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MOTUS ZEIGT “PANORAMA” BEIM OSTERFESTIVAL TIROL
Wie stark der Fetisch USA auch heute noch auf ganz viele, auch kluge und linksliberale Europäer wirkt, war gerade sehr schön bei Enrico Casagrande und Daniela Nicolò zu sehen, die 1991 die italienische Performancegruppe Motus gründeten und bis heute leiten. Mit Panorama, einer Produktion, die im Jänner 2018 uraufgeführt worden war, brachte Motus am 12. April 2019 ein Stück New York nach Innsbruck zum Osterfestival Tirol. [1] Ein kleines, aber aufschlußreiches Stück über sechs Mitglieder der 1972 gegründeten Great Jones Repertory Company, die ihren Sitz im weithin bekannten La MaMa Theater hat, das elf Jahre davor von der lokalen Legende Ellen Stewart im East Village gegründet worden war.
Kantenbruch einer großen Identitätskrise
Bei Panorama werden vor allem jene Neurosen sichtbar, die ihre Quellen im Amerika der Hippiezeit haben und heute in niagarafallbreitem Strom (bunter Regenbogen inklusive) über den Kantenbruch einer großen Identitätskrise rauschen. Ergo ist es unterhaltsam, den sympathischen Theaternudeln Maura Nguyen Donohue, John Gutierrez, Valois Marie Mickens, Eugene the Poogene, Perry Yung/Richard Ebihara und Zişan Ugurlu dabei zuzusehen, wie sie unter der Leitung von Casagrande und Nicolò über sich und ihr Leben, und sich und ihre Sichten, und wieder sich und ihre Gedanken berichten – oder phantasieren, denn Panorama ist als „‘post-documentary’ narrative“ gebaut.
Mit scharfem, einfühlsam geführtem Skalpell präpariert das Regieduo einige Schichten der gegenwärtigen US-amerikanischen Farce heraus: die kaum bewältigbare, stets rissige soziale und kulturelle Akkumulation in den Ballungsräumen beispielsweise oder die Geschichte und Gegenwart typisch amerikanischer Rassismen und Unterdrückungsmuster [2] bis hin zur Kränkung der Kulturliberalen über den Sieg eines aufgeblasenen Oligarchen [3] bei der Wahl 2016. „The terror of power“, heißt es im Stück, „is immense.“
Der amerikanische Alptraum
Panorama macht weiters die Krämpfe jener Kulturschaffenden sichtbar, die das Anti zum „amerikanischen Traum“ nicht richtig ausleben können. Damit bildet die buntlichtige Show mit Einzelauftritten, Musik, Video und projizierten Comics ab, womit sich wachsende Bevölkerungsmehrheiten – nicht nur der USA – bisher betäubt haben: die Pflege inniger Beziehungen zur Darstellung der eigenen Figur. Diese zwanghafte Selbstentäußerung produziert vor allem im Westen allzu oft eine spekulativ vorgetäuschte oder immer zum Mißbrauch bereite Auffassung von Empathie und den suchthaften Gebrauch von gartenzwergmedialen Möglichkeiten, sich als Opfer aufzuspielen.
So thematisiert Motus den amerikanischen Alptraum als Ambivalenz, und das mit so großer Sensibilität, daß die Darsteller sich wohlfühlen in ihrer ironisch ausgespielten Überzeugung, für das Publikum interessant zu sein. Doch in Zeiten von TV-Overkill, Youtube-Spektakel und Facebook-Narzißmus wirken die Einzelfiguren der Great Jones Repertory Company ganz angepaßt – angefangen bei der Performerin aus der Türkei, die sich stolz auf ihre Green Card gibt, bis hin zu ihrer Kollegin, die sich mit einer Packung Cheetos Cheese Puffs zwischen ihren gespreizten Beinen auf den Rücken legt, Lustlaute aus sich stößt und die in der zwischen Porno und Prüderie schwankenden New Yorker Kulturelite möglicherweise ein wenig aufreizende Äußerung tätigt, daß man sich durch die vier Jahre der Trump-Präsidentschaft durchficken werde. Dann – puff! – platzt der aufgeblasene Sack.
Fleisch, das an seinen Knochen klebt
Eine besondere Qualität des Stücks liegt in dem darin aufgespannten Netzwerk an Zeichen und Botschaften, Bezügen und Bildern, das diese Figuren knüpfen. Zu Beginn fließen einzelne Namen und Geschichten durch mehrere von ihnen hindurch, aber nur, um schließlich doch zur richtigen Person zu finden und sie in Erinnerungen, Assoziationen und Stimmungen aufblühen zu lassen. Kurz taucht Jean Baudrillards Amerika-Buch (orig. 1997) auf, dann wiederum läßt sich die Gruppe von Michelangelo Antonionis Professione: Reporter (1975) fallen. In den kleinen Geschichten der sechs Figuren auf der Bühne geht es um ganz viele Details, um Drogenromantik, Unsicherheit, Vorurteile, Familiendramen, Feminismus, Enttäuschung, Terrorismus und darum, wie es ist, auf einer Manhattaner Straßenkreuzung zu tanzen.
Im Verlauf seiner szenischen Komposition entwickelt Panorama ein unterschwelliges Eigenleben, das sich der Kontrolle der Beteiligten zu entziehen scheint. Diese Verselbständigung entspinnt sich etwa an der Frage, was die Darsteller wohl erfunden haben mögen, was sie besonders unterstreichen und was sie möglicherweise verbergen. Und ebenso am Spiel mit den Identitätsklischees und vermeintlich fluiden Körpern, die dann doch Fleisch sind, das an seinen Knochen klebt und schwer an seiner Besiedlung mit Diskursen trägt, die es entweder in lichte Höhen tragen oder auf wenige Stereotypen reduzieren sollen. Fleisch, das in Häute gefüllt ist, an diesen existentiell endet und zugleich diskursiv aufschäumt, weil es an der Außengrenze aus seinem biologischen Dasein ins System der sozialen Kommunikation übergeht, das wiederum tief in dieses Fleisch zurückwirkt, es durchmassiert, medialisiert und permanent refassadiert.
Die Achillesferse der Gartenzwergmedien-Gesellschaft
Diesen Subtext zu lesen, macht die Performance zu einem Erlebnis. Ausschlaggebend für die Qualität von Panorama ist letztlich also weniger, wer oder was gezeigt wird, sondern wie dieses diskursive Eigenleben „tanzt“. Auf dieser Ebene beobachtet das Publikum, wie Identitäten außerhalb der Norm sozial geformt werden – daher tatsächlich kein Fleisch zur Gänze Autor seiner Geschichte sein kann – oder Äußerungen, die demonstrieren, wie unentrinnbar sein unentwegtes Gewäsch um die eigene Identität einen Menschen zur bloßen und entblößten Behauptungsexistenz schrumpfen läßt.
„Who am I, that’s the deepest question in the world.“ Viel banaler und in diesem Fall anrührender kann es nicht werden – aber genau hier entblößt Motus nicht die Darsteller, sondern deutet auf die Achillesferse der technologischen Gartenzwergmedien-Gesellschaft. Noch dazu dämpft das Mittel der semifiktiven Dokumentation den Ernst der Lage, denn in dieser Sphäre muß das Publikum nichts für bare Münze nehmen. [4]
Das „Wer bin ich?“ – diese Frage als Bekenntnis des Scheiterns am Akt des Suchens selbst – wird vor den Augen des Publikums dadurch konterkariert, daß die Fragenden jede (vergeblich erwartete) potentielle Antwort am Fetisch ihrer Subjektivität abprallen lassen und damit ein Panorama ausbreiten, das letztlich die Gestalt der Frage zum einzigen Inhalt hat. Auch das macht diese Performance so reichhaltig. Die Protagonistınnen zerfließen im verkorksten Rahmenwerk einer unentrinnbar scheinenden, eng dimensionierten kulturellen Umgebung, die das Subjekt-als-Idee ausbeutet und ausschlachtet, normiert und spektakularisiert. Wenn alle Performer sein müssen, dann werden auch künstlerische Aufführungen von einzelnen zur selbstverständlichen Erfüllung, die das Publikum zwar anrührt, das neoliberale System der Subjektverwertung aber sein läßt, was es ist.
Fußnoten:
- ^ Zu sehen am 19. und 20. April 2019 auch im Berliner Gorki Theater.
- ^ Rassismen, die sich in den meisten Ländern rund um den Globus in unterschiedlichen Ausprägungen wiederfinden lassen. Vgl. u.a. die Website des Committee on the Elimination of Racial Discriminiation (CERD), das ab 23. April 2019 sein 98. Treffen in Genf abhält: https://www.ohchr.org/en/hrbodies/cerd/pages/cerdindex.aspx (zuletzt eingesehen 16. 4. 2019).
- ^ Der nach weit verbreiteter Auffassung gar nicht wirklich Präsident werden wollte und nun wie ein schlimmer Narr mit Schellenmütze die Systemfehler des US-amerikanischen Politsystems vorführt und für seine Reality-Show nutzt. Nicht vergessen werden sollte dabei, daß auch Italien einen Oligarchen zum Ministerpräsidenten machte – und zwar vier Mal.
- ^ Das schöne künstlerische Mittel der Docufiction ist durch die medienindustrielle Omnifiktion und ihren Gebrauch als Instrument der Lenkung und Herrschaft leider hoffnungslos desavouiert. Enrico Casagrande und Daniela Nicolò soll hier unterstellt werden, daß sie dies erkannt und sich trotzdem die künstlerische Freiheit genommen haben, ihr „,postdokumentarisches‘ Narrativ“ zu weben. Einen schönen Essay über das deutschsprachige Dokumentartheater hat Aline Vennemann 2014 in Germanica (LIV, S. 25ff) publiziert, online unter: https://journals.openedition.org/germanica/2542 (zuletzt eingesehen 16. 4. 2019).
(16. 4. 2019)