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Der geschmeidige Choreograf

Liam Scarletts “Carmen“ im Theater an der Wien

Von Helmut Ploebst

Das Rauchen verströmt eine Atmosphäre subversiven Trotzes und darin einen erotischen Hauch der Rebellion. Das gilt heute wieder, im 19. Jahrhundert allerdings, und dann bis in die Roaring Twenties, haftete besonders der Raucherin ein Nimbus besonderen Selbstbewusstseins an. Wohl auch deswegen ließ der französische Autor Prosper Mérimée die Protagonistin seiner Novelle Carmen von 1845 in einer Zigarettenfabrik [1] arbeiten.

 

Der britische Choreograf Liam Scarlett hat dieses aromatisch-anarchische Motiv in seiner Ballettinterpretation des Stoffs aufgegriffen, die das Norwegische Nationalballett im April 2017 auch im Theater an der Wien zeigte. Den Schauplatz der Handlung hat Scarlett ins Sevilla des Jahres 1931 verlegt. Auf das Tor der Zigarettenfabrik sind groß die Lettern CNT (Confederación Nacional del Trabajo) gemalt.

 

Die CNT wurde 1910 gegründet und 1923 nach einem von General Miguel Primo de Rivera mit König Alfons XIII akkordierten Militärputsch in den Untergrund gezwungen. Im Jahr ‘31 begann die Zweite Spanische Republik, Alfons ging ins Exil. Ihm ähnelt in Scarletts Carmen eine große, halb vom Publikum abgewandte Statue auf dem Platz vor der Fabrik. An dieses Denkmal wird Carmen gebunden, nachdem sie sich mit einer Arbeitskollegin eine handgreifliche Auseinandersetzung geliefert hat und deswegen verhaftet worden ist. Ihren Bewacher und späteren Mörder Don José becirct sie, bis er sie schließlich laufen lässt. Dem patriarchalen System, das Frauen als Besitz des Mannes festschreibt, wird sie an Ende trotzdem nicht entkommen.

 

Es lebe die Demokratie?

 

Die Carmen des erst 31-jährigen Briten Liam Scarlett, der in seiner Heimat als ein „Wunderkind“ des Balletts der 2010er Jahre bejubelt wird, ist aus mehreren Gründen symptomatisch für die Gegenwart. Einerseits versucht der Choreograf einen historischen Brückenschlag vom 19. ins 20. Jahrhundert und in diesem Zusammenhang ein politisches Statement zu plazieren: Ein Zettel mit der Aufschrift „Viva la Democracia!“ wird auf das Fabrikstor geklebt – und von Soldaten wieder heruntergerissen. Das ist in postdemokratischen Zeiten, in denen Autoren wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Jason Brennan mit Plädoyers Gegen Demokratie (und in diesem Fall für eine „Epistokratie“) [2] großes Interesse wecken, wohl ein zündendes Statement.

 

Doch Scarlett hat – oder nimmt sich – keinen Raum dafür, dieses auch wirklich auszuarbeiten. Bedauerlich, denn das Ballett im Allgemeinen legt zur Zeit ohnehin den Verdacht nahe, es habe von der einstigen bürgerlichen Erbauung über ein paar zwischenzeitliche Ausritte nun zur neoliberalen Propaganda gewechselt. Eine weitere enttäuschende Ebene in dem 2015 uraufgeführten Stück ist der Tanz selbst, der verblüffend bieder in semimoderner, neoklassischer Ästhetik daherkommt und ganz offensichtlich spekulativ als Wellnessbehandlung für ein möglichst breites Publikum geschaffen ist. Dieser Carmen haftet ein Verzicht auf jegliches künstlerische Experiment an.

 

Den Choreografen interessiert offenbar vor allem der Fahrwind des Geschehens, die Schnittigkeit der Geschichte und das Styling der Charaktere. Dabei verschrammt er zwar die eine oder andere Passage, aber erstaunlicherweise verzeiht ihm das Publikum – wie er sich selbst – offenkundige Schwachstellen wie beispielsweise die verholperte Flucht der Carmen. [3]

 

Neuer Konservativismus

 

Drittens gehört seine Carmen zu jenen Werken der gegenwärtigen darstellenden Kunst für große Bühnen, die wieder äußerst konservativ inszeniert sind. Dieser Trend fällt vor allem in der Oper, aber auch im Theater [4] und im Ballett bereits seit einigen Jahren auf. Dass dies kein gutes Zeichen ist, liegt auf der Hand. Worin könnten die Ursachen für diese Abkehr von Inszenierungen liegen, die deviante künstlerische Formulierungen beinhalten? Und warum wird darüber so wenig gesprochen und publiziert?

 

Die Untersuchung dieser Fragen sprengt leider den Rahmen dieser Analyse – aber für den Tanz gilt, was Liam Scarlett zeigt: Die ohnehin äußerst lose gebliebenen Kontakte zwischen der zeitgenössischen Choreografie und dem Ballett sind zur Gänze wieder abgerissen. [5] Was nicht weiter verwundert, da im selben Zeitraum auch die Diskurskraft des Gegenwartstanzes selbst nach dessen großem Aufbruch Ende der 1990er Jahre mit Beginn der 2010er Jahre wieder stark abgenommen hat.

 

Die Ursachen dafür sind systemimmanent: Die Dekonstruktionen der Postmoderne eignen sich nur bedingt für explizite Rebellionsäußerungen. Der aufrührerische Begriff „Avantgarde“ erschien den Postmodernen als militaristisch und abgenutzt, und die Künstlerınnen vermochten die gesellschaftliche Gewalt hinter den verlockenden Heilsversprechungen des digitalen Neoliberalismus bisher nicht zu erfassen.

 

Schwächen der Emotionalisierung

 

So geriet der Tanz mit seiner neuen Begeisterung für das Emotionale und den Exzess aus der Dynamik der Zeit und steht deswegen heute in großen Teilen wieder als eine Art „arrière-garde“ da. Als deren Schlusslicht hat sich, wie Scarlett zeigt, das Ballett positioniert. Dort, von hinten, ist es bestens sichtbar, weil der Zug für eine breitere Rezeption künstlerischer Experimente in der Tradition der Nineties seit der Finanzkrise ohnehin erst einmal abgefahren zu sein scheint.

 

Wäre Liam Scarletts Stück ein Film, könnte man es als B-Movie bezeichnen, in dem das Handlungsdrama wieder einmal ausprobiert wird. Bei Scarlett wird Carmen nicht zur Rebellin, wie es die Positionierung der Geschichte ins Spanien des Jahres 1931 eigentlich verspricht. Denn der Choreograf wollte sich dann doch lieber auf die betagte Liebestragödie konzentrieren, die er nach dem Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy (für Bizets Oper von 1875) gestaltet und nicht etwa an der etwas rauheren Mérimée-Erzählung orientieren. Auf Meilhacs und Halévys rührende Figur der Micaëla mochte Scarlett ebenfalls nicht verzichten [6] – ein Rührstück mit kleinem Polit-Aperçu hat er dann auch serviert.

 

Damit bleiben aber auch alle Elemente der Carmen, die in einer zeitgemäßen Arbeit hätten angefasst werden müssen, wie sie immer waren: die Männer- und Frauenklischees, das Zigeunerstereotyp, die politische Ordnung. Im Spiegel dieses Stücks ist dann schließlich zu sehen, wo die dem Stück begeistert applaudierende, ballettaffine Gegenwarts-Kulturschickeria immer noch steht.

 

Emma Dantes Inferno

 

Das weckt natürlich die Lust, erneut auf die Barrikaden zu steigen, wie etwa die italienische Regisseurin Emma Dante in ihrer Inszenierung der „Carmen“-Oper 2009 in der Mailänder Scala. Nach deren Uraufführung wetterte das Regie-Urgestein Franco Zeffirelli: "Ich glaube an den Teufel, und an der Scala habe ich den Teufel auf der Bühne gesehen. Diese Aufführung ist das Ergebnis falscher Beschlüsse, die vor allem für die Jugendlichen gefährlich sind.“ [7]

 

Das allein zeigt bereits, dass Dante auf dem richtigen Weg war. „Ihr Sevilla ist ein von erzkatholischer Moral unterdrückter und mit militärischer Gewalt terrorisierter Ort der Unfreiheit“, schreibt Claus Spahn in seinem Bericht für Die Zeit. „Marionettengleich bewegen sich die Betschwestern in der Eröffnungsszene, und die Soldaten inszenieren ihren Wachwechsel als zynische Scheinerschießung. In solch repressiven Verhältnissen nehmen Fabrikarbeiterinnen die langen Messer des Selbstbefreiungskampfes in die Hand. Eine so wutrasende, aggressiv um sich schlagende und für ihre Freiheit mit Haut und Haaren kämpfende Frauenrebellenhorde wie in Mailand hat man in Carmen-Inszenierungen selten gesehen.“ [8]

 

Also: Aufstand geht noch oder wieder, und er funktioniert am besten auf der großen Bühne vor all den betuchten Untoten, die sich bloß aus Prestigegründen zum Kulturgesichtsbad aufschwingen. Emma Dante ist 1967 geboren, Liam Scarlett 1986. Der junge Mann fügte sich geschmeidig in jene Verhältnisse, die Dante zuvor gekonnt zum Tanzen gebracht hatte. Vielleicht tat er das aus Verunsicherung oder aus Karrierebewusstsein. Wer von einem konservativen System in jungen Jahren das Brandzeichen „Wunderkind“ auf die Stirn gedrückt erhält, ist notwendigerweise gehandicapt. Was bleibt, ist nicht mehr als das trügerische Schillern eines aus hohlen Zeichen zusammenspekulierten Werks.

 

Im Ballett sollte angesichts unserer radikal beschädigten Gegenwart wenigstens den zeitgenössischen, freien Künstlerınnen das Feld wieder freigeräumt werden. Dafür müssten auf deren Seite allerdings ganz viele vermeintliche Gewissheiten darüber, was auf die Gegenwart der Zehner Jahre passt, fallen. Die Antwort auf das traurige Ende der Scarlettschen Carmen kann nur ein Befreiungsschlag sein, mit Danteschen oder anderen, aber immer nur den verstörendsten Mitteln.

 

Fußnoten:

  1. ^ Carmen raucht „leichte Papelitos“, und der Icherzähler bringt bei seiner ersten Begegnung mit ihr den Zauber gemeinsamen Zigarettengenusses ins Spiel: „Unsere Rauchwolken vermengend, plauderten wir so lange, daß wir uns zuletzt beinahe allein auf dem Kai befanden.“ (Prosper Mérimée: Carmen. Zürich: Rascher & Co., 1920, S. 25). Die Zigarette war im 19. Jahrhundert aus ihrem Ursprungsland Mexiko über Spanien nach Frankreich gelangt.
  2. ^ Vgl. Brennan, Jason: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Berlin: Ullstein 2017. Vgl. auch Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt/Main 2008.
  3. ^ Im Ballett der vergangenen Jahre ist zu beobachten, dass die kritischen Publikumsschichten zunehmend von hedonistischen Kulturkonsumentınnen abgelöst werden, die Qualität und Details weniger Beachtung schenken als den virtuosen Elementen in einem Stück.
  4. ^ Alvis Hermanis genießt die Provokation seines expliziten Konservativismus: „Ich wäre gern ein großer Avantgardist wie Romeo Castellucci oder Christoph Schlingensief, aber ich habe einfach keine guten Ideen. Deshalb habe ich mich entschlossen, radikal altmodisch zu arbeiten.“ Interview für das Magazin Profil vom 3.9.2011, siehe: https://www.profil.at/home/theater-ich-305993
  5. ^ Jefta van Dinther im Cullberg Ballet bildet da eine seltene Ausnahme – aber diese Compagnie ist auch keine sparten-„typische“ Ballettformation. Und die Berufung von Sasha Waltz als Leiterin des Berliner Staatsballetts (zusammen mit Johannes Öhmann) ab 2019 hat eher den Charakter einer PR-Besetzung als den eines künstlerischen Experiments.
  6. ^ Anders als etwa Johan Inger in seiner 2015 mit der Madrider Compañía Nacional de Danza entstandenen Carmen, die der Autor im März 2017 im Festspielhaus St. Pölten gesehen hat.
  7. ^ Aus Die Presse online 9.12.2009: http://diepresse.com/home/kultur/klassik/527076/Scala_Pfiffe-fuer-teuflische-Inszenierung-von-Carmen
  8. ^ Aus Die Zeit online 10.12.2009: http://www.zeit.de/2009/51/Mailaender-Scala-Carmen

 

5.5.2017