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Der namenlose Tanz

ALIX EYNAUDI ALS BILD BEI OLAF NICOLAI IN DER KUNSTHALLE WIEN

Von Helmut Ploebst

Wie auch immer eine neue Spielsaison startet, der Beginn sollte widersprüchlich sein. So wie heute, am 27. September 2018, für den Autor dieses Texts mit Alix Eynaudis namenlosem – oder bezeichnungsfreiem – Tanzsolo in Olaf Nicolais Kunsthallen-Installation There is No Place Before Arrival.

 

Noch zwei Stunden vor Beginn war nicht klar, ob ein Besuch überhaupt möglich sein würde. Noch während der Performance stand in den Sternen, ob eine Reflexion über die Arbeit entstehen sollte. Und während der Anreise mit der U-Bahn dieser Anfall von Unwillen über Auftragsperformances – „Können Sie sich vorstellen, in unserer Ausstellung XY eine Intervention zu machen?“ – im allgemeinen.

 

Nicolai hatte einige Straßenmalerınnen damit beauftragt, Bilder aus diversen Zeitungen auf den Boden der Ausstellungshalle im ersten Stock zu zeichnen oder zu pinseln. Deren Qualität ist zwar so gut wie niederschmetternd, aber es muss eine fabelhafte Performance gewesen sein, die Künstlerınnen beim Malen zu beobachten. Ihre unterschiedliche Art, diese (Auftrags-)Werke zu Boden zu bringen, wie sie mit ihren Werkzeugen zugange sind und sich bewegen, wie sehr das ein Prozeß, eine Choreografie ist – das alles stellt sich der Autor vor, sobald er sich hingesetzt hat und Eynaudi auf allen Vieren langsam die Szene betritt.

 

Präsenz durch Absenz

 

Sie ist nicht so allein, wie Performerınnen es sonst immer sind, wenn sie nur die Gesellschaft ihres Publikums haben. Obwohl diese Einsamkeit oft großartig anzuschauen ist, denn sie spiegelt eine gesellschaftliche Realität. Eynaudi aber tritt in die gespenstisch spürbare Absenz der Malerınnen, die ihre Bilder hinterlassen haben, also selbst nie ganz abtreten, bevor nicht ihre Spuren getilgt werden. Die Tänzerin bewegt sich auf einem großen, verwischten Bild. Ihre schwarze Kleidung, ihre Hände und Füße sind bald fleckig von den Farben. Diese Gestalt rührt das Bild auf. Das Bild wiederum erweitert sich auf ihren Körper, verändert sich dabei, gewinnt selbst an Unkenntlichkeit: Das verwischende Bild gerät in Bewegung, weil sich die Tänzerin nicht integiert, weil sie gegenüber der Zweidimensionalität alle Inklusion verweigert.

 

Also, sieht der Autor dieses Texts ein, wäre es eine Unterschätzung dieses Ereignisses, die Eigenschaften der Bilder auf dem Boden der Ausstellungshalle zu überschätzen, denn sie repräsentieren eben Schau- und Kulissenmalerei. Das Ereignis wäre demnach nicht nur Eynaudis Tanz und die gespenstisch spürbare Abwesenheit der Malerınnen, sondern Nicolais Prozeßkomposition: die Übertragung von massenmedialen Entstehungs- und Publikationsabläufen in kunstmediale. Eynaudi treibt diese Komposition auf die Spitze, weil sie eines der Bodenbilder in die Visualität ihrer Performance und damit in ein weiteres Medium treibt.

 

Den Körper beim Lesen lesen

 

Stehend wischt die Tänzerin in einem kurzen Augenblick mit einem Fuß über die Farben, schwingt diesen Fuß hoch in ihre Handfläche und hält sich diese Handfläche vor Augen, als ob sie von der Lektüre des Bildes erzählte. Eine Anmerkung. Eine Fußnote. So ist der Körper in das Lesen involviert, wenn er nicht gehetzt wird. Alix Eynaudi läßt sich Zeit, und sie verliert nie die Konzentration. Sie löst dadurch die anfängliche Widerwilligkeit des Rezipienten – und danach Autors dieses Texts – auf, der die Augen nicht von ihrem Bewegungstext lassen kann, dessen Zeilen die Tänzerin durch seine Wahrnehmung zieht.

 

Damit ist auch der Unwille des Autors über Auftragsperformances hinsichtlich dieses Anlasses suspendiert. Das muss er in der U-Bahn während der Lektüre des Begleithefts zur Ausstellung zur Kenntnis nehmen. Zum unkenntlich gewordenen Bild, das die Tänzerin wahrscheinlich getanzt hat, führt Nicolai im Heft ein Zitat von Lukrez an, das der Autor hier nach seiner eigenen Ausgabe von De rerum natura (Berlin, 2014) zitiert: „Alle Farben, ohne Ausnahme, ändern sich, und alles, was die Farbe wechselt, verändert auch sich selbst. [...] Darum also hüte dich, den Urelementen Farbe zuzuschreiben, unversehens könnte dir ausnahmslos alles in Nichts zerfallen.“

 

Ein Bilderbuch-Start

 

Damit sei’s gestanden: Der Autor hat ein Faible a) für Begleithefte und b) für Quellenvergleiche. Weiters hat er eine Schwäche für Kunst, die ohne Begleitheft ein Rätsel bleibt, für konzeptuelle Kunst sowieso, schon gar für die ernste Sorte. Alix Eynaudi hat ihm auf Olaf Nicolai einen Bilderbuch-Saisonstart ermöglicht. Aber das ist nicht so wichtig wie die Tatsache, dass dieser namenlose Tanz ein schlüssiges Kunstwerk war.

 

(27.9.2018)