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Ballet Mécanique im Chthuluzän

ALEXANDRA BACHZETSIS’ OKTOPODISCHES “MASSACRE” IM NEW YORKER MoMA

Von Nicole Haitzinger

„The tyrannous and bloody deed is done.
The most arche deed of piteous massacre...“

(William Shakespeare: Richard III,

4. Akt, 3. Szene; Auftritt Tyrrell vor dem König)

 

Alexandra Bachzetsis’ Massacre. Variations on a Theme ist ein mehr affirmatives als widerständiges Signature Piece unserer (vorbehaltlich westlichen) Gegenwartskultur. [1] Diese Arbeit der aus der Schweiz kommenden und ab 2001 durch ihre eigenen Arbeiten bekannt gewordenen Choreographin wurde im Kontext einer technologisierten, flüssigen, migrierenden Gesellschaft generiert, in einer Gesellschaft also, für die Performance konstitutiv ist. [2] Drei weitere spezifischere Faktoren zur Bestimmung als Signature Piece seien vorab genannt: Erstens die Variation der künstlerischen Präsentationmodi von Massacre. Variations on a Theme in Black Box und/oder White Cube, [3] zweitens die Verflechtung von kulturellen Versatzstücken (Cyberspace, Porno-Industrie, technoide Körperlichkeit, Ritual, Postmodern Dance, mittelalterliche Tarantella-Tänze, populäre Tänze aus dem industrialisierten Nordengland der späten 1960er und frühen 1970er Jahre) und drittens die Sezierung von Repräsentationen des weiblichen Körpers in Gesellschaft und Kunst mit einem scharfen Skalpell. Doch dieses Massacre ist – anders als zu Shakespeares Zeiten – kühl, distanziert, beinahe blutlos gewaltsam:

„In a cultural climate dominated by looping, flickering GIFs and avatars, physical violence, and our increasing addiction to digital technologies and devices, this new work positions the female body as a technological form caught between animism and automatism.“ [4]

 

 

Das Klavier als Performer

 

Im philosophischen Diskurs, besser gesagt in verschiedenen Strömungen wie New Materialism, Agentieller Realismus oder Post-Humanismus, die heterogen bis teils widersprüchlich argumentieren, [5] wird – und das scheint ein kleinster gemeinsamer Nenner zu sein – gegenwärtig eine grundlegende Änderung des Denkens über das Verhältnis von ‚menschlich‘ und ‚nicht-menschlich‘ beziehungsweise deren gegenseitiger Bedingtheit vorgeschlagen. Diese Denkfiguren entsprechen choreographischen Setzungen im Dispositiv der szenischen Künste:

„At the moment, there is a certain hype regarding posthumanist and object-oriented ventures (not only in the performing arts but even more so in philosophy, as can be seen in view of the immense popularity of nascent philosophical movements such as speculative realism and object-oriented ontology – both of which strive to de-center de human subject and question its exceptional role as compared to other entities), so there exists the danger that important questions are being neglected or skipped over in the sparkle or trend that also happens to meet the demands of a certain market.“ [6]

In Massacre. Variations on a Theme ist der erste Performer, der auftritt, ein nicht-menschlicher, nämlich ein Player Piano. Das ist weder neu – nach Martina Ruhsams Befund [7] ist seit dem Jahr 2008 eine verstärkte Involvierung von Dingen, von sogenannten nicht-menschlichen Entitäten in der experimentellen Choreographie zu beobachten –, noch handelt es sich bei Bachzetsis um eine radikale menschlich-/nicht-menschliche Assemblage auf der Bühne mit expliziter politischer Implikation. Zwar gehört der erste Auftritt in der MoMA-Aufführungsversion (vom Januar 2017), vielleicht die schönste Szene in Massacre. Variations on a Theme, dem automatischen Klavier, doch danach re-präsentieren drei Tänzerinnen und zwei Pianisten von nicht-menschlichen Performern klar unterscheidbare Rollen, die von Alexandra Bachzetsis’ künstlerischer Signatur bestimmt sind.

 

Anders als in radikaleren Projekten der Assemblage von Körpern und Dingen, in denen der Signierende im theatralen Ereignis (temporär) verschwindet, bleibt Bachzetsis, ohne selbst auf der Bühne zu sein, als Choreografin im engeren Sinn präsent. Es kommt zu keiner Auslöschung der auktorialen Position. Die Emanzipation des Klaviers ist, dies sei hier vorweggenommen, als Sedimentation eines Projekts der historischen Avantgarde zu verstehen, jenem des Ballet Mécanique, in dem die Komposition im Sinne von menschlicher/maschineller Zusammensetzung das Leitmotiv darstellt.

Bei Judith Butler ist in der Theorie, ähnlich wie bei Bachzetsis auf der Bühne (des Museums, des Theaters), eine Engführung des Mensch-Objekt-Paradigmas mit dem Genderdiskurs zu konstatieren:

„Gender is not gender if it does not imply the social dimension of a bodily being, the way that the body refers to a broader world and exceeds the one who bears or does it, even as the one remains in some sense singular. But the same goes for performance – and perhaps that is part of the link between them. Performance is always an action or event that involves a number of people, objects, networks, and institutions [...] For it is for and with someone or some set of nonhuman things and movements, always relying on a ground or background, or social ground – a fleeting act for a passing crowd- that performance comes forth as a ‘performance’ at all.“ [8]

Auf das Entrée des Klaviers folgen präzise choreografierte Auftritte der Tänzerinnen, die in ihrer in Szene gesetzten fotorealistischen Schönheit dem globalen Hipster-Phänomen der Metropolen entsprechen beziehungsweise dieses Stereotyp ohne die entsprechenden Requisiten Caffè Latte, Mac Book, iPhone) neben dem signifikanten Styling hauptsächlich über ihre szenische Präsenz aufzurufen vermögen. Das kühle Setting im MoMA, markiert durch einen weißen Tanzboden im Catherine C. Marron Atrium, intensiviert die Erfahrung der Unnahbarkeit. Dies scheint dem im Programm artikulierten „feverish interchange between violent physical movement and excessive mechanical repetition“ [9] zu widersprechen, tut es aber nicht.

 

Das Fiebrige der Gegenwartskultur wird durch einen anderen Virus generiert, einen Virus, bei dem nach dem Schüttelfrost keine Entladung, kein Purgatorium durch Übertemperierung des Körpers entsteht. Bewegungsanalytisch perspektiviert werden spezifische Gestensequenzen, die auf diversen kulturellen Versatzstücken basieren – unter anderem werden als Referenzen mittelalterliche Tarantula-Tänze, Simone Fortis Bewegungsrepertoire aus Sleep Walkers/Zoo Mantras (1968) und englische Soultänze aus dem 1970er Jahren benannt –, von einer Tänzerin zur nächsten übertragen: „Throughout Massacre, each sequence of gesture is transmitted, amost virally, from one performer to the other.“ [10] Mittels geschickter Verflechtungen, Repetition und Übertragung von Körper zu Körper werden an sich signifikante Bewegungsmotive hybridisiert, sodass sie temporär als performative Union erfahrbar sind. Ein ähnliches Verfahren ist für die Inszenierung From A to B via C (2014) zu attestieren, in der das Bewegungsleitmotiv die motorische Aktion eines Oktopus ist. Knochenlose Körper in einer aquatischen Umgebung korrespondieren der Choreografin zufolge in dieser Anordnung mit den fluiden Körperbildern in Online-Tutorials, für deren Re-Präsentation sie sich in dieser künstlerischen Arbeit spezifischer interessiert. [11]

 

Die aktuelle Monographie der feministischen Sozialtheoretikerin und Biologin Donna Haraway Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene (2016) beginnt nicht zufällig mit der Entdeckung von Mächten, die unter der Erde leben und als wesentlich für die gegenwärtige Denkfigur einer ‚Multispezien-Gefährtenschaft‘ erklärt werden. Für diese wird der Begriff chthonisch (vom griechischen chthonios, gr. χθόνιος, was so viel bedeutet wie ‚der Erde zugehörig’ oder ‚unter der Erde’) wiedereingeführt, der Spinnentiere ebenso einschließt wie Oktopoden, diese intelligenten, äußerst beweglichen und skelettlosen Meeresbewohner.

 

Im von Haraway ausgerufenen „Chthuluzän“ wird das (vormals westliche) anthropozentrische Paradigma endgültig verabschiedet, das heißt jeglicher „human exceptionalism“ und „bounded individualism“ [12] wird ausradiert zugunsten einer konfliktösen, ja aggressiven Koexistenz von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten. Mit dieser radikalen Setzung sind ethische wie politische Implikationen verknüpft, wie Daniel Loick in seiner analytisch fundierten Rezension in der Zeitschrift Texte zur Kunst attestiert:

„Der westliche Anthropozentrismus (wie auch der moderne Individualismus in seinen endlosen Varianten) ist im Angesicht der drohenden ökologischen Katastrophe schlicht nicht länger denkbar. An seine Stelle muss ein radikal relationales Denken treten, das sich der Abhängigkeit vom Kompost des Planeten bewusst wird. Statt des Cyborgs oder des Hundes mobilisiert Haraway nun also die Tentakel der Erdwesen – Spinnen und Oktopusse -, die paradigmatisch eine Lebensform markieren, die ebenso verwurzelt wie mobil ist.“ [13]

 

Tentakel I: „exquisite corpse“ und das Feminine

 

Massacre. Variations on a Theme erscheint über eine bewegungsanalytische Perspektivierung hinausgehend – ich erlaube mir diese Metapher – als Oktopus mit mehreren Tentakeln. Einer davon reicht zurück bis in die 1920er Jahre, nämlich zum Ballet Mécanique, den ich quasi als Lieblingsarm dieses Oktopus definiere und näher ausführen werde. Ein weiterer führt zu Hans Bellmers Puppen in die 1930er Jahre. Achtzehn Fotografien seiner mit Holz, Metall und Gips verfremdeten Schaufensterpuppen werden, unterstützt von Paul Éluard und André Breton, im Dezember 1934 in der Pariser Zeitschrift Minotaure unter dem Titel Poupée: variations sur le montage d’une mineure articulée veröffentlicht. Drei Jahre später stellt das MoMA weitere Fotografien seiner Puppen auf der International Exhibition of Surrealismus (1937) aus.

 

Hans Bellmer: „Poupée, variations sur le montage d'une mineure articulée“.                                      In: Minotaure 6, Winter 1934–35. S. 30–31.

 

Obgleich die Poupées eines der wichtigsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts als „anagrammatische Körper“ [14] eine desublimierende Attacke auf jegliche stabile Subjektbehauptung in der bedrohlichen NS-Zeit darstellen, sind es meist unverkennbar weibliche Puppen, die eine Bellmersche Manipulation erfahren. Diese sexualisierten Repräsentationsformen in der sich mechanisierenden Welt der Moderne collagiert Alexandra Bachzetsis mit medialen Stereotypisierungen des Frauenkörpers in der gegenwärtigen Pharmazie- und Pornoindustrie. Den Ballets Mécaniques wie den Bellmerschen Puppen unterliegt strukturell und ästhetisch das surrealistische Spiel namens „exquisite corpse“: Typischerweise wird hierbei ein leeres Blatt Papier genommen, mehrfach gefaltet, und in einer festgelegten seriellen Anordnung skizziert jede/r teilnehmende Künstlerın einen Körper- oder Objektteil in einem spezifischen Segment, ohne das vorherige gesehen zu haben. Die meist monströsen Figuren stellen im Surrealismus die ideale Hochzeit zwischen Mensch und Objekt, Körper und Maschine dar und enthüllen nach ihrer buchstäblichen Entfaltung ein ‚Punktum des Unheimlichen‘. [15]

 

Tentakel II: Ballet Mécanique – Eros der Maschine

 

Auf dem Cover der DADA Zeitschrift 391 vom August 1917 ist eine Skulptur, bestehend aus Achsenstützen eines Ford Modell-T von Francis Picabia, abgebildet. Der Künstler betitelt sie bezeichnenderweise mit Ballet Mécanique.

 

Francis Picabia: „Ballet Mécanique“.                         Cover der DADA Zeitschrift 391, August 1917.

 

Dies soll die erste Referenz für die fünf richtungsweisenden Künstler werden, die Komposition (George Antheil) und Film (Ezra Pound, Dudley Murphy, Man Ray, Fernand Léger) verantworten. Eigentlich sollten beide, Komposition und Film, im Jahr 1924 im Kontext der vom Architekten Friedrich Kiesler konzipierten Internationalen Ausstellung der Theatertechnik in Wien gleichzeitig aufgeführt werden, doch die Fertigstellung von Antheils Komposition verzögert sich, und der Film wird ohne Musik uraufgeführt. Unterschiedliche Längen von Film und Komposition, letztere war schließlich doppelt so lang, verkomplizieren die strukturelle Verflechtung. Schließlich beginnen zwei Ballets Mécaniques zu existieren, die bis in die Gegenwart nur selten gemeinsam aufgeführt werden. Beide sind, neben der Faszination für den avantgardistischen Eros der Maschine, von einer ähnlichen Faktur grundiert: kaleidoskopische Ordnung, Repetition, spezifische Rhythmisierung (mit Referenz zum Rhythmus der Metropolen), Juxtaposition, Narration der A-Logik, Vervielfachung, Industriekultur als Motiv- und Klangreservoir. Die generierte Ästhetik zeugt von der gemeinsamen künstlerischen Idee der Reizüberflutung, der Brechung von jeglicher Seh- beziehungsweise Hörerwartung und die Präsentation eines maschinellen Ichs, entleert und entäußert von seelischen Aufladungen.

 

George Antheils Idee war es, ein „first piece of music, that has been composed OUT and FOR machines“ zu machen. [16] Im Unterschied zu seinen künstlerischen Zeitgenossen möchte er, ohne Pathetik und mit musikalischer Präzision, eben keine „blöden futuristischen Maschinen der italienischen Futuristen“ nachmachen, deren Stücke von „Lärm-Improvisation“ profitieren und „lächerlich“ sind, sondern generiert auf seiner „musikalischen Leinwand“ [17] alternative und quasi kopulierende Mensch-Maschine Konfigurationen – „I am presenting you with a physicality like sexual intercourse“. [18]

 

Von ‚seinem‘ Ballet Mécanique existieren drei Partituren, eine Fassung für Pianola (1925), die den Klavierteil mit skizzierter Anweisung für andere Instrumente enthält, eine für die Pariser Aufführung aus dem Jahr 1926, Ballet pour Instruments Mécanique et Percussion, komponiert für ein Pianola mit Verstärkung, zwei Klaviere, die vermehrfacht werden können, kleine und große Holzpropeller, Metallpropeller, Tamtam, Trommeln und Sirenen, sowie die Partitur einer späten Fassung aus dem Jahr 1953. [19] Die Komposition und die Pariser Aufführung des Ballet Mécanique (ohne Film) übertreffen laut George Antheil die Erwartungen von Fernand Léger. [20]

 

Die Schönheit des Alltäglichen

 

Die Genese des Films ist komplex und es gibt je nach Eigenaussagen des jeweiligen Künstlers unterschiedliche Verantwortlichkeiten. [21] Dennoch lässt sich rekonstruieren, dass die Idee zu einem filmischen Ballet Mécanique von dem amerikanischen Filmregisseur Dudley Murphy kommt, der schließlich über die Verbindung durch den Literaten Ezra Pound mit dem Fotografen, Filmemacher und Objektkünstler Man Ray das erste Material produzierte. Murphy, der den Film als mechanistische Choreographie verstand und erproben wollte, nahm mit Man Ray ganz im Zeitgeist der technisierten und nervös organisierten Metropole Geschäftsauslagen, fließenden Verkehr, einen Vergnügungspark, einen Papagei, Man Rays Geliebte Kiki de Montparnasse mit starkem Make-Up und kontrastierend – im Sinne des Revivals von gothic Kitsch – dazu seine zweite Frau, die Tänzerin Katherine Murphy auf einer Schaukel im Garten sitzend und an Blumen riechend, auf. Eigentlich war noch geplant, zwei pornographische Szenen mit zwei Paaren zu drehen, die zwischen Sequenzen von sich auf und ab bewegenden Hubkolben geschnitten werden sollten, um die ästhetische Erfahrung der Kopulation von Mensch und Maschine zu intensivieren, doch Dudley Murphy und Man Ray ging nach dieser ersten Drehphase das Geld aus.

 

Ezra Pound animiert den französischen bildenden Künstler Fernand Léger zur künstlerischen und finanziellen Kooperation, der unter anderem durch szenische Arbeiten für die avantgardistischen Ballets Suédois eine erweiterte Choreografie-Vorstellung privilegiert. Diese profitiert von transmedialer Migration, und es werden unterschiedliche Konstellationen von Körpern und Objekten performativ. Léger bringt die Idee von George Antheil als Komponisten ein (wahrscheinlich wird temporär sogar eine Bühnenvariante überlegt) und verantwortet schließlich mit Murphy die finale Konzeption und die Endproduktion. Légers künstlerische Signatur scheint der schnellen Montage von Objekten, als deren Referenz die Avantgardefilme von Richter, Fischinger, Eggeling und Ruttmann bestimmbar sind und in denen er die Schönheit des Alltäglichen im Sinne von „The Beautiful is everywhere: perhaps more in the arrangement of your saucepans in the white walls of your kitchen than in your eighteenth-century living room or in the official museum“ [22] hervorheben möchte, den kubistischen De-Konstruktionen und Re-Figurationen und den variierten Texteinschüben zu entsprechen. Die verschiedenen Versatzstücke/Bausteine werden mittels Schneidetechnik von Murphy and Léger aneinandergereiht.

 

 

Drei Instanzen scheinen gleich wichtig: erstens das Prinzip der choreographischen Assemblage, zweitens die Verfremdung (hergestellt durch Zeitlupe, Zeitraffer, Wiederholung, Überblendungen, Spiegelungen, Verkehrung, Multiplizierung, Fragmentierung...) und drittens die schamlose Logik einer vermeintlich unaufhörlichen Bewegung, die vom menschlichen Körper abstrahiert ist. Treffsicher fasst es der Literat Blaise Cendrars in den Worten seiner Zeit zusammen:

„This new element is presented to us through an infinite variety of methods, from every aspect: close-ups, fixed or moving mechanical fragments, projected at a heightened speed that approaches the state of simultaneity and that crushes and eliminates the human object, reduces its interest, pulverises it.“ [23]

Aus der Genderperspektive betrachtet, treffen im Film Ballet Mécanique zwei Repräsentationen der modernen Frau aufeinander: die vermeintlich ‚natürliche‘ Tänzerin auf der Schaukel im Garten, verkörpert durch die Amerikanerin Katherine Murphy, und die mondäne, androgyne französische Künstlerin, in Szene gesetzt von Kiki de Montparnasse (eigentlich Alice Prin), Sängerin, Schauspielerin, Malerin, Muse und Geliebte von Man Ray, Modell für u.a. Julian Mandel, Hermine David, Francis Picabia und Jean Cocteau. Beide erscheinen funktionalisiert im großen Narrativ des Maschinen-Eros. Der Avantgarde-Film und die Komposition, beide Ballets Mécaniques also, werden 1935 im MoMA in New York erstmals gemeinsam aufgeführt.

 

Rückstoßprinzip als Vorwärtsbewegung nach Haraway

 

Wenn man bedenkt, dass sich der Oktopus mittels eines Rückstoßprinzips fortbewegt – er drückt Wasser aus seiner Mantelhöhle wie durch einen Trichter nach außen, um sich vorwärts zu katapultieren –, dann soll dieses schöne Bewegungsprinzip als Denkfigur nun zur Perspektivierung von Massacre. Variations on a Theme in der MoMA-Aufführungsversion (2017) aufgegriffen werden.

 

Alexandra Bachzetsis montiert in einem nicht zu verkennenden Stil des europäischen Tanztheaters kulturelle und künstlerische Versatzstücke präzise aneinander, hybridisiert diese mittels viraler Gestenübertragungen hochstilisiert von Tänzerinnenkörper zu Tänzerinnenkörper und positioniert diese Aktionen, beginnend mit dem Auftritt eines Player Pianos, das die Komposition von Georges Antheils Ballets Mécanique im White Cube des MoMA und in Variationen in der Black Box anderer Theater. Jegliche Interpretation dieser eingangs als Signature Piece behaupteten Inszenierung in Richtung Radikalität oder der politischen oder ethischen Implikation der Stiftung eines wie immer gearteten neuen (künstlerischen) Anfangs wäre vermessen. Und doch erlaubt es gerade wegen seiner zeitgemäßen Struktur und Erscheinungsform erstens eine provisorische Diagnose der szenischen Künste im Kontext der technoiden Gegenwartskultur und zweitens einen vorwärts gerichteten Rückstoß auf die historische Avantgarde der 1920er Jahre im Sinne von „dedicated to my old comrades of the future“. [24]

 

Das Ballet Mécanique prophezeit, möchte man schwach formulieren, die nicht-menschlichen Performer auf der diskursiven Bühne des Posthumanismus (wie des New Materialism, des agentiellen Relativismus oder wie die neueren Denkströme noch heißen mögen). In einer stärkeren Setzung wäre der Posthumanismus in diesem Sinn weniger teleologisch konnotiert, sondern als analytische Kategorie zu verstehen. Mit diesem Prisma betrachtet, erhält die Definition von posthumanistischer Choreographie – „a posthumanist choreography does not thematize an era after human beings but rather takes nonhuman actors and their materialities as well as their agential capacities seriously“ [25] – eine Erweiterung in den historischen Raum. Im Ballet Mécanique bleibt die Verflechtung mit Gender stereotyp: Dieser meist blinde Fleck der maschinenobsessiven Avantgarde wird von Alexandra Bachzetsis in Massacre. Variations on a Theme aufgezeigt.

Fußnoten:

  1. ^ Unter ‚Signature Pieces‘ im Kontext der szenischen Künste verstehe ich formal und ästhetisch modellhafte Inszenierungen, die für eine historische Formation – hier also die Gegenwart – repräsentativ sind. Man könnte ebenso von einer Verdichtung von Zeitgeist sprechen, der in Szene gesetzt ist. Die theoretische Bestimmung von Signature Pieces basiert auf verschiedenen Instanzen, hauptsächlich nicht auf der des Gefallens, obgleich jeweils zeitbedingte Werturteile eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Kanonbildung spielen. Zur gegenwärtigen Diskussion von Kanon als „Schauplatz eines lebendigen kunstkritischen Streits“ vgl. auch Graw, Isabelle; Rebentisch, Juliane: „Vorwort“. In: Texte zur Kunst: The Canon. Texte zur Kunst Verlag Berlin, Dezember 2015. Heft 100, S. 4-5.
  2. ^ Vgl. Kershaw, Baz: „Dramas of the Performative Society: Theatre at the End of its Tether“. In: New Theatre Quarterly. Cambridge University Press Journals, Cambridge, August 2001. Band 17, Heft 3, S. 203-211. Sowie online unter: http://journals.cambridge.org/action/displayAbstract?fromPage=online&aid=3030508 (Zuletzt eingesehen: 25.03.2017). Ich danke Helmut Ploebst für diese Hinweise.
  3. ^ Im MoMA wurden erstens vier Performances zu einem jeweils definierten Abendtermin gezeigt, zweitens war zu den regulären Museumsöffnungszeiten eine Installation zu sehen, die aus dem leeren Bühnensetting mit Klavieren und einer Großprojektion eines eigens produzierten Films bestand.
  4. ^ Programmheft MoMA zur Performance Massacre: Variations on a Theme von Alexandra Bachzetsis. The Museum of Modern Art New York, 2016.
  5. ^ Vgl. dazu u.a. Coole, Diana; Frost, Samantha: New Materialism. Onotology, Agency and Politics.: Duke University Press Durham & London, 2010. Sowie: Barad, Karen: Meeting the universe halfway: quantum physics and the entanglement of matter and meaning. Duke University Press Durham & London, 2007. Barad, Karen: „Posthumanist Performativity: Toward an understanding of how matter comes to matter”. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society. The University of Chicago Press, Chicago, 2003. Latour; Bruno: Reassembling the Social, Introduction to Actor-Network Theory. Oxford University Press Oxford, 2005. Braidotti, Rosi: The Posthuman. Polity Press Cambridge, 2013.
  6. ^ Ruhsam,Martina: „The Comeback of Objects. On vacuum cleaners, plastic bottles, hair dryers, chairs, brooms, sand & other nonhuman performers on contemporary stages“. In: Maska. Band 31, Nummer 179-180, September 2016, S. 53-58, hier S. 53.
  7. ^ Vgl. ibid. S. 53ff.
  8. ^ Butler, Judith: „Performativity“. Online unter: http://www.intermsofperformance.site/keywords/performativity/judith-butler (Zuletzt eingesehen: 03.04.2017).
  9. ^ Programmheft MoMA zur Performance Massacre: Variations on a Theme von Alexandra Bachzetsis. The Museum of Modern Art New York, 2016.
  10. ^ Programmheft MoMA zur Performance Massacre: Variations on a Theme von Alexandra Bachzetsis. The Museum of Modern Art New York, 2016.
  11. ^ Vgl. hierzu die Videodokumentation zu einer Performance von  From A to B via C von Alexandra Bachzetsis. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=vOHEEYIsUHY (Zuletzt eingesehen: 03.04.2017).
  12. ^ Haraway, Donna: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Duke University Press Durham, 2016, S. 30.
  13. ^ Loick, Daniel: „Mach es nicht selbst. Daniel Loick über „Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene“ von Donna Haraway“. In: Texte zur Kunst. Wir sind ihr / They are us. Texte zur Kunst Verlag Berlin, März 2017. Heft 105, S. 186-189, hier S. 188.
  14. ^ Kruschkova, Krassimira: „Defigurationen. Zur Szene des Anagramms in Tanz und Performance der Gegenwart“. Online unter: http://www.corpusweb.net/defigurationen.html (Zuletzt eingesehen: 03.04.2017).
  15. ^ Vgl. u.a. Foster, Hal: The return of the real. Massachusetts Institute of Technology, 1996.
  16. ^ Georges Antheil: „My Ballet Mécanique. What is means”. In: De Stijl, Ausgabe VI/12, 1924-1925, S. 141-144, hier S. 141.
  17. ^ Ibid.
  18. ^ Ibid., S. 143.
  19. ^ Vgl. Schmidt-Pirro, Julia: George Antheils Ballet Mécanique. Peter Lang Verlag Frankfurt am Main, 2000.
  20. ^ Vgl. Donald, James: „Jazz Modernism and Film Art. Dudley Murphy and Ballet mécanique”. In: Modernism/modernity. Ausgabe 16/1, Johns Hopkins University Press, Januar 2009, S. 25-49, hier S. 33.
  21. ^ Zur Genese vgl. ibid. S. 32-38 und Lehrman, Paul David: The History and Technology of Ballet Mécanique. Dissertation an der Tufts University. Dissertation Publishing, 2010, S. 184-185.
  22. ^ Léger, Fernand: Functions of Painting. Viking Press New York, 1973. Zitiert nach: Donald, James: „Jazz Modernism and Film Art. Dudley Murphy and Ballet mécanique”. In: Modernism/modernity. Ausgabe 16/1, Johns Hopkins University Press, Januar 2009, S. 34.
  23. ^ Ibid., S.33.
  24. ^ Vgl. dazu Craig, Edward Gordon. The art of the theatre. Foulis Verlag Edinburgh, 1905..
  25. ^ Vgl. Ruhsam, Martina: „The Comeback of Objects. On vacuum cleaners, plastic bottles, hair dryers, chairs, brooms, sand & other nonhuman performers on contemporary stages“. In: Maska. Band 31, Nummer 179-180, September 2016, S. 53-58, hier S. 54.

 

7.4.2017