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Gefangen im Kunstwerk

RYOJI IKEDAS “MICRO | MACRO” UND KURT HENTSCHLÄGERS “FEED.X” BEI DEN WIENER FESTWOCHEN

Von Helmut Ploebst

Fünfzig Jahre nach den Ereignissen des Mai 1968 zeichnen sich für die zeitgenössischen Künste der Zukunft einige sehr unterschiedliche, teils ineinanderquellende Szenarien ab. Im ersten zeigt sich, wie Kunstwerke als Serviceleistungen vermarktet werden: als „kulturell“ veredelte Wellnessprogramme mit Distinktionswert. Das zweite, dem ersten entgegengesetzte Szenario läßt sich als Überfließen von Kunst in Propaganda darstellen: wenn Kunst „übergeordneten“ Zielen staatlicher, sozialer oder ökonomischer Interessensträger dienen. In einem dritten, eher spezialisierten Modell verfließen Kunst und Wissenschaft miteinander zu verschiedenen Formen von Arts-based Research.

 

Ein viertes Szenario könnte eine Entkoppelung der Künste von den Verpflichtungen und Überbauten des vergangenen halben Jahrhunderts sein – im besten Fall eine neue Selbstvergewisserung als freies Experiment der gesellschaftlichen Kommunikation. Als Szenario Nummer fünf kündigt sich ein Rückfall der Künste unter Bedingungen neuer autoritärer Systeme an, etwa in Ungarn, der Türkei und Polen. Auch ein sechstes Szenario prosperiert im Rahmen der Kreativindustrien: die Verbindung von Kunst und Technologie inklusive der Anbindung der auf diesem Gebiet aktiven Künstlerınnen an die Logiken der sie unterstützenden Unternehmen.

 

Im Nebel der Ambivalenz

 

Insgesamt ist das Feld reicher an Zukunftsszenarien als hier dargestellt werden soll, doch schon in der lückenhaften Liste zeigt sich eine gewisse Komplexität für weitere Entwicklungen. Diese Komplexität erhöht sich noch, sobald die unterschiedlichen Kunstformen inklusive ihrer Hybride und Neubildungen ins Spiel gebracht werden. Die Aussicht auf diese Fülle hüllt die Gegenwart ganz und gar in Ambivalenz, diesen so anregenden wie lähmenden Nebel des jetzt nicht mehr gar so neuen Wirtschaftsliberalismus. In dieser gesellschaftlichen Immersion erscheint aufgrund der eingeschränkten Sicht jeder Versuch einer mühsamen Prognose als Überforderung, also werden bevorzugt improvisierte Ideen von der Zukunft zu großen Erlebnissen stilisiert.

 

Weder Prognosen noch Spekulationen, wohl aber Experimente mit künstlerischen Immersionen führen zwei Künstler durch, deren Arbeiten Teile der Wiener Festwochen 2018 sind und zu einem optimistischen Blick auf die Zukunft von Kunst ermutigen: die Performance Feed.X von Kurt Hentschläger und die Installationen micro | macro – the planck universe von Ryoji Ikeda. Zwei überaus spektakuläre Werke, die einen deutlichen Zusammenhang mit dem Experimentalfilm der ersten und zweiten Avantgarde herstellen. Feed.X etwa ist eine Weiterführung von Paul Sharits’ N:O:T:H:I:N:G aus dem Jahr 1968 und vor allem deswegen aussagekräftig, weil Hentschläger sein Publikum in das Medium hineinführt, das Sharits noch vorgeführt hat. Aus der „Performance“ der Projektion wird, wenn man so will, eine „Immersance“ in die Projektion.

 

Feed.X beginnt als Videovorführung. Die Zuschauerınnen sitzen in Stuhlreihen vor einer Leinwand, auf der digital designte Architekturen schweben. Das „Kameraauge“ navigiert durch diese redikal reduzierten Kubaturen, zieht den Blick mit und bereitet ihn darauf vor, daß sich in dieser urbanen Simulation etwas beunruhigendes ereignet. Und tatsächlich, in den geisterhaften schwarzweißen Räumen der virtuellen Video-Welt wirbeln verhuschte menschliche Gestalten, die in einen Sog geraten zu sein scheinen, dessen Gewalt sie in schneller Drehung zusammenzwingt und zugleich ihre Konturen auseinanderreißt. Eine unheimliche Choreografie, die zwischen der Aufösung des Körperlichen und der Entropie des Sozialen ein Spannungsfeld eröffnet, das die Wahrnehmung auf ein ungewöhnliches Ereignis vorbereitet. Das Feld wird stärker, sobald sich die zerfetzten, transparent-weißlichen Gespenster in schwarze Schatten verwandeln, die in einem hellen Hades treiben. Augenblicklich bricht der Topos „Feld“ in sich zusammen, seine Aufgeladenheit entgrenzt sich und invertiert. Dabei wechselt sie von der Leinwand in den Zuschauerınnenkörper.

 

Emotionale Manipulation

 

Diese Inversion der Spannung leitet zur bevorstehenden Immersion über. Die negativen Gestalten differenzieren sich zwar in all ihrer Haltlosigkeit aus, wobei sogar einzelne Individuen erkennbar werden. Aber die Schatten wirken wie Brandlöcher im Blick, bevor dem Publikum durch mit hohem Druck eingeblasenen Nebel die Sicht genommen wird. Alles rundum verschwindet, die Leinwand ebenso wie die Körper der Sitznachbarn. Dieser Moment markiert mit geradezu höllischer Deutlichkeit den Unterschied zwischen den beiden Rezeptionspositionen distanzierte Beobachtung und distanzloses Eingebundensein. Ersteres kann bloß in einer transparenten Umgebung stattfinden, das zweite wird nur durch den Entzug dieser Transparenz und deren Ersatz durch ihr Gegenteil möglich.

 

In den dichten Nebel werden starke Lichtpulse gejagt, die im oder unmittelbar am Auge flackernde und vibrierende Muster erzeugen – wobei das Schließen der Lider die Hochspannung der Umgebung nicht mildert, sondern bloß die Farbwerte der Immissionen. Der Umgebungseindruck und die Operationen der Wahrnehmung scheinen sich zu synchronisieren. Sobald das geschehen ist, wird die durch den hohen emotionalen Druck jäh unterbrochen gewesene Reflexionsfähigkeit der „Lektüre“ dieser Wahrnehmungserfahrung wieder möglich. Der Puls des Lichts, das Flackern der Umgebung entsprechen den künstlerischen Mitteln in den Flackerfilmen von Paul Sharits. Durch die Streuwirkung des Lichts allerdings entgrenzt sich auch bei N:O:T:H:I:N:G der Rahmen der Kinoleinwand. Das Licht scheint förmlich ausbrechen und sich in eine Umgebung verwandeln zu wollen.

 

Was in den 1960er und 1970er Jahren auch in Lichtshows – wie bei Andy Warhols Exploding Plastic Inevitables – als „psychedelisch“ bewußtseinserweiternd vorgegaukelt wurde, ist modellbildend für weiche, aber durchdringende Strategien emotionaler Manipulation. Kurt Hentschläger zeigt einerseits das Prinzip hinter dieser Gängelung, die heute in vielen Clubs gang und gäbe ist, andererseits aber auch die Aggressivität der Immersion an sich. Insofern läßt sich Feed.X im Sinn der eingangs skizzierten Liste ohne weiteres als freies Experiment der gesellschaftlichen Kommunikation (vgl. viertes Szenario) lesen – allerdings als eines, das einen klar detektierbaren kritischen Impetus trägt. Hier wird nicht etwas vor Augen geführt, sondern vielmehr in den Blick injiziert. Etwas, das den bedrohlichen Charakter der kommenden Immersion verdeutlicht – ein fundamentaler Hinweis in einer Gegenwart, die sich auf das große Geschäft mit dem Eintauchen in „Virtuelle Realitäten“ vorbereitet.

 

Bildung zwischen Überwelt und Unterwelt

 

Davon unterscheidet sich Ryoji Ikedas micro | macro erheblich. Auch wenn diese Installation als immersiv bezeichnet wird, bleibt der Grad der Immersion hier vergleichsweise niedrig. Zwei großformatige Projektionen – eine auf die Frontwand der weiten Halle E im Wiener Museumsquartier, die andere auf den Boden dieses Raums – in einer ausgedehnten Black Box erlauben immer noch jederzeit Distanznahme und damit die Veränderung von Position und Perspektive. Anders als Feed.X ist diese Arbeit weniger eine Auseinandersetzung mit den eingesetzten medialen Mitteln als ein Impuls zur Auseinandersetzung mit den in micro | macro als hochverdichtete Bild- und Soundpoesie vorgeführten Thematiken: die Überwelt der Astrophysik und die Unterwelt der Mikrophysik.

 

Die Art der Erfahrung für das Publikum hängt hier tatsächlich vom Bildungsgrad der oder des einzelnen ab, nicht aber – wie bereits andernorts beschrieben – die Intensität des Erlebnisses. Diese Bandbreite enthält eine Ebene, auf der Kind und Kenner gleichgestellt erscheinen: die Virtuosität der Bildchoreografie (in der sich zahlreiche Referenzen zum Experimentalfilm, etwa von Oskar Fischinger, entdecken lassen), die Verspieltheit im Umgang mit hochkomplexen Informationen als Form und die Intertwinedness von visueller und akustischer Komposition. Andererseits ist diese Arbeit, für die Ikeda am Cern eingehend recherchiert hat, auf der künstlerischen Ebene ein extrem tiefreichendes und hochfliegendes Spiel mit Codes, Diagrammen, formaler Sprache, Dokumentarsplittern, Informationsmassierung und -strukturierung, Rhythmisierung, Abstraktion und kompositorischer Übersetzung auf Basis eines mehrdimensionalen choreografischen Ansatzes. Also in bestem Sinn anspruchsvoll.

 

Ikedas Vorgangsweise enthält überraschend die Umkehr der bekannten liberalen Anpassung der Kommunikation auf den Status quo eines möglichst breit definierten Zielsamples in Richtung der alten sozialdemokratischen Bildungsidee vom Anheben des Wissensstandes möglichst vieler ohne Ansehen ihrer sozialen Klasse auf das bestpraktikable Level, um das Ziel einer Emanzipation gegenüber den jeweiligen Wissenseliten willen. Im kleinkarierten Slang des Techno-Neoliberalismus hieße das: Dem konsumistischen „Downsizing“ steht ein edukatorisches „Upgrading“ gegenüber (dessen Programme natürlich auch aus vereinfachten Darstellungen komplexer Sachverhalte gebaut sein müssen). Seit die Sozialdemokratien Europas jahrzehntelang ihre Volksbildungsidee eingefroren und das Feld dem Edutainment des ideologischen Kapitalismus überlassen haben, sind die einzelnen Citoyens für ihre (Weiter-)Bildung und damit Emanzipation selbstverantwortlich gemacht.

 

Zeilen versus Filamente

 

Kunst kann weder fehlende Sozial- noch vernachlässigte Bildungspolitik wettmachen, und jegliche auch noch so „gut gemeinte“ Gängelung in diese Richtung trägt bereits Symptome von autoritärem Nudging bis hin zu vereinnahmender Vorzensur in sich. Gut also, daß micro | macro eben nicht als didaktisches „Kunst“-Werk gedacht und ausgeführt ist, sondern als Blitzlicht in die Tiefen gegenwärtiger Forschungen eines Teils der Naturwissenschaften. Die Sinnlichkeit und das Spektakel dieser Installation dienen als soziokommunikative Brücken, die den Blick auf die schlaglichthaft beleuchteten Komplexitäten an sich binden und ihn zugleich entspannen im Sinn des Spiels mit Assoziationen und der Anspielung auf einen Teil der kollektiven Erinnerungsräume in einer hochmediatisierten Gesellschaft.

 

Bei micro | macro verfließen Kunst und Wissenschaft (vgl. drittes Szenario) zu Kompositionen aus wissenschaftlichen visuellen Codes, die klar aus der Perspektive und unter den Prämissen von Kunst transformiert sind. Ikeda hat sich hier eindeutig nicht zum Promotor der Wissenschaftsindustrie gemacht, sondern auf spezialisierter Ebene einen Hinweis darauf hinterlassen, daß sich philosophische Reflexionen weder auf den Zwitscherraum der Kulturwissenschaften noch auf den Zweckbau der „hard sciences“ beschränken müssen.

 

Die beiden Projektionen in micro | macro sind auch als Zusammenspiel zweier Experimentalfilme rezipierbar, wobei der makrodimensionale Teil an ein Gefecht zwischen Zentralperspektive und geometristischer Verflächung erinnert und der mikrodimensionale Teil ein Wechselspiel zwischen strikter Struktur und amorpher Fluidität darstellt. Als verbindender Diskurs zwischen beiden erweist sich die Dialektik von Zeilen- und Filamentenordnungen – also von konstruierten Schriften und gewachsenen Gebilden –, in deren Zwischenbereichen sich idealerweise das aufbaut, was als künstlerische und philosophische Reflexionsräume zu bezeichnen wäre.

 

(2. 6. 2018)