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Mutter der Seufzer
DAMIEN JALET ZAUBERT IN LUCA GUADAGNINOS FILM “SUSPIRIA”
Pina Bausch ist wiederauferstanden – als Madame Blanc in Luca Guadagninos Neuverfilmung (2018) von Dario Argentos Horrorklassiker Suspiria aus dem Jahr 1977. Doch anders als die Lichtgestalt, als die das Orginal (1940-2009) bis heute in Deutschland verehrt wird, lenkt deren kinematografische Wiedergängerin als Choreografin eine äußerst sinistre Tanzkompanie. Diese residiert in einem großen, düsteren Gebäude gleich gegenüber der Berliner Mauer. Zeit der Handlung ist das Jahr 1977, und hüben herrscht große Aufregung wegen der Versuche, die in Stammheim gefangenen Terroristen der RAF freizupressen.
In einem Brennpunkt der Handlung von Suspiria siedet das Motiv der bösen Mutter, also jener, die ihrem Kind die Mutterschaft verweigert oder die ihr Kind verstößt. Der Trientiner symbolistische Maler Giovanni Segantini hat den bösen Müttern 1894 ein nachmals berühmt gewordenes Gemälde gewidmet, das zeigt, wie diese Unwesen in Schnee und winterlichen Bäumen trancehaft tanzen. Winter herrscht auch im Berlin von Guadagninos Suspiria, und die Protagonistin Susie Bannion, deren Haar so rot schimmert wie das der Tänzerin im Vordergrund bei Segantini, wurde von ihrer frömmelnden Mutter gehasst.
Ein Haus mit Abgrund
Das Gebäude der Kompanie, über deren Eingang nur das eine Wort TANZ geschrieben steht, dient als Heimstatt eines perfiden Systems als Metapher für jenen politischen „Okkultismus“, der auf die Magie von Macht baut. Die ersten Opfer dieser Herrschaft einer Gruppe von matronenhaften Hexen sind Tänzerinnen, die begonnen haben, das System zu durchschauen. Sie werden allerdings nicht einfach getötet, sondern verschwinden in Kellern, im Orkus des Hauses. Dort werden sie auf brutalste Art gefoltert. Das Mittel zur Marter ist vor allem der Tanz, der eine aus den Tiefen des Systems gelenkte Fernwirkung entfaltet. Was an der Oberfläche wie ein Wunderwerk künstlerischer Ausdrucksleistung tanzt, hat – sobald von den Operateurinnen des Machtsystems aktiviert – vernichtende Wirkungen auf die Körper der Abtrünnigen.
Guadagnino hat sich den belgisch-französischen Choreografen Damien Jalet als Mitwirkenden geholt, nachdem er dessen Tanz Les Médusés (Februar 2013, mit den Tänzerinnen Meytal Blanaru, Clara Furey und Vittoria de Ferrari Sapetto) im Louvre gesehen hatte, der seinerseits von Dario Argentos Suspiria beeinflusst war. Die wichtigen Tanzszenen bei Guadagnino sind die Proben und die Aufführung eines Stücks mit dem Titel Volk, die Vernichtung der Tänzerin Olga (Elena Fokina) und ein wüstes Ritual, an dem alle Hexen und Tänzerinnen teilnehmen. Getanzt wird im Spannungsbogen zwischen Expressionismus (Volk) und Postmoderne (beim Ritual). Den spektakulärsten Auftritt liefert die schwarze Mater Suspiriorum, eine der drei schrecklichen Mütter aus Argentos Mythologie, der noch eine Mater Tenebrarum und eine Mater Lacrimarum zugehören. Die Mutter der Seufzer sucht eine Verkörperung, und sie wird diese in der Figur der Susie Bannion finden.
Frauen als Täterinnen
Im zweiten Brennpunkt der Handlung glost die deutsche Geschichte zwischen Nationalsozialismus, Teilung und Roter Armee Fraktion. Das Horrorgebäude, die Gegenwart der Mauer und die Camouflage der sich hinter der Tanzkompanie tarnenden Hexen stecken den unheilvollen Grund ab, auf den die Gegenwart gebaut ist. Die einzige wesentliche männliche Rolle, jene des greisen Psychologen Josef Klemperer, wird – wie Madame Blanc und die Hexe Markos – von einer Frau verkörpert: Tilda Swinton. Die beinahe durchgehend weibliche Besetzung zieht eine unheilvolle Ellipse um die beiden Brennpunkte der Handlung. Nicht nur der Tanz wird ins Reich des Bösen geführt – wo er wunderbar zu Hause ist –, auch die Frau verliert die heute so gerne angerufene Position des notorischen Opfers.
Hier sind Frauen perfide Täterinnen, die es auf ihresgleichen abgesehen haben. In dieser Rolle treten sie bei Suspiria aus dem Schatten des Patriarchats und entwickeln ihre eigenen, ganz spezifischen destruktiven Kräfte. Und sie machen sich frei von den Klammern ihrer Viktimisierung, wobei das unterdrückende Patriarchat nicht ausgeklammert wird. Im Gegenteil, die beinahe vollständige Abwesenheit von Männern lässt den Orkus (den Abgrund, „Keller“) der männergeleiteten Kulturgeschichte nur umso deutlicher hervortreten. Hier liegt sozusagen ein Orcus (Folterer der Unterwelt) in der Luft. Er choreografiert den Lauf der geisterhaften Historie, in der sich Guadagninos gespenstische Geschichte abspielt.
Die dunkle Materie
Um den schwarzverhüllten Geist der Mutter der Seufzer in sich einzulassen, öffnet Susie Bannion gegen Ende des Hexenrituals mit bloßen Händen ihre Brust. Darin wird eine „dunkle Materie“ sichtbar, die an die Transformation der Lucy im gleichnamigen Film (2014) von Luc Besson erinnert. Bannion wird als Tochter einer bösen Mutter nun zu einer chthonischen Göttin, die den in sich gespaltenen Zirkel der Kompanie-Hexen durchbricht. Die Tänzerinnen der Truppe verlieren ihre Choreografin, denn Madame Blanc wird von ihrer Konkurrentin Helena Markos getötet, bevor diese ebenfalls stirbt. In freimütig durchdeklinierten, orgiastischen Splatterszenen werden Körper zerstört, fließt Blut, und Gedärm quillt aus einem Bauch.
Auf manche Gemüter mag diese Metapher „verstörend“ wirken. Aber es ist zur Zeit gerade besonders wichtig, dass Luca Guadagnino als Künstler auf Befindlichkeiten keine Rücksicht nimmt, weil das Stereotyp der „Verstörung“ in den vergangenen Jahren zum totalitären Konzept einer Elitejugendbewegung geworden ist, die unter dem Vorwand einer kruden „Progressivität“ alles von sich weist, das an – sozial induzierte – innere Konflikte rühren könnte.
Geheimnis der sozialen Kommunikation
Der in Deutschland – auch durch Wim Wenders’ penetrant gefühligen Film Pina – tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren (2011) – bis an der Grenze der Unappetitlichkeit zelebrierten Figur der Pina Bausch wird das ästhetische Wirken der politisch ambivalent gewesenen Mary Wigman (1886-1973) aufgebrannt. Zu deren bekanntesten Werken zählt denn auch der bekannte Hexentanz von 1914 und 1926. Madame Blanc begann in Suspiria vor ihrem Tod mit einem neuen Tanz, dem sie den Titel Wiedergeburt gab.
Auch das kann als politische Metapher gelten: Nichts in der hyperkomplexen Dynamik der sozialen Kommunikation – dazu zählt der Tanz ebenso wie die Politik – ist jemals wirklich tot. Es kommt als gewandelte Gestalt wieder. Und noch bevor es in seinen adaptierten Kostümierungen vom nebelnden Mainstream erkannt und verstanden wird, entwickelt es seine gefährlichen Kräfte.
(26.11.2018)