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Alain Platel kann „nicht schlafen“
Eine Choreografie über die untrennbare Unvereinbarkeit der Gegenwartsgesellschaft
Designsensible werden sich noch an sie erinnern, wenn auch eventuell mit gerümpfter Nase: die Lavalampe. Eine flaschenartige Leuchte, in dessen bauchigem Körper sich zähflüssige Blasen teilen und wieder miteinander verschmelzen. All das in aufregenden Neonfarben, die wohl auch der Dekorationsfreude der 1970er Jahre entgegen kamen. Warum die Autorin justament die Lavalampe mit Alain Platels nicht schlafen [1] assoziiert, lässt sich nicht bis ins Detail klären, liegt aber keinesfalls an ihrer Funktion als Nachttischlampe. Viel eher scheint die organisch wirkende Lavavereinigung und -teilung als treffendstes Sprachbild, um Platels choreografischen Ablauf zu visualisieren.
Zähflüssig bedeutet hier keinesfalls langsam: nicht schlafen ist in Zeiten des Umbruchs angelegt, die der Choreografie einen entsprechenden Wechsel von Rasanz und Stillstand auferlegen.
Einen starken Hinweis auf den historischen Kontext gibt zuallererst die Musik von Gustav Mahler als wichtiger Ausgangspunkt für die Produktion. Denn Umbrüche kennzeichnen diesen Komponisten der Jahrhundertwende auf zweierlei Ebenen: Kompositorisch unkonventionell, markierte er eine Vorstufe der Neuen Musik, die oftmals Unverständnis des Publikums hervorrief. So mischen sich bei Mahler Kuhglocken und Hämmer unter die Instrumente wie auch damals poppige Klezmer-Elemente in die Komposition.
Die Gewalt der Unsicherheit
Zugleich kann der musikalische Übergang der Spätromantik in die Moderne auch als Analogie zur fortschreitenden Industrialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts begriffen werden. Der große gesellschaftliche Umbruch der Technisierung schien an Tempo kaum zu überbieten: die Industrialisierung „überrollte“ die Bürger, wie der Historiker Philipp Blom [2] es nennt. An Stelle von Religion trat der rationale Glaube an technischen Fortschritt, dem der kapitalistische Widerspruch schon damals die irrationale Ungleichheit eingeimpft hatte. In Mahlers Kompositionen, allen voran die 7. Sinfonie, drückt sich musikalisch die parallele soziokulturelle Entwicklung aus: Unsicherheit durch die sich anbahnende Globalisierung, gefühltes Chaos und vor allem die Vorahnung des folgenden Ersten Weltkriegs.
Alain Platel nimmt nicht zufällig Bezug auf jene Zeit der sich anbahnenden Katastrophe. Denn die Parallelen zu heute sind eindeutig: Mit der digitalen Revolution ist der gegenwärtige technische Etappensprung von vergleichbarer Größe. Und so können auch extremistische Phänomene wie Populismus, Nationalismus und Terrorismus als analoge Bewältigungsstrategien von gesellschaftlicher Verunsicherung kontextualisiert werden. Wo technologische Entwicklung dem gesellschaftlichen Anpassungsprozess zuvorkommt, wo das Individuum mit dem globalisierten Tempo nicht Schritt halten kann, da entstehen Verzweiflung, Unsicherheit und zuletzt Gewalt.
So erinnert auch das Bühnenbild von Berlinde De Bruyckere an vergangene Kriegsformen: Drei Pferdekadaver, womöglich als Teil der Kavallerie gefallen, nehmen einen überdimensionalen Teil der Bühne ein, die durch ein zerschlissenes Laken nach hinten begrenzt wird. Nicht nur das historische, auch das technische Moment unserer Gesellschaft erscheint hier ex negativo: Wie ein rituell geschlachtetes Opfer strecken sich die Hufe der Pferde in die Luft und deuten die implizite Abwertung der Natur durch den Menschen an. Während Geist und Mensch eins – und zum Maschinenbau fähig – sind, kann diese Einheit sich Tier und Natur zunutze und zueigen machen. Der „rationale“ Mensch erhebt sich, heute wie damals, über alles und jeden.
Zwischen Komik und Leere
Eindeutig zeitgenössisch respektive postmodern wird der Abend erst mit Auftritt der Tänzer und deren Zusammensetzung. Das Verhältnis der Repräsentation ist denkbar unausgewogen: Acht Männer und eine Frau bilden diesmal die Gruppe von Les ballets C de la B, eine wohl sehr realistische Gewichtung der global wahrgenommenen Weiblichkeit. Ein zweites Identitätsmerkmal wirkt diffuser, ist aber konstitutiv für Platels Choreografie: Die Gruppe der Männer teilt sich in drei „weiße“ Europäer, drei Araber und zwei Schwarzafrikaner. Auch diese Konstellation scheint sich auf gefühlte anstatt auf reale Zahlen zu beziehen, das entworfene soziologische Bild Europas repräsentiert ebenso viele Araber wie Europäer. Und enttarnt gleichzeitig die unausweichliche Voreingenommenheit der Zuschauerin, die hier selbst kulturelle und nationale Zuordnungen vornimmt.
Platel inszeniert einen Kampf der Kulturen, bei dem gilt: Jeder gegen jeden. Zu Mahlers Musik gehen die Tänzer aufeinander los, greifen an und reißen sich gegenseitig buchstäblich die Kleider vom Leib. Mit verschwitzten, zuckenden Leibern geht die totale körperliche Entäußerung dann in totale Enteignung über. Was dem anderen an Kleidung weggerissen, zerfetzt wird, fliegt dem Publikum ins Gesicht; nichts bleibt übrig von dem, was man sich so leidenschaftlich zu nehmen versucht hatte.
Diese sinnlose, ins Leere führende Raffgier ossizilliert permanent zwischen den Polen der Komik und roher Gewalt. Seltsame Posen, die eben auch alberne Possen sein könnten, verwandeln sich binnen Sekunden zu brutalen Szenen, die in deren Ambivalenz umso intensiver wirken. Generell darf man sich an diesem Abend auf keine Versöhnungsszenarien verlassen: Zwar versucht die Gruppe immer wieder in synchronen Bewegungen zueinander zu finden – schon im nächsten Moment aber stößt man sich wieder gegenseitig ab und bewegt sich im eigenen Rhythmus.
Als roter Faden zieht sich das Wechselspiel von Gewalt und Zuneigung durch die gesamte Choreografie. Und immer wirkt der Kampf wie ein undynamisches Spiel, ähnlich dem von Hunden, die ihr Territorium verteidigen wollen und nicht so recht wissen, ob sie fest zubeißen sollen.
In diesem chaotischen Hin und Weg, dem Gemeinsamen und Getrennten, sind politische Momente zu erkennen, die trotz allem ihre ästhetische Kontingenz bewahren. Wenn im Verlauf des Stücks einer der als „europäisch“ wahrgenommenen Tänzer stirbt und wenn dann um seinen schwächlichen Körper wie um ein Stück Fleisch gebuhlt wird, schafft Platel eine höchst politisierte, aufwühlende und dennoch offene Szenerie. Hat das restliche Publikum überhaupt den Konnex von „Europäer“ und „schwacher weißer Mann“ hergestellt? Schlussendlich bleibt die Zuschauerin sich selbst überlassen, ihre eigenen (über-)sensiblen Wahrnehmungskategorien zu hinterfragen – weil: Im nächsten Moment lebt und tanzt der Tote wieder.
Individualisierte Masse der Postmoderne
Trotz all dem Chaos aus Leibern, Lauten und Bewegung wirken die acht Tänzer und die eine Tänzerin auf der Bühne voneinander isoliert. Gerade in dem nie erreichten Versuch der Vereinigung scheint das Individuum schließlich auf sich selbst zurückgeworfen. Die Bewegungen sind stets Akte der Eigenheiten, keine zu große Synchronität darf aufkommen, ehe das Miteinander wieder in Einsamkeit zerfällt. Zwar verschmelzen etwa die nackten Körper zweier Männer zu einer organischen Einheit, sie bleiben dabei aber so lose, dass sie auseinanderdriften.
Aus theoretischer Perspektive lässt sich hier schließlich das körperlich visualisierte Subjektverständnis der Postmoderne erkennen: Eingelassen in ein Gewebe aus Sprache, Kultur und Gesellschaft, bewegt sich das Subjekt einerseits in einem Kontext, der permanent durch den Anderen beziehungsweise äußere Einflüsse bestimmt wird. Zugleich aber ist dieser Kontext individuell abgesteckt – je nach Herkunft, Alter, Geschlecht gestaltet er sich in unterschiedlicher Ausprägung. Was bleibt, ist das große philosophische Dilemma der modernen Gesellschaften: Wenn wir alle voneinander abhängig sind und doch keine gemeinsame Basis haben – wie kommen wir dann zusammen? Wenn das Subjekt primär durch das Außen definiert wird – wo liegt dann seine subjektive Handlungsfähigkeit? Was kann man tun, um die in nicht schlafen vorgezeichnete voneinander isolierte, gar segregierte Gesellschaft zu einen?
Alain Platels Produktion bietet zwar keine endgültige Antwort auf dieses (post-)moderne Dilemma. Doch es scheint kaum eine Bühne je augenscheinlicher zum Schauplatz der individualisierten Masse geworden zu sein: nicht schlafen vollzieht die Bewegung der untrennbaren Unvereinbarkeit in einem schmerzhaften, absolut faszinierenden Sinn. Und erhellt noch ein bisschen mehr als die Lavalampe.
Fußnoten:
(7.2.2017)