setzung sind ethische, politische und ästhetische Implikationen verknüpft.
Der Oktopode entspricht als Begriffstier wegen seiner fluiden Form, seinen Tentakeln, seiner Leichtigkeit und vermeintlichen Schwerelosigkeit unserer Gegenwart. Einer Gegenwart der Krise Europas, in der einander das neoliberale Europa, geprägt durch einen „Softwarekapitalismus“ [6] im Kontext einer, wie Zygmunt Bauman sich ausdrückt, ‚Liquid Modernity‘, und ein mögliches – teils virtuelles, teils geschichtlich begründbares – solidarisches Europa der Demokratisierung gegenüberstehen. Laut Peter Godfrey-Smith ist der Oktopode, Vertreter einer die irdische Biosphäre seit Jahrmillionen bewohnenden Spezies, „eine Insel geistiger Komplexität inmitten des Ozeans wirbelloser Tiere“. [7] In einer gegenwärtigen Gesellschaft, die mit Segregation auf vielerlei Ebenen konfrontiert ist, erscheint der Oktopode auf den Bühnen der szenischen Künste nicht zufällig als eine der Spaltung gegenläufige Figur.
Die Choreografin und Tänzerin Cecilia Bengolea schreibt in ihrem Künstlerinnentext Other Bodies, entstanden im Kontext der Ausstellung und Performance Oneness (2019) in Der Tank, Basel:
„Bone-free and shape shifting, the octopuses’ body is one of pure possibility. Dynamic, fluid and constraint by the skeletal armor of a nervous system housed within a skull, they can configure their bodies in ways we can barely imagine – just one example being their ability to flow through the cracks the width of their eyes. Their skin senses light and can respond allowing the body itself to overcome a chromatic billboard of an instantaneous communication. An octopus is so suffused with its nervous system that it has no clear brain-body boundary. […] In dance the segregation of movement and knowledge is the least strictly enforced. So-called physical memory plays a vital role as the brain functions that typically trigger discrete actions become, on long fast sequences, so overloaded that the body has to take over. Detaching itself from the command sequences is what allows a dancer to move in ways that appear directed to something other than the head […]” [8]
In der Bewegungsanalyse sind mit Mobilisieren, Koordinieren, Belasten und Regulieren vier Faktoren zu unterscheiden, die in jeweils spezifischer Konstellation die Körper- und Bewegungskonzepte einer bestimmten historischen Formation identifizierbar machen: Mobilisieren und Koordinieren sind auf den Körper als physisch-anatomische Apparatur bezogen und sind wegen ihrer Zeichenhaftigkeit formal-ästhetisch bestimmbar: Über eine Inventarisierung des Bewegungsvokabulars lässt sich klären, welche motorischen Kategorien aktiv sind und welche Positionsveränderungen des Körpers durch die spezifische Artikulation von Gelenken stattfinden (Haltungsänderung/Ortswechsel), also die funktionalen und ‚bezüglichen‘ und relationalen Eigenschaften der Bewegung, das Motivierte sich auf etwas zu respektive von etwas weg zu bewegen. Diese beiden formal- und wirkungsästhetisch determinierten Aspekte sind in imperial imprägnierten Tanztechniken der europäischen Neuzeit bis in die frühe Moderne (Ballet de Cour bis zum romantischen Ballett) dominant. Von spezifischer Bedeutung ist die Modellierung eines rhetorischen Körpers zur Verkörperung einer tragischen Figur auf den szenischen Bühnen, der dreifach gespalten ist und zugleich eine vorgestellte Einheit imaginiert. Das Prinzip der Opposition und der dreifach gespaltene Körper (Drehung von Kopf/Blick, Oberkörper/Arme und Bein- bzw. Schrittstellung in unterschiedliche Richtungen) sind bis in die frühe Moderne evident.
Historisch perspektiviert ändern sich in der Moderne die Bewegungs- und Körperkonzepte radikal. Die hauptsächlich phänomenologisch erfassbaren, da relational-energetischen Kategorien Belasten und Regulieren gewinnen an Bedeutung in der Modellierung von performativen Figuren (konkret: technisch dominiert der Umgang mit Körpergewicht in seiner Auswirkung auf den Bewegungsapparat und die spezifisch regulierte Energie während des Bewegungsablaufes). Im 20. Jahrhundert sind im Unterschied zur europäischen Neuzeit, in der die formal-ästhetischen Kategorien dominieren und das Oppositionsprinzip mit der Dreifachspaltung die zentrale Referenz für die Bühnenpose bleibt, vielerlei Tanz- und Bewegungstechniken identifizierbar, in denen der Umgang mit Körperschwere und/oder energetische Modulierung die für die Moderne zeittypische Bewegungskonzepte bestimmen; beispielsweise im Spiel mit Körperschwere in der platz- und positionsorientieren Periode der 1920er Jahre. Dies korrespondiert mit Zygmunt Baumans historischem Befund einer „schweren Moderne“, einer Epoche der Hardware. [9] Zeittypisch wird der Körper als Ausdrucksinstrument funktionalisiert.
In den 1960er Jahren wird schließlich von von Lucy R. Lippard und John Chandler der Begriff der ‚Dematerialisierung‘ in den Kunstdiskurs eingeführt, um Phänomene des Amorphen zu benennen. Im Kontext der entrüsteten künstlerischen ‚Arrière-Garde‘ des Postmodern Dance, [10] ist es schließlich nicht der flüssige Zustand an sich, sondern die Verflüssigung, die als künstlerisches Leitmotiv identifizierbar ist: Die motorische Identität basiert auf energetisch motivierten Aktionen, in der Körperspaltungen als Bewegungsprinzipien ausgesetzt werden. [11] Der Begriff der Flüssigkeit schließlich ist einerseits eine Referenz auf dieses Konzept, andererseits auch eine Erweiterung, denn er erlaubt Transfers in die digital vernetzte Welt, die als dematerialisiert und fluid erfahren wird. Gegenwärtig ist es schließlich der Zustand des Flüssigen, „the state of greater liquidity“ (Cecilia Bengolea), [12] der die szenischen Künste, insbesondere den Tanz und die bildenden Künste motivisch, (bewegungs-)technisch und ästhetisch bestimmt. Tendenziell generalisierend, definiert Bengolea ihr gegenwärtiges Bewegungsleitmotiv als unterscheidbar von historischen Körperkonzepten, in denen das Koordinieren dominiert: „Most dance fetishizes the extremities – hand and feet.“ In gegenläufiger Geste motiviert sie im tanzenden Körper den Zustand der Flüssigkeit in bewegungsmotivischer Nähe zum Oktopodischen: „Through ritual and repetition, arms, legs and torso seem to develop an independent memory.“
Acht Arme, die jeweils eigene Sensorik und Steuerung haben, drei Herzen und ein Nervensystem mit über 500 Millionen Zellen, das sich durch den Körper zieht und bis in äußersten Extremitäten verästelt ist, hohe Beweglichkeit, die Lichtempfindlichkeit, Elastizität und eine ‚andere‘ Ausprägung von Intelligenz: der Oktopus als Möglichkeit einer tastenden Erfahrung von Welt, einer – möchte man hier mit Gilles Deleuze sprechen – anderen Logik der Sensation; einer Logik, die eben nicht über das Zerebrale geleitet wird, sondern über das Nervensystem des ganzen Körpers aktiviert wird und wirkt. Der Oktopus als Begriffstier ist in den szenischen und bildenden Künsten der Gegenwart als geronnene Sensation zu verstehen. Die Figur wird als eine konzipiert, die sich einer narrativ determinierten und nachahmenden Wiedergabe im Sinne eines Regimes der Repräsentation verwehrt und zugleich nicht als Abstraktum auf die zerebrale Logik rekurriert: Der Oktopus ist unmittelbar mit einer aisthetischen Sensation verbunden und entspricht in Struktur und Erscheinungsform der Suche der performativen Künste nach einer alternativen physischen Intelligenz und kinetischen Empfindsamkeit. [13]
Warum wird der Oktopus zum ‚Begriffstier‘ und zur paradigmatischen szenischen Figur unserer Gegenwart erklärt?
Im historischen Raum, spezifischer in die griechische Antike, wird in Zeiten der Stasis, hier des inneren Krieges in der Polis – per definitionem eine Art sozialer Kraft, quasi kriegsgleich –, generiert durch innere politische Kämpfe und durch zunehmende Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager von vormals geteilten sozialen Vereinbarungen abweichend, [14] das Modell und Ideal eines einheitlichen Körpers aufgerufen, angerufen und ‚erfunden‘. Die Stasis, im Regelfall bedingt durch einen Umsturz des politischen Systems und die Spaltung der politischen Einheit durch zwei einander bekämpfende Gruppierungen, resultiert meist in einer Bedrohung von physischer Existenz, sei es durch Inhaftierung, Verurteilung zum Tod, Exilierung oder Rechtsentzug des politischen Gegners, der als Feind stilisiert und wahrgenommen wird. In der Rekonstruktion der Typologie der inneren Kriege im Kontext der griechischen Polis kommt Hans-Joachim Gehrke zum Befund, dass jegliche Gruppierung, jenseits der Etikettierung von Demokratie oder Oligarchie, zu gleichgearteten Mitteln und Mechanismen der Ausschaltung des Gegners greift, ohne dass dabei von Belang ist, wie der Staat sozialökomisch strukturiert gewesen ist oder werden soll. [15] Der politische Gegner wird nicht als Vertreter eines abstrakten Prinzips gesehen oder als Repräsentant von sachlich argumentierten anderen Interessen, sondern als persönlicher Feind.
Je länger die Stasis dauert und je mehr Schwungkraft sie durch die quasi erzwungene Bekenntnisse zur Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Lager der breiten Bevölkerung aufnimmt, desto mehr reduziert sich die Möglichkeit einer regulierten Austragung von Konflikten: die Spaltung verfestigt sich. Nicht zufällig werden in der Philosophie und im Theater wiederholt und jeweils spezifisch Modelle und Ideale der Einheit beschworen. Hier seien stellvertretend Platon mit der Denkfigur des Rhythmós als „Ordnung des Körpers-in-Bewegung“ und die Chorlieder von Aischylos genannt. [16] Platons Ideal ist die geordnete und koordinierte Bewegung, der „rhythmós als taxis“ und die „Schönheit der Stellungen und Körperwendungen“, die auch ein wesentliches Kriterium für die Bildung und Erziehung des Menschen in seinem utopischen Entwurf der neuen Stadt darstellen. [17] Hier erfindet Platon nichts Neues, sondern instituiert die alte Form des Chors, das chorische Prinzip. Der Chor in Aischylos’ Eumeniden appelliert im Angesicht der drohenden Stasis und dem Dilemma der (Blut-)Rache an die Einheit der Bürger:
“I pray that civil strife,
insatiate of evil,
may never rage in this city;
and may the dust not drink up the dark blood of the
citizens
and then, out of lust for revenge,
eagerly welcome the city’s ruin
through retaliatory murder;
rather may they give happiness in return for happiness,
resolved to be united in their friendship
and unanimous in their enmity;
for this is a cure for many ills among men.” (976–987)
Auch wenn man gegenwärtig nicht oder nur bedingt von einer Stasis im engeren Sinn sprechen kann, so möchte ich doch behaupten, dass vielzählige nationale, soziale und ideologische Aufspaltungen in Europa als struktureller Faktor und als Phänomen zu konstatieren sind. Das lange umstandslos apostrophierte gemeinsame ‚Europäische‘ wird mit vielerlei Konfliktfeldern wie Brexit, Terrorismus, Klimawandel, Turbokapitalismus als zutiefst brüchig, zerrissen, ja gespalten empfunden und der Nationalismus der „bedrohten Mehrheiten“ [18] treibt die Delegitimation des demokratischen Europaprojekts voran. Oder, mit Étienne Balibar gesprochen: „Wahr ist jedenfalls, dass die Frage völlig offen ist, wie sich dieses mixtum compositum aus nationalen Singularitäten und supranationaler Einheit, wie Europa dies weiterhin darstellt, als solches weiterentwickeln wird.“ [19]
Die paradoxale Konfiguration von spalten und einen ist in ihrer gegenseitigen Bedingtheit in verschiedenen historischen Formationen wiederkehrend und lässt sich über das Verhältnis von Gesellschaft und Körper beziehungsweise szenischer Figur abschließend noch einmal zusammengefasst thesenhaft ausdifferenzieren. In Zeiten von gesellschaftlichen Spaltungen, sei es in den tatsächlichen inneren Kriegen, etwa in der Stasis der griechischen Antike, sei es im gegenwärtigen Europa in der Krise, werden wiederholt, wenn auch nicht ausschließlich, Körper- und Bewegungskonzepte dechiffrierbar, die Einheit implizieren.
Der Oktopus in seiner komplexen neuronalen Struktur und fluiden Erscheinungsform, seinen mythischen Aufladungen, seiner sich beinahe um das Ganze vom Menschen unterscheidenden Körperlichkeit, seiner Situiertheit im Meer ist als vielsinnige Figur auf der Bühne und als Begriffstier der Philosophie identifizierbar: Weder gänzlich utopisch, noch dystopisch, vielmehr post-utopisch imprägniert, wird hier eine zeittypische (Denk-)Figur modelliert, die der Spaltung einend entgegentritt und an eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, nämlich globale Erwärmung und deren fatale Konsequenzen erinnert, sei es die Plastikpartikel in den Meeren, sei es die unkontrollierten Fluchtbewegungen aus dem globalen Süden, die die globale Erwärmung und Kontaminierung des Wassers am härtesten trifft. Dies kann nicht über national determinierte und auf Spaltung basierende politische Programme, sondern nur über von einem Projekt Europa aus motivierte und verbindliche Regulierungskonzepte gelöst werden.
Fußnoten:
- ^ Die folgenden Überlegungen basieren auf einem Impulsvortrag, im Kontext eines von Silke Felber und Julia Prager konzipierten Workshops mit dem Titel Spalt(ung)en: Verfahren und Figurationen von gesellschaftlicher (De-)Segregation entstanden ist. Online unter: https://tu-dresden.de/gsw/sfb1285/veranstaltungen/termine/workshop-spalt-ung-en-verfahren-und-figurationen-gesellschaftlicher-de-segregation (Zuletzt eingesehen: 22.07.2019)
- ^ Deleuze, Gilles: „Postscript on the Societies of Control“. In: The MIT Press 59 (1992), S. 3–7.
- ^ Riechelmann, Cord, „Maulwurf oder Schlange“. In: Der Maulwurf macht weiter. Tiere/Politik/Performance. Berlin: HAU-Publikation (2017): S. 11–12.
- ^ Linsel, Anne: Pina Bausch: Bilder eines Lebens. Duisburg: Edel books, 2013, S. 25.
- ^ Haraway, Donna: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Duke University Press Durham, 2016, S. 30.
- ^ Vgl. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 197. Der das Phänomen konziser fassende englische Originaltitel lautet Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press, 2000.
- ^ Vgl. Godfrey-Smith, Peter: Other Minds. The Octopus, the Sea and the Deep Origins of Consciousness, New York: Farrar, Straus and Giroux, 2016. Online Interview mit Peter Godfrey-Smith: https://www.sueddeutsche.de/wissen/oktopusse-die-aliens-sind-unter-uns-1.3443913 (Zuletzt eingesehen: 22.07.2019)
- ^ Programmheft von Der Tank zu Oneness von Cecilia Bengolea, 2019.
- ^ Vgl. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2003, S. 136.
- ^ Gleich der ‚Avantgarde‘ handelt es sich bei Arrière-Garde um einen entlehnten militärischen Begriff, der die Nachhut der Hauptarmee bezeichnet und in der Kunsttheorie für progressive Kunstströmungen der ersten drei Dekaden nach dem zweiten Weltkrieg verwendet wird.
- ^ Vgl. Fluidity. Broschüre zur Ausstellung des Kunstvereins in Hamburg. Fluidity. 30.1.–10.04.2016, S. 3.
- ^ Alle folgenden englischen Zitate sind dem Programmheft zu Oneness entnommen.
- ^ Vgl. Deleuze, Gilles: Francis Bacon – Logik der Sensation. München: Wilhelm Fink Verlag, 1995, S. 31. „Die Figur ist eine wahrnehmbare Form, die aber kein Objekt mimetisch wiedergibt, sondern die direkt mit einer Sensation verbunden ist. Während die Abstraktion direkt das Gehirn adressiert, wirkt die Figur direkt auf das Nervensystem.“
- ^ Vgl. Gehrke, Hans-Joachim: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. München: Beck, 1985, S. 6.
- ^ Vgl. Gehrke, Hans-Joachim: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. München: Beck, 1985, S. 322.
- ^ Platon exemplifiziert außerdem im neunten Buch der Politeia die innere Spaltung anschaulich anhand einer ambivalenten (Denk-)Figur in menschlicher Erscheinungsform, zusammengesetzt aus Löwen und Menschen.
- ^ „Seine grundlegende Funktion erhält der rhythmós bei Platon (wie auch bei Aristoteles) im Rahmen der paideia, der Erziehung der Bürger zum Zwecke des Lebens in der pólis. Diese beginnt bei Platon (und Aristoteles) mit Musik und Gymnastik, ihr Ziel ist die Eingliederung des Zöglings in das Gefüge der pólis. Wie ein Baustein soll sich der Wohlerzogene in den Gesamtbau fügen – so könnte bildlich formuliert werden. Aber der rhythmós passt nicht wirklich in einen solchen Vergleich, da er gerade nicht statisch ist. Er ist ein zeitliches, prozessuales, dynamisches Phänomen – ein Bewegungsphänomen.“ Schmidt, Ulf: „Der Rhythmus der Polis. Zeitform und Bewegungsform bei Platon“. In: Primavesi, Patrick; Mahrenholz, Simone (Hg.): Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten. Schliegen: Edition Argus, 2005, S. 87–100, hier s. 87.
- ^ Krastev, Ivan: Europadämmerung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017, S. 95.
- ^ Balibar, Étienne, Europa: Krise und Ende? Münster: Westfälisches Dampfboot, 2016, S.229.
(3. 10. 2019)