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Postcontemporary: enthauptungsphilosophie

Versuche zur Zeitgenossenschaft #3

Von Heidi Wilm

„haben wir jemals die zeit genossen?“
„werden wir jemals die zeit genossen haben werden?“
fragen sich im süßen datensog die verpixelt-verstreamten subjekte.
sie fragen aus der zukunft, aus der sie zu kommen glauben,
fragen taktvoll, extrem bewusst, [1]
aber:
„nur in anführungszeichen.“

 

nur in anführungszeichen
grammatischer blütenfall
wittgensteins flügelschlag
der zeiten(t)faltung [2]

 

die zeit:
t = wurzel aus grammatik geteilt durch materie klammer auf der sprache klammer zu

 

das faktum:
f = a fragrance for everyone

 

das postf*ktische postf*ktet
ungezeitigt

 

in zuckerwatte embedded
rosablaulilaglitzerndes
queerfideles
poparrangement

 

umgarnt die
präemptiv pochenden herzen

 

systeme, infrastrukturen, netzwerke, systeme, infrastrukturen, netzwerke
systeme, infrastrukturen, netzwerke, systeme, infrastrukturen, netzwerke
systeme, infrastrukturen, netzwerke, systeme infrastrukturen, netzwerke
systeme, infrastrukturen, netzwerke, systeme, infrastrukturen, netzwerke
systeme, infrastrukturen …

 

„auf, auf!“ schreien da mit gezückten schwertern
die ritter der künftigkeit: „die technischen pferde vorgespannt!“ –
„fürchtet euch nicht vor der sinnstiftung!“


1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. [3]
2. Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein. [4]

 

„denkerınnen und künstlerınnen aller länder vereinigt euch! befreit euch vom phantasma der wuchernden, schlingernden, der allesdurchdringenden ästhetischen erfahrung! denkt das denken von außerhalb des denkens! lasst doch das sein-denken endlich (denken) sein! pfeift auf den augenblick! vergesst das ereignis! nagt nicht ewig am spekulatius, sondern … spekuliert!!“


3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. [5]

 

„Die con-temporaneity der Zeitgenossenschaft verweist auf die Idee, Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen, indem man versucht, ihr so nahe wie möglich zu kommen. Aber diese Aufgabenstellung ist nicht mehr zeitgemäß.“ [6]

 

was ist
der zeit
gemäß?
dem maß …
der zeit …
der maßgabe …
dem taktstock
dem metronom
der lichtschranke
der sonnen-/sternen-/atomuhr
dem weckruf
dem handy alert
der cardio app
dem allerbesten runtastic-ergebnis …

 

auch das: spekulation.

 

Fußnoten:

  1. ^ http://www.heilpraxisnet.de/naturheilpraxis/bewusstes-geniessen-von-koffein-oder-suessem-steigert-stimmung-2015120150841
  2. ^ „Augustinus: ‚quid est ergo tempus?‘ […]. Es ist uns, als müßten wir die Erscheinungen durchschauen: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern, wie man sagen könnte, auf die ‚Möglichkeiten‘ der Erscheinungen. Wir besinnen uns, heißt das, auf die Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen. Daher besinnt sich auch Augustinus auf die verschiedenen Aussagen, die man über die Dauer von Ereignissen, über ihre Vergangenheit, Gegenwart, oder Zukunft macht. (Dies sind natürlich nicht philosophische Aussagen über die Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.) Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische. Und diese bringt Licht in unser Problem, indem sie Mißverständnisse wegräumt. Mißverständnisse, die den Gebrauch von Worten betreffen; hervorgerufen, unter anderem, durch gewisse Analogien zwischen den Ausdrucksformen in verschiedenen Gebieten unserer Sprache. – Manche von ihnen lassen sich beseitigen […]“. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt 1997, S. 291f.
  3. ^ Aus dem „futuristischen Manifest“, publiziert im Jahr 1909 von Filippo Tommaso Marinetti zur Begründung der futuristischen Bewegung. In: Evelyn Benesch/Ingried Brugger: Futurismus – Radikale Avantgarde, Mailand 2003, S. 263-265.
  4. ^ Ibid.
  5. ^ Ibid.
  6. ^ Armen Avanessian im Gespräch mit Suhail Malik zu ihrem Buch „Der Zeitkomplex“: http://bb9.berlinbiennale.de/de/der-zeitkomplex/

 

(7.2.2017)