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Dem Sterben ein Fest

“REQUIEM POUR L.” VON ALAIN PLATEL UND FABRIZIO CASSOL IM FESTSPIELHAUS ST. PÖLTEN

Von Helmut Ploebst

Eigentlich wollte ich über dieses Stück nicht schreiben und hatte bereits, bevor ich es mir im Festspielhaus St. Pölten angesehen habe, halb beschlossen, es sein zu lassen. Ein wenig anders dachte ich während der Zugfahrt zurück nach Wien. Da war ich so gut wie sicher, daß eine Besprechung nicht in Frage käme. Also habe ich zu Hause ferngesehen. Auf einem Privatsender lief David Finchers Seven aus dem Jahr 1995, unterbrochen durch geschätzt sieben Werbepausen.

 

Der Protagonist in dem Film nennt sich John Doe (das Äqivalent zum deutschen Hans Meier oder dem neoliberalen Max Mustermann). Sein großer innerer Auftrag ist es, die Welt durch exemplarische Morde auf ihre Schlechtigkeit aufmerksam zu machen. Also folgt er dem Muster der sieben Todsünden und bringt Menschen, die er für Inkarnationen von Eitelkeit, Habgier, Genußsucht, Völlerei und Faulheit hält, unter Foltern um. Sein vorletztes Opfer ist er selbst (Zorn), und er bringt einen der beiden Kriminalisten, die ihm auf den Fersen sind, dazu, ihn zu töten, denn dieser ist von Neid geradezu besessen.

 

Die unendliche Entspannung

 

Themenverwandt ist Seven mit Lars von Triers The House That Jack Built (2018), doch bei von Trier ist der Serienmörder in seinem Selbstverständnis nicht ein Richter, sondern eher Künstler. Fincher und von Trier liefern zwei Perspektiven auf den Werkbegriff des Tötens, doch das Sterben bleibt in beiden Filmen abstrakt. Ähnlich wie bei der Massenware all jener Geschichten über das Töten in der Krimiliteratur, im Kino, Fernsehen, Drama oder im Computerspiel. Darstellungen des Tötens erfreuen sich weit größerer Akzeptanz als etwa Darstellungen des Geschlechtsverkehrs. So hat sich die Ästhetisierung des Morde(n)s zur dominierenden popularkulturellen Komponente entwickelt. Das Zuschauen bei fiktionalisierten Tötungen trägt als beliebte Freizeitbeschäftigung zur Entspannung bei. Das Sterben als Vorgang dagegen wird entweder ausgeblendet oder lediglich angedeutet.

 

Nach dem moralisierenden Showdown von Seven mußte ich an das Sterben der Protagonistin in Requiem pour L. denken. Und daran, wie seltsam mir die Auftritte der Musiker vor der Filmleinwand erschienen, auf der eindreiviertel Stunden lang in Großprojektion Kopf und Schultern das Hinübergleiten einer Frau vom Leben in den Tod zu sehen ist, stumm, in Schwarzweiß und in der Ästhetik eines dokumentarischen Experimentalfilms. Jetzt, während des Schreibens, erinnere ich mich an den medialen Aufruhr, den 2008 die Ankündigung eines Projekts des deutschen Künstlers Gregor Schneider, einen Sterbenden oder einen toten Körper ausstellen zu wollen, ausgelöst hatte.

 

Tanzen auf Gräbern

 

Platel und Cassol haben es anders und, wie wohl allgemein gedacht wird, sensibler gemacht. Sie ließen während des Sterbeprozesses von L. eine Kamera mitlaufen. Der Bühnenraum im Stück symbolisiert eine Art Friedhof. Die Musikerınnen kommen aus Südafrika, Kongo und Belgien, und die Musik gestaltet eine „Feier des Lebens durch das Trauerritual“ (Platel). Requiem pour L. wurde nach seiner Uraufführung bei den Berliner Festspielen 2018 medial gefeiert. Tatsächlich können sich während der Performance sehr unterschiedliche Assoziationen einstellen. Die auf den (symbolischen) Gräbern musizierenden und tanzenden Künstlerınnen tun jedenfalls alles dafür, große Vitalität zu demonstrieren. Eine lange und berührende, über manche Strecke etwas gefühlig geratene Bemühung.

 

Doch die Metapher des Tanzens auf Gräbern hat auch – kulturübergreifend – eine andere Bedeutung: die des Triumphs über (getötete oder anders beseitigte) Gegner. Sobald in der Rezeption des Stücks dieses Bild auftaucht, gerät die Wahrnehmung der Performance in einen Konflikt, der die Situation grotesk erscheinen läßt. Dadurch vergrößert sich das Bild der Sterbenden, und die Aufführung davor schrumpft bedenklich. Die beabsichtigte und wohl tröstlich gemeinte Botschaft, diese Feier des Lebens in Form einer Performance für ein breites Publikum, verdünnt sich zur Oberfläche.

 

Eine ausgeglichene Benommenheit

 

Der Konflikt greift über auf das Bild. Es zeigt ein friedliches Sterben, so wie wir es uns wohl alle wünschen. Die Wirklichkeit des Sterbens jedoch ist vielschichtiger, beunruhigender. Denn Sterben kann auch eine Qual sein. Ein weiterer Konflikt taucht auf: Keine Ansicht, auch nicht die eines oder einer tatsächlich Sterbenden, kann den Prozeß des Sterbens wirklich erfassen. Das Publikum liest in den Gesichtszügen von L. inmitten ihrer Begleiterınnen, die rundum in Zeitlupe geistern, eine ausgeglichene Benommenheit, und sobald das Leben aus ihrem Körper weicht, öffnet sich L.s Mund.

 

Ich stelle mir vor, was gewesen wäre, hätten die Künstler auf die Show verzichtet und nur den Film gezeigt – zu einer Musik, die weniger aufgepeppt gewesen wäre als Fabrizio Cassols Bearbeitung von Mozarts Requiem. Bei diesem Gedanken wird klar, daß eine solche Arbeit das Kulturpublikum tiefer in die Sprache des Gesichts geführt hätte. Es wäre allerdings nicht getröstet, sondern jede und jeder für sich wäre auf sich selbst zurückverwiesen worden.

 

Sich auf den Tod freuen

 

Und das führt zur vorletzten Frage: Warum muß das Leben extra noch im Angesicht des Todes gefeiert werden, warum kann nicht – auch als Akt der Emanzipation – das Glück gefeiert werden, daß wir Menschen sterben dürfen und nicht für immer daseinsverpflichtet sind? Und das ohne die alte romantische Todessehnsucht, die ohnehin nur ein ästhetisch überhöhter Kulturromantizismus war. Wie kann man sich über das Leben freuen und auf den Tod genauso? Und können Sterbeprozesse wie Weihnachtsfeste erlebt werden mit dem schönsten Geschenk überhaupt, dem Übergang in eine große Gelöstheit?

 

Hier schließlich kommt Requiem pour L. wieder ins Spiel. Sieht man die gesamte Besetzung als Ansammlung von Figuren, die tatsächlich, so wie alle im Publikum, täglich ihrem Sterben entgegentanzen und dieses auch unweigerlich erreichen werden, dann könnte eine größere Aufmerksamkeit für das Sterben entstehen. Und eine Sterbekultur, die die letzten Momente im Leben eines Menschen für diesen so schön wie ein Weihnachten zu gestalten ermöglicht. Das möglicherweise ist besser als jeder Trost, denn wer sich auf den Tod freuen kann, wird vielleicht auch mit größerem Genuß leben. Andererseits müßte Fabrizio Cassol seine Musik für jene, die an einer Gräte ersticken oder in einem Auto verbrennen, wohl umschreiben.

 

Wenn möglich, ohne Trost

 

David Fincher und Lars von Trier halten hier die Balance. In ihren Filmen wird nicht friedlich weggedämmert, sondern gewaltsam gestorben. Die Vorstellung von einem langen, qualvollen oder besonders brutalen Sterben ist so grauenhaft, daß sie die Psyche vor sich hertreibt, und zugleich abstrakt genug, um die Balance des Lebendigseins aufrechtzuerhalten. Auch dieses kann – aus sehr unterschiedlichen Gründen – zur Qual werden. Daher muß es für den mündigen Menschen auch die Möglichkeit geben, den Zeitpunkt des eigenen Ablebens selbst zu bestimmen. In einigen Ländern wie der Schweiz oder den Niederlanden ist sogar Sterbehilfe möglich, in anderen, wie Österreich und Deutschland, nicht.

 

L. starb nicht aus freien Stücken, aber sie vermittelt im Film den Eindruck, daß sie frei und unbelastet gegangen ist. Ein Stück wie Platels und Cassols Requiem für sie kann dazu beitragen, die Verkrampfungen um das gerne verdrängte Thema Sterben und Tod etwas zu lockern. Daß ein solches Kunstwerk konflikthafte Elemente in sich trägt, sollte als Qualität betrachtet werden. Ich habe mich dann also doch dafür entschieden, über diese Arbeit zu schreiben, weil die Auseinandersetzung mit dem Sterben so wichtig ist und Platel/Cassol die Mündigkeit hatten, dieses Thema künstlerisch anzugehen. Ich würde Gregor Schneider übrigens dazu ermuntern, sein beargwöhntes Projekt doch noch umzusetzen. Wenn möglich, ohne Tanz, Gesang und Trost.

 

(25.2.2019)