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Souveränität eines Leibes

ZOË SCHRECKENBERG BEIM FESTIVAL IMAGETANZ 2019 DES WIENER BRUT

Von Helmut Ploebst

Während diese Gestalt auf dem Boden kniet und, den Oberkörper nach hinten geborgen, in eine graublau fahle Neonleuchte starrt, entsteht der Eindruck, als hätte die ihre Augen so stark verdreht, daß nur deren weiße Sklera blind ins Irgendwo gerichtet ist. Das Halbdunkel rundum betont die somnambule Atmosphäre der Szene. Tatsächlich hält die österreichisch-französische Choreografin Zoë Schreckenberg sich als die Tänzerin dieser Arbeit in einem traumähnlich anmutenden Zwischenraum fest.

 

Nach dem Aufstehen und vor dem Liegen nennt Schreckenberg ihr Solo lapidar. Damit könnte sie einen Tag meinen. Oder die liminale Kurve eines Sichaufrichtens und wieder zu Boden Gehens. Nur: In diesem Stück – Uraufführung war beim Festival Imagetanz 2019 des Wiener Brut Theaters – geht keine Sonne auf. Und die Gestalt ist bereits zu Beginn in stocksteifer Pose gestanden. Am Ende wird sie sich aus dem Schein ihrer nüchternen Leuchte in die Finsternis verziehen.

 

Zwischen Punkt und Buchstabe

 

Die Tänzerin führt eine Figur vor, an der von der jungen Künstlerin offenbar eingehend gearbeitet wurde. Kein „Charakter“, kein definiertes Ich, sondern, wie so oft im Tanz, ein Avatar. [1] Dahinter ist eine akribisch durchgeführte Untersuchung zu vermuten. Wie sähe ein Raum aus, scheint sich Schreckenberg gefragt zu haben, der im Kern der zeitgenössischen Akzeleration verborgen liegt (ähnlich einem Schwarzen Loch [2] im Inneren des grellen Zentrums unserer hyperaktiven Müdigkeitsgesellschaft).

 

Es sieht auch so aus, als hätte sie mit dem Gedanken gespielt, wie sich der Abstand zwischen einem Punkt am Ende eines Satzes und dem Anfangsbuchstaben des nächsten anfüllt. Dieser Zwischenraum, der immer mitgelesen oder -gehört wird – ein Atemholen, ein Stocken vielleicht, eine hastige Wendung oder ein ablenkender Bruch. Erst der Inhalt seiner Lücken macht etwas Gesagtes zu einer vollen Aussage: die Tonlage, die Nuancierung, der Rhythmus oder alles, was in der Grammatik und zwischen den Zeilen zu lesen ist – und wohin ein Körper im Innehalten tendiert oder tastet.

 

Schreddern der Stille

 

Mit der Gestalt der Tänzerin Zoë Schreckenberg hält sich im Stück eine zweite in Lukas Ipsmillers Bühnenraum auf: ein Musiker (Chris Ludwig) mit seinen Pult – einem Sockel, der einen Holzkasten mit aufgeklapptem Deckel trägt, in dem diese gespenstische Präsenz Dinge tut, die den Raum mit dumpfem Rotorblätterknattern bearbeitet. Es knackt und knistert. Das elektronische Schreddern der Stille, eine stotternde Perkussion, eine Außenwelt sichert das Eingeschlossensein der Tänzerin in ihrer Black Box noch einmal ab. Ein Störfaktor, der die sehr langsam tanzende Gestalt nicht losläßt.

 

Es ist, wie oft im zeitgenössischen Tanz, als ob dieser elektronische Sound die Stille des Raums in eine geräuschvolle Parallelwelt zerrte, unerbittlich aus den Ohren das Auditoriums das Hören saugte wie ein dunkler, reißender und pochender Tinnitus. Ähnlich wie die Gestalt vor den Augen ihres Publikums unablässig dessen Blicke auf sich zieht, um sie in diesem limbushaften Halblicht in sich zu absorbieren, das die Tänzerin wie ein steckengebliebenes Verlöschen festhält. Und sie dadurch ausstellt, sodaß die Blicke der Zuschauerınnen in der Geometrie ihrer Bewegungen wandern, über die Fleisch und Stoff gezogen scheinen, um dieses gestische Gebilde mit sich zu verkleiden.

 

Wie bei Duchamps Gestalt und Treppe

 

Das ist, in seiner Zurückgezogenheit, eine starke Behauptung des Körpers. Ganz so, als könne er sich dem Spektakel der plärrenden virtuellen Körperrobotik draußen – in der Gesellschaft –, das die Tänzerin immerhin in dieses Theater projiziert hat, entziehen. Dieser Anschein trügt. Zoë Schreckenberg verhüllt ihre Herkunft aus dem Spektakel nicht mit Geometrie, Haut und Gewand. Im Gegenteil, sie unterstreicht sie dadurch noch. Die Winkel, die Achsen, die Fächen, die ganze Figur, wie sie als Gestalt und Treppe von Marcel Duchamp [3] in sich selbst hinab- und wieder hinaufsteigt, als Akt der Selbstkomposition und als nie zerfallende Verteilung von Gewicht und Gedachtem im Raum.

 

So entsteht – zwischen Chronokomposition und Verhaltensdekonstruktion – ein sehr weit reichender Akt der Emanzipation gegenüber dem Spektakel. Sobald sich die Tänzerin irgendwann das Sweatshirt über den Kopf zieht, zeigt sie etwas von der Souveränität eines Leibes, der sich in seiner Präsentation der gerade performancehandelsüblichen Prostitution ungerührt entzieht. Er hält sich eben bedeckt genug. [4]

 

Eine lässige Disziplin

 

Das Publikum kommt nicht zur Ruhe in den Wendungen und Verwerfungen dieses Leibes und seiner Selbstkontrolle, die sich antipodisch zu den heute allzu normativ gewordenen Ekstasierungen des Körpers verhält. Der zeitgenössische Tanz hat mittlerweile endlose Jahre eines wiederkehrenden Außersichgeratens hinter sich gebracht, unzählige „Grenzüberschreitungen“ (überwiegend zum Schein) versucht und sich dabei allzu oft bloß der „disruptiven“ Ideologie und Energie der Subjekteinbildungen des Neoliberalismus angebiedert.

 

Gerade dieser Kontext des künstlerischen Scheiterns, über den sich Schreckenberg hier hinwegschreibt, bringt die Klasse der kleinen Arbeit Nach dem Aufstehen und vor dem Liegen erst richtig zur Geltung. Trotz der kalkulierten Langsamkeit und der lässig genutzten Disziplin, dem zerstoßenen Sound im traumverlorenen Halbdunkel wird dieser Tanz nie pathetisch. Auch nicht beim verdrehten Blick in den Leuchtstoff, und schon gar nicht, wenn dieser Blick (dieses Licht) mit plötzlichen Krach halb aus seiner Aufhängung stürzt und damit die Zuschauerınnen erschreckt.

Fußnoten:

  1. ^ Wenn Tänzerınnen Figuren „darstellen“, dann sehr oft in Form von körperlichen Manifestationen einer Komposition, einer Idee oder eines Prozesses als Projektion, deren strukturelle Quelle teils außerhalb der Subjektivität der Darstellenden liegt. Im Drama oder Spielfilm kann dieses Prinzip in seiner einfachsten Form beobachtet werden. Beim Tanz wird es mehrdeutig, wechselhaft oder widersprüchlich. Choreografie, Narration und Verkörperung versetzen den Leib einer Tänzerin in Situationen zwischen Ausführung und Ausfüllen, in denen die Subjektivität dieses Körpers zur Halterung und zum Antrieb eines Trägermediums wird, das durchaus als Avatar bezeichnet werden kann.
  2. ^ Wobei der Begriff des „Schwarzen Lochs“ aus der Astrophysik eine paradoxe Metapher zur Verfügung stellt: Das Loch suggeriert die Bezeichnung eines Hohlraums, während mit dem Schwarzen Loch ein Himmelskörper von immenser Dichte gemeint ist. Was innerhalb dieses Objekts, das oft hinter dem Aufglühen der Materie, die es gerade an sich zieht, verborgen ist, aber auch sonst nie direkt sichtbar wird, vorgeht, bleibt bis dato unbekannt. Ebenso wie alles, was sich im „Inneren“ einer Gesellschaft oder im Unbewußten der Psyche ereignet.
  3. ^ Vgl. Marcel Duchamp, Nu descendant un escalier no. 1 (1911) und vor allem Nu descendant un escalier no. 2 (1912); übertragen auf einen Tanz wäre die Komplexität der Flächen entsprechend höher.
  4. ^ Alexandra Bachzetsis beispielsweise gelingt diese Souveränität in ihrem Stück Private Song, das eine Woche nach Schreckenbergs Solo im Tanzquartier Wien zu sehen war, nicht. Daher muß sich Bachzetsis als Performerin von zwei männlichen Assistenten stützen lassen, auf der Bühne ironische Gymnastik ausüben und sehr oft beleidigt oder wahlweise lasziv ins Publikum starren. Natürlich bemüht auch sie sich um Souveränität, doch Private Song ist so offensichtlich vollgestopft mit der pathetischen Pornografie dieser Bemühung, daß die damit einhergehende Peinlichkeit bis zum Ende anhält.

 

(6.4.2019)