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Körper im Werden, zusammen
PHILIPP GEHMACHERS CHOREOGRAPHIE BEI IMPULSTANZ 2022
The Slowest Urgency: des Werdens. Anfangs sechs liegende Körper, die Augen weit geschlossen. Körper im Schlummer, die Choreographie als ihr stets neues Werden in immer anderen Rekonfigurationen, Augenblick für Augenblick: Im Sinne eines agentiellen Realismus strotzt „jeder Augenblick vor verschiedenen Möglichkeiten des Werdens der Welt und verschiedenen Rekonfigurationen dessen, was noch möglich ist“.1)
Philipp Gehmachers choreographische Ethik und auch Ästhetik, d.h. die Art, in der er die Körper zueinander sieht und auch figuriert, singulär im internationalen Kontext des zeitgenössischen Tanzes, sucht nach einer, so der Künstler, „neuen Körpersprache für eine neue Zukunft“.2) Intensiv, sensibel, einfallsreich und lustvoll mit ihm auf der Suche bereits seit der Premiere von The Slowest Urgency bei den Wiener Festwochen’21 sind die Tänzer:innen Juan Pablo Cámara, Roni Katz, Andrius Mulokas und Elizabeth Ward. In der nächsten Phase dieser choreographischen Recherche, in The Slowest Urgency (an environment) bei ImPulsTanz’22, beeindrucken mit ihrer intelligenten tänzerischen Kollaborationsgabe auch die jungen P.A.R.T.S.-Absolvent:innen Abigail Aleksander und Renato Miskolczi, die Gehmacher nach seiner P.A.R.T.S.-Gastprofessur in Brüssel 2022 nun mit ins Boot holt, und die, auf einer Wellenlänge mit der Gruppe, auch neue Wellen zu schlagen vermögen.
Fein nuanciert und komplex eindringlich ist die Komposition und Klangregie von Peter Kutin mit ihren posthumanistisch inspirierten, zunächst organisch anmutenden, dann immer wieder apparaturhaft gebrochenen Soundlandschaften; voll verspielter Töne auch die Kostüme von Anna Schwarz – mit den beiden Künstler:innen arbeitet Gehmacher bereits in seinem Solo In its Entirety (das nach mehreren Phasen 2021 beim Kultursommer, in LE STUDIO und im TQW auch bei ImPulsTanz’22 gastiert). Als organische Mit-Aktanten wirken auch die Latex-Objekte von Liesl Raff, schlangenartig. Der junge Szenograph Lukas Kötz, der gemeinsam mit Gehmacher bereits den Raum für In its Entirety gestaltet, führt in The Slowest Urgency (an environment) – wieder in präziser und offener Zusammenarbeit mit dem Choreographen – die Lichtregie.
Es gibt Denker:innen, die für Philipp Gehmacher in der choreographisch-philosophischen Ausrichtung der Körper besonders wichtig sind. So versuche ich auch hier, seiner Choreographie immer wieder in ihrem Fokus, d.h. mit einigen Schnappschüssen ihrer Positionen nachzuspüren: „There is a lot of sound in our head, and in our hands too.“3) Welchem inneren Strich folgen die Hände, die Arme, die Körper, diese Streichinstrumente in The Slowest Urgency? Zunächst Hände, Arme, Körper, die langsamst aufwachen, den Boden um sich streicheln und einfangen, um zu den Wasserwellen und Stielen und Blüten zu werden, die sie zugleich selbst zeichnen und deren sich allmählich steigernder Wucherung die Tänzer:innen im Perspektivenwechsel unversehens entgegenzuhalten haben, als wären sie von den eigenen Figurationen verblüfft, überrumpelt, überwältigt. Es sind Körper und Figurationen in ihrem intra-aktiven Werden:
„Der Begriff der Intraaktionen reformuliert die traditionellen Begriffe von Kausalität und Tätigsein in einer fortlaufenden Rekonfiguration sowohl des Wirklichen als auch des Möglichen.“4) Es sind Körper und Figurationen, die in Rückbezüglichkeit mit dem Raum, mit dem environment werden, ortsspezifisch: 2021 bei den Wiener Festwochen ist es das Jugendstiltheater beim Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartner Höhe und 2022 bei ImPulsTanz das Museum moderner Kunst (mumok), das das Bewegungswachstum ortsbezogen prägt. Als würden die Orte und die Körper- und Soundlandschaften reziprok einander und sich selbst entgegentreten und neu hervorbringen.
Im Jugendstiltheater schlingen sich die Körper wie Efeu den kurvigen Jugendstil-Ornamenten der Bühnenwand entlang und lassen auch sie neu vegetieren, im mumok – den weißen Museumswänden entlang, in einer Art wall dancing bis hin zur Streckung der Armkurven in Armlinien, die sich neu ausrichten und die black box oder den white cube neu entfachen. Gehmachers Choreographie bewegt sich schon seit längerem im langsamst dringenden Grau zwischen Darstellung und Ausstellung. Grauraum hieß mal sein Studio, Grauraum mit Egon Schiele (2011) eine installative Arbeit im Leopold Museum, my shapes, your words, their grey (2013) ein Solo, das sowohl in Theater- als auch in Museumsräumen (wie mehrere von Gehmachers jüngeren Choreographien positioniert sind) gezeigt wurde.
Anfangs also ein désœuvrement als Nicht(s)tun und auch als Ent-Werken, das dem Werden vorangeht. Zugleich kaum Anfang, vielmehr eben Respons, Relationalität. Als müssten die sechs Körper ihre Bewegungen nicht tun, vielmehr im Wasser einfangen, vom Feld um sich pflücken. Um die Dringlichkeit der Landschaft um sich mit der eigenen dringlichen Landschaft zu kontaminieren und zu kommentieren: Nach dem langsamen Aufwachen, Pflanze-Werden, dringlich Wuchern kommentiert eine ‚dialogische‘ Sequenz das bisher Geschehene, indem sie es fragmentarisch repetiert: Die Tänzer:innen sitzen im Kreis und schlagen einander stillschweigend ihre Bewegungsreflexionen vor, zunächst ist es wie ein Zwiegespräch zwischen Juan Pablo Cámara und Elizabeth Ward, dann treten paarweise Roni Katz und Abigail Aleksander sowie Andrius Mulokas und Renato Miskolczi in Bewegungsdialoge und -diagonalen, die allmählich in den ganzen Raum ausschweifen, ausschwärmen, ausufern, auseinandergehen. Und wie die gesamte Stückstruktur oszilliert auch diese Zweisamkeit, nein, Mehrsamkeit zwischen langsamst und dringlich, engster Gruppe und disseminierten Singularitäten.
Dieses Oszillieren prägt das gesamte Geschehen in seinem stets doppelten Modus: als zugleich konkrete Realität und abstrakte Fiktionalität. Zwiefach auch die choreographischen Figuren, geometrisch und rhetorisch zugleich: Diese entrückten Hyperbeln, diese zögernden Ellipsen, diese kritischen Parabeln, diese sehnsüchtigen Kreise! Roni Katz wird irgendwann in einer kurzen, uns und den Raum bewegenden (An)Rede jede:n ihrer Partner:innen u.a. so adressieren/beschreiben:
... I see your lines, I see the circle ...
I can see the playful composition in your hyperextended body.
It’s very serious. Sometimes it makes me laugh ...
You articulate center-ness and also unseparated-ness ...
Your dance, your movement, my dance, my movement
wouldn’t be the same without our insecurities, so I let them be ...
Renato Miskolczis Ansprache des Körpers als geronnenes Tätigsein lautet wiederum: Back to standing, rooted, unrooted. With arms as tools, wood, air. Straight arms, curved arms, extended arms. Es werden dann Arme sein, die Andere wörtlich und figurativ hochheben, um erst gemeinsam hoch zu werden: Wie in der Szene zwischen den beiden hervorragenden Tänzern Juan Pablo Cámara und Andrius Mulokas: Andrius hebt Juan hoch und wird später sagen: I couldn't lift him any higher. He wanted to touch the sky. Juan darauf: But then what do you do when you don't have the power any longer to become, my body is gone, is broken, wants to be left alone, cannot join any longer, so nur einige Zeilen aus einem kurzen ‚Dialog‘ der beiden, nun weit voneinander entfernten, unterschiedlich im Raum ausgerichteten Tänzer im Wissen ums stets mögliche Scheitern, Vereiteln des Geteilten. Ronis Worte zuvor: What have we been failing at? Falling forward, failing forward. In love. It will not leave you intact.
Philipps figurative Wörtlichkeit in In its Entirety: We lean onto each other, we lean on others, stand high on their shoulders: What a view! und die skulpturalen Figurationen in The slowest urgency (an environment): Juan wird auf dem Rücken von Andrius stillstehen, der später auch Abigail hochhebt und verharrt, indem die ganze Gruppe im Still hochstrebt. Zeichnet diese posthuman anmutende Choreographie in ihren ersten Szenen Luftvegetationen, so wachsen nun die Körper zwischenmenschlich in die Luft.
Nochmals zurück zum Ablauf in seinem doppelten, real-figurativen Perspektivenwechsel: Zunächst schlummern die Körper in Morpheus’ Armen, um dann weiter träumerisch zu morphen: vegetativ, als schauten wir Pflanzen beim Wachsen zu, dann animalisch, auf sanften Pfoten – als erzählten sie unsere mehr als menschliche/n Geschichte/n. Organisch und anorganisch zugleich, mineral, floral, faunesk richten sich die Körper aus, als ob nach euklidischen (so Philipp Gehmacher während der Proben) Orientierungsachsen, um dann – wieder in agentiell-realistischer, fortlaufender Rekonfiguration – in anagrammatische5) (so der Choreograph) Re-Arrangements von Körper- und Bewegungsfiguren zu kippen, vexierbildhaft, damit sie zu anderen Körpern, zu anderen Bewegungen finden, in stets neuen Versuchsanordnungen, um sich dann in rasante Stories und plötzliche Stills von computer games (der Probentitel dieser Szene) hineinzusteigern: Diese reale Virtualität des choreographischen Spiels!
Als könnte gerade das Choreographische – nicht als Spektakel, vielmehr als Spekulation, deshalb langsamst – unsere heutige Dringlichkeit nach neuen Körper- und Denkbewegungen adressieren. In all dem magischen Zaudern, das den Aggregatzustand der Körper in der Schwebe hält, repetieren die Tänzer:innen eine dead/alive-Prozession, ein Sterben und Auferstehen, als würden sie einander aus dem Jenseits zurückholen, wachberühren, wachanblicken – vermöge einer zugleich verzauberten und entzauberten, paradox zugleich geheimnisvollen und offengelegten Synästhesie aus erst miteinander und durcheinander werdender Bewegung, Sound- und Lichtregie. Die Szene ist in Blau eingetaucht, überwältigend einfach ihre Magie, out of the blue. Dabei sind den Tänzer:innen die eigenen Gesten unheimlich, unergründlich und zugleich unbedingt, dringend. Als tanzten sie nicht aus guten Gründen und doch bedingungslos, wie wir nicht aus guten Gründen und doch einfach (aber einfach ist das nicht) da sind.
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So sprechen die Körper in The Slowest Urgency in mehr als einer und in keiner Sprache mehr, in plus d’une langue, so Jacques Derridas kürzester Versuch einer Definition der Dekonstruktion6): In ihrer ambivalenten Körpersprache, die der Bewegung die Intentionalität entzieht und doch nicht ohne Absicht ist, dem Absehen, der Abstraktion verbunden und zugleich dem Konkreten. In ihrer zaudernd zaubernden Ambiguität: „My arm says yes and no at the same time“, so spricht es Philipp Gehmacher in seinem Solo In its Entirety aus, das in Wort und Bewegung die Brüche und Umbrüche seines Lebens als choreographische Arbeit melancholisch-humorvoll reflektiert – bis das Fiktionale real und das Reale fiktional wird. Bis die Emotionen eines konkreten Körpers und seine choreographischen motions einander übersetzen, so, wie seine Motivationen, Beweggründe, Movens und seine mouvements einander transkribieren – auch wenn die Rückübersetzung nie ident gelingen kann. Gerade die präzise Unschärfe und Ironie beim choreographischen Offenlegen dieser Differenz macht sie ästhetisch und ethisch zugleich.
Es werden in The Slowest Urgency (an environment) wiederum Arme sein, die weit ausholen, um Raum und Zeit ein- und aufzuholen. Irgendwann werden die Sechs – mit ihren ausgebreiteten Armen doch ganz eng ineinander verschlungen – zu Uhren, deren Zeiger sich über die Uhrzeit (und die Raumausrichtung) nicht einigen können. Als wären sie in unterschiedlichen Zeitzonen, in eigenen Rhythmen und erst so zusammen, idiorrhythmisch (idio=eigen), heterotopisch, rhizomatisch, tentakulär usw. Um wieder auseinanderzugehen, gemeinsam geblieben im, nein, mit dem Raum. Auch das Soundinstallation-Tentakel (das Philipp Gehmacher und Peter Kutin während der Proben millimetergenau positionieren) aus Lautsprechern und sechs Kabelmikros wird dann seine Kabelglieder immer weiter und anders ausrichten, indem die sechs Tänzer:innen nacheinander die Mikros nehmen, um ihre eigenen, während der Proben entstandenen und vom Choreographen inspirierten Textfragmente zu sprechen.
The Slowest Urgency: eine Zeitausstülpung. Die Haut der Bewegung wird sich über eine weitestmögliche Umgebung spannen, als könnte sie jeden Moment, in jeder Pause/Pose aufspringen und neu urspringen, und die Arme-Uhrzeiger wieder anders gerichtet ticken lassen: „da jede Intraaktion wichtig ist, da die Möglichkeit dafür, was die Welt werden mag, in der Pause ausgerufen wird, die jedem Atemzug vorausgeht, bevor ein Augenblick ins Sein tritt und die Welt neu gemacht wird, weil das Werden der Welt etwas zutiefst Ethisches ist.“7)
The Slowest Urgency: ein Begehren. Dringliches Anhalten, intensives Innehalten. In der Unzeit zwischen zuvor und danach. Slowest motion ohne slow motion. Im Herzen dieser Dringlichkeit – die Zeit. Und die Entscheidung. „Ich wollte über die langsamste Dringlichkeit sprechen, die von uns immer verlangt, Entscheidungen zu treffen“, so Gehmacher.8) Entscheiden wir, dann treffen wir auf Dringendes, (noch) Ungegebenes, auf „nichtgegebene Optionen“9), auf Potentialität, auf „things waiting to happen“10), to come, to become, auf jenes langsamste, aber dringliche be-coming, handlungsfähig: Agency, urgency, agency, urgency, repetiert Elizabeth Ward das Aufbegehren dieser Arbeit; Elizabeths eigene Textfragmente explizieren immer neu die choreographischen Leitmotive.
The Slowest Urgency: ein Oxymoron, eine Gegenläufigkeit – von Bewegung und Zeit. Die leichte Schwere in Gehmachers Choreographie minimalistischen Pathos’, postkonzeptuellen Affekts, ästhetischer Strenge. Mit und aus Körpern wie Fugen des Raums, die ihn porös werden lassen und öffnen. Der Raum wiederum – ihre Fügung. Körper, die übereinander nicht verfügen und einander so die Raumflucht ermöglichen. Und den Flug. Kaum Produktion, vielmehr Transformation und Austausch. „Production creates; exchange changes.“11) Choreographische Spannung, aber nicht aus der Perspektive eines Konflikts.
The Slowest Urgency: eine unbedingte Bedingung, um Dinge zu bewegen, die uns bewegen. Die bedingungslose Allianz mit den Dingen, die uns angehen. Gerade in unserer Affinität zum Inkompletten. „Well, fuck completeness. If you’ve ever fallen in love you know that the other person or persons don’t complete you. They incomplete you. It doesn’t leave you intact.“12) Das Intakt-Taktile dieser Choreographie fugaler Fügungen, dieser langsamsten Dringlichkeit, die gerade das Berührte, Versehrte in und um uns adressiert. Selbst die ersehnte Ganzheit in Gehmachers In its enterity ist gebrochen, ungewiss die Gründe (eines Bruchs), und doch nicht ahnungslos ihr Kommen wie brechende Wellen. In einem Echo-Duett mit der Stimme von Alex Franz Zehetbauer – der Sound dieses solistischen Zwiegesprächs ist selbst wie eine Brandung – wiederholt Philipp Gehmacher mehrmals:
I do not entirely know what happened.
I do not know the reason.
But there were waves,
I heard them coming.
Waves, breaking waves.
Wie eine Brandung hier auch das gemeinsame Werden von Gehmachers Sprechen und seiner Bewegung, die einander auch nicht intakt lassen – kaum sehen/hören wir sie aneinander entlanggehen, und schon zucken sie in kleinsten, absurd komischen, ironisch reflexiven, berührend unergründlichen Gesten aneinander vorbei. Was von beiden, Worten und Bewegungen, ist nun die Welle und was die Küste? Und in The Slowest Urgency (an environment) – um noch ein Textbeispiel einer incompleteness, einer Mit-Teilung mehr als menschlicher Körper und ihrer Figurationen zu nennen – spricht Abigail Aleksander unaufgeregt und (deshalb) aufregend zugleich (uns an):
a planet, a plant, plenty of plants,
a lot, a lot of lots,
a part,
a body,
a play, no plot,
a gathering,
diagrammatic, anagrammatic, very dramatic, too much.
Mehr als Körper und keine Körper mehr – zugleich Körperfigurationen zwischen Realem und Fiktivem, zwischen Wörtlichem und Bildlichem, in einer relationalen statt einer rein rationalen Welt. Inversion statt Interpretation, Perspektivenwechsel statt Repräsentation. Körper, die einander differenzieren und integrieren. Körper aus Affekt. Körper als Perspektive. Körper, die Relationen sind und nicht einfach Substanz, „Relationen ohne zuvor existierende Relata“.13)
The Slowest Urgency: der Berührung. „Das Gesetz des Berührens ist Trennung [...], insofern die eigentliche Kraft eines Körpers in dessen Eigenschaft besteht, einen anderen Körper oder sich zu berühren, was nichts anderes ist als seine De-Finition als Körper.“14) So definieren und ent-finalisieren die Körper in The Slowest Urgency sich und einander, lassen einander intakt werden. Körper, die aufeinander zukommen, um voneinander abzukommen, aneinander entlang und vorbei, die aufeinander losgehen, um einander loszulassen. Körper einer Art „ambiguous ontology“15). Anthropomorphe statt anthropozentrischer Wesen – Wasser, Sand, Stein, Pflanze, Tier geworden/gewesen, von ihrem Standpunkt erzeugt, statt ihn zu erzeugen oder jemanden davon überzeugen zu wollen, denn „a viewpoint is nothing if not a difference“.16)
Die auseinandergehenden Arme-Uhrzeiger, die differierenden Zeitzonen, die alternierenden Kälte- und Wärmezonen zwischen uns, in uns. „And for a while being in different places has meant being in different seasons.“17) Körper under the weather, aber auch creating weather, so Gehmacher: „Ich wollte, dass wir das Wetter selbst bestimmen, wie Ocean Vuong meint, und unsere Körper scheinbar darunter betten.“18) Das Finale führt uns zyklisch zum Anfang, der keiner ist, zurück. Die Körper wieder solitär, nun sind die sechs nach oben ausgestreckten Arme der sechs liegenden Körper (noch) keine Stiele, vielmehr schreiben sie in den Himmel oder zählen die Sternzeichen.
Nach dem wall dancing nun eine Art sky writing, Körper auf der Suche nach neuen Landschaften über und unter sich, und in allem, was in ihnen und um sie herum noch schlummert, gemeinsam selbstverloren. „Getting lost together where the loss of self does not lead to selflessness alone but to a shared state of (non)self.“19) Zusammen wieder jeder im eigenen Rhythmus, in Idiorrhythmie, sind es Körper, die in slowest urgency gemeinsam werden. Zugleich Körper aneinander, bodies yet-to-be-come, together.
Fußnoten
1) Karen Barad: Agentieller Realimus, Suhrkamp, 2. Auflage 2017, 96.
2) Phillip Gehmacher: „Under the weather“, https://www.festwochen.at/festwochen-2020-reframed-the-slowest-urgency. Dieser Text erschien auf der Website der Wiener Festwochen 2020 anlässlich der coronabedingten Verschiebung der Premiere wie des ganzen Festwochen-Programms.
3) Fred Moten, in: Stefano Harney, Fred Moten, and Stevphen Shukaitis: “Refusing Completion: A Conversation”, https://www.e-flux.com/journal/116/379446/refusing-completion-a-conversation/
4) Karen Barad, l.c., 86f.
5) Vgl. dazu Krassimira Kruschkova: „Defigurationen. Zur Szene des Anagramms im zeitgenössischen Tanz und in Performance“ http://www.corpusweb.net/defigurationen.html / „Defigurations. On the scene of anagram in contemporary dance and performance“ http://www.corpusweb.net/defigurations.html.
Für den vorliegenden Zusammenhang ist u.a. Antonin Artauds Vision eines anagrammatischen Tanzes noch werdender Körper signifikant: „Die Wirklichkeit ist noch nicht geschaffen, weil die wahren Organe des menschlichen Körpers noch nicht zusammengestellt und eingesetzt sind. / Das Theater der Grausamkeit wurde geschaffen, um diese Einsetzung zu vollenden, und um mit einem neuen Tanz des menschlichen Körpers diese Welt der Mikroben, die bloß ein koagulierendes Nichts ist, in die Flucht zu schlagen. / Das Theater der Grausamkeit will paarweise Augenbrauen mit Ellbogen, Kniescheiben, Schenkelknochen und Zehen tanzen und sehen lassen.“ (Vgl. Antonin Artaud: „Le theatre de la cruaute“, in: 84, Paris 1948, N° 5-6, 101. Übersetzung zit. nach: Jacques Derrida: „Die soufflierte Rede“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, 288.)
6) Vgl. Jacques Derrida: Mémoires. für Paul de Man, Wien: Passagen 1988, 31: „Wenn ich das Risiko eingehen müßte – Gott behüte mich davor – eine einzige knappe, elliptische und sparsame Definition der Dekonstruktion als ein Losungswort auszugeben, so würde ich einfach, ohne einen Satz zu bilden, sagen: mehr als eine Sprache/nichts mehr, was einer Sprache angehört (plus d’une langue).“
7) Karen Barad, l.c., 101.
8) Philipp Gehmacher, l.c.
9) Marcus Steinweg: Aporien der Liebe, Merve 2010.
10) So eine potentiality-‚Definition‘ in der Performance von Forced Entertainment Bloody Mess (2004).
11) Eduardo Viveros de Castro: „Exchanging perspectives. The Transformation of Objects into Subjects in Amerindian Ontologies“, Common Knowledge 10:3, Duke University Press 2004, 478.
12) Fred Moten, l.c.
13) Karen Barad, l.c., 19.
14) Jean-Luc Nancy: Singulär plural sein, Berlin: Merve 2004, 25.
15) Eduardo Viveros de Castro, l.c., 467.
16) Ibid., 474.
17) Fred Moten, l.c.
18) Philipp Gehmacher, l.c.
19) Stefano Harney, in: Stefano Harney, Fred Moten, and Stevphen Shukaitis: „Refusing Completion: A Conversation“, l.c.
(20.10.2022)