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Postcontemporary: Big Chill

Versuche zur Zeitgenossenschaft #4

Von Helmut Ploebst

Seit die Postmoderne als Leitidee Symptome einer Transformation zeigt, verliert der Signifikant „Zeitgenossenschaft“ zunehmend sein Signifikat. Denn es gibt kein verbindendes oder verbindliches künstlerisch-kulturelles Konzept mehr, das als „kontemporär“ zu verstehen ist. Bevor sich ein solches Konzept wieder als Konsens möglicherweise einstellt, wird es spannend sein, zu beobachten, wie sich der derzeitige kulturelle „Big Chill“ (hier unter Anführungszeichen in Abwandlung des bekannten Begriffs aus der Kosmologie: [1] die Expansion des Kulturellen im Sinn eines Auseinanderdriftens seiner Bestandteile) verhält.

 

Gesellschaftlich scheint der „Big Chill“ von der allgemeinen Unverbindlichkeit herzukommen, die aus der Jugendkultur-Konvention des „Chillens“ (sich entspannen oder „abhängen“) stammt. Das englische „chill“ bedeutet locker und „cool“, aber auch entmutigend, kalt oder frostig. Gut zu beobachten ist der kulturelle Chill nicht nur in den sozialen Medien, die das Auseinanderdriften des Gemeinschaftlichen mit der Dienstleistung vermeintlicher Konnektivität kaschieren, sondern auch in den Künsten, hinter deren expansiver Performance sich aggressive normative Verengungen verbergen.

 

Der soziale Frost der neoliberalen Umgestaltung vieler Gesellschaften erzeugt ein Bedürfnis nach Wärme. Dafür hält das neoliberale System keine Befriedigung, sondern lediglich Kompensation bereit: durch ein Surrogat für Zeitgenossenschaft in Form von Servicestrukturen für das Konsum-, Kommunikations-, Kultur- und Informationsverhalten. Diese Strukturen ermöglichen es, das Verhalten der Kompensierenden ökonomisch immer besser auszuwerten und zu steuern. Damit transformiert die einstige (post)moderne „contemporaneity“ nun zu einer algorithmischen „silicontemporaneity“, in der sich die Zeitverhältnisse verflüssigt haben und als Datenströme einer „Liquid Modernity“ [2] kanalisiert werden.

 

Soziales „Delinking“

 

Außerhalb dieser Ströme vollzieht sich ein soziales „Delinking“. Schon die „Identitäten“ der sozialen Netzwerke verhalten sich wie auseinandertreibende Bilder, die durch Bots (Identitäten simulierende Computerprogramme) ersetzt werden können. Solche Bots erfüllen, wie die US-Präsidentschaftswahlen 2016 gezeigt haben, mit Hilfe von Anwendungen künstlicher Intelligenz selbständig Kommunikationsaufgaben. Und künstlerische Identitäten driften als Ich-AGs von zugleich vernetzten und zersprengten Agentınnen schon lange in alle Richtungen. Gerade hier haben soziale Verbindungen den Charakter von Public Relations angenommen, weil in der Kakophonie von Millionen irgendwie Kreativen anders kaum noch allgemeine oder nachhaltige Aufmerksamkeit zu erreichen ist.

 

Damit hat sich auch das Zeitverständnis verändert. Zeit erscheint historisch als komplexes, dynamisches Performativ, als vazierendes Bündel verschiedener Sprachhandlungen mit unscharfen Rändern. Dieses Performativ ist ein Operator der sozialen Kommunikation. Zeitgenossenschaft bedeutete einmal die Zugehörigkeit zu paradigmatischen (modellhaften) Performativen, die sich unter bestimmten historischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen herausbilden und unterschiedliche Reichweiten haben konnten. Diese bestimmten die gesellschaftlichen Gültigkeiten – Relevanz und Dominanz – der Performative des Zeitgenössischen. Performative in der Art von „dieses Kunstwerk ist zeitgenössisch“ stellten dementsprechend Auffassungsrealitäten her wie alle anderen Handlungen auch.

 

Dieses Performativ ist nun zur Gänze – und nicht bloß an seinen Rändern – unscharf geworden. Das demonstriert etwa ein Sprachspiel, das mein elfjähriger Sohn Robin unlängst angezettelt hat. Es besteht aus dem Durcharbeiten aller sich aus der Formel „Heute ist das Morgen von gestern“ abwandelbaren, wahren und unwahren Sätze. Einer davon wäre: „Morgen wird das Gestern von Übermorgen sein.“ Das ist exakt eine jener „Verschmelzung[en] der Zukunft und der Vergangenheit“, von der Armen Avanessian und Suhail Malik unter der Bezeichnung „postcontemporary“ sprechen. [3] Als zusätzliche Referenz gehört dazu der Paratext von Stuart Beatties Film Tomorrow, When the War began – „Morgen, als der Krieg begann“. [4]

 

Wie ein Teil des Sprachspiels andeutet und worauf der philosophische Zeitkomplex und das Spektakelprodukt abzielen: Die Gegenwart kann in den Sprachdynamiken verschwinden. Auf besonders dramatische Art geschieht das in der digitalen Revolution seit etwa 25 Jahren, und zwar als globale, ökonomisch-politische Zeitumwandlung bei völligem Verlust von Ist-Zuständen, analytischer Gegenwärtigkeit und sozialer Zeitgenossenschaft. Empfunden wird dies paradoxerweise als eine Überdehnung des Heute. Harald Welzer etwa meint: „Wir leben unter einer Diktatur der Gegenwart.“ [5] Darauf schließt der populäre deutsche Sozialpsychologe aus der Instant-Befriedigungssucht künstlicher Bedürfnisse, wie sie in Hyperkonsumgesellschaften forciert wird, in Bezug etwa zu der Verzögerungspolitik gegenüber den Folgen des Klimawandels.

 

Überschreiten des Ereignishorizonts

 

Dieses Paradoxon ist ein Symptom des prinzipiellen Umsturzes im Verständnis von kultureller Zeit, der von technologischer Beschleunigung im Sinn der „silicontemporaneity“ angetrieben wird. Die Beschleunigung kommt Avanessian und Malik zufolge aus der Spekulation mit einem antizipierten Morgen: „Die Zukunft ereignet sich vor der Gegenwart, die Zeit kommt aus der Zukunft.“ [6] Was wiederum bedeutet, dass die antizipativen Mechanismen der Instant-Befriedigungssucht längst das Reich des Konsums verlassen hat und tief in kulturelle und politische Dynamiken eingedrungen ist. Der Wunsch nach der sofortigen Realisierung ihrer Utopien kennzeichnet vor allem profane und technizistische Ideologien.

 

Die autopoietische Beschleunigung der Realisierung solcher in Umsetzung begriffener Utopismen wird vielfach verdrängt: Ist der Ereignishorizont einmal überschritten, gibt es weder ein Zurück noch wirksame Devianz – historisch weder in der Entwicklung des Kolonialismus noch in der des Nationalsozialismus oder des Stalinismus und des Maoismus, und nun in der durchschlagenden Dynamik der digitalen Revolution. Diese Dynamik presst Vergangenheit und Zukunft so gewaltsam ineinander, dass unter ihrem Druck alle Gemeinschaft (jegliche Kohärenz) zerfasert und ebenso alle Gewissheit (jegliches Wissen) zerrieben wird.

 

Was bleibt, sind Simulationen und Fiktionen, die von reichweitenmächtigen Produzenten beliebig umgeformt werden können. Pop und Porno, Prüderie und Perversion flimmern als desinformative Projektionen einer konsequenten Psychopolitik [7] durch den sozialen Raum. Die „Dunkle Energie“ [8] dieser Psychopolitik zieht diesen Raum auseinander. Wir sehen die anderen noch. Aber in diesem „Big Chill“ erscheinen sie so weit entfernt, dass wir nur noch die medialen Bilder erkennen, die sie abgeben. [9]

 

Dazu noch eine Metapher aus der Kosmologie: Sterne sind nicht unsere Zeitgenossen, selbst wenn wir sie hier und in diesem Moment ins Auge fassen können. Denn aus der Perspektive eines jetzt fünf Milliarden Lichtjahre entfernten Observatoriums existiert unsere vor rund 4,6 Milliarden Jahren entstandene Sonne noch gar nicht. Also ist unser Blick auf das, was gegenwärtig als Licht der Vergangenheit auf unsere Netzhaut trifft, einer aus dessen Zukunft. Obwohl wir uns in einem solchen Moment unserer Gegenwärtigkeit versichern dürfen, können wir uns auch dessen gewärtig sein, dass Zukunft und Vergangenheit einander in einem Jetzt überlappen, das in dieser Überformung erlischt.

Fußnoten:

  1. ^ Big Chill (oder Big Whimper): Hypothetisch die unaufhaltsame Ausdehnung des Universums bis hin zu dessen „Wärmetod“ bei maximaler Entropie.
  2. ^ Vgl. Zygmunt Bauman: Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press 2000.
  3. ^ Avanessian, Armen; Malik, Suhail (Hg.): Der Zeitkomplex. Postcontemporary. Berlin: Merve 2016, S. 22.
  4. ^ Stuart Beattie: Tomorrow, When the War began. Australien 2010.
  5. ^ U.a. im Rahmen des taz.lab „Was wirklich zählt“ am 25. April 2015, siehe http://www.taz.de/!154365/, zuletzt eingesehen 2.1.2017; vgl. im weiteren Kontext auch Welzer, Harald: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt am Main: S. Fischer 2016.
  6. ^ Avanessian, Armen; Malik, Suhail (Hg.): Der Zeitkomplex. Postcontemporary. Berlin: Merve 2016, S. 7.
  7. ^ Vgl. Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt/Main: S. Fischer 2014.
  8. ^ „Dunkle Energie“ ist die Hypothese einer allgemeinen kosmologischen Konstante zur Erklärung der zunehmend beschleunigten Ausdehnung des Universums.
  9. ^ So entpuppt sich die technizistische „silicontemporaneity“ ironischerweise als kulturelle „chillycontemporaneity“.

 

(7.2.2017)