Corpus Suche:

Glückliches Ende der Hoffnung

ONLINE-URAUFFÜHRUNG IM BERLINER HAU: “LIÚ” VON JASMIN IHRAÇ

Von Helmut Ploebst

Ja klar, alles fließt. Nicht nur das Wasser, auch die Lava. Das Leben selbst wird oft als ein am Ende meist zu kurz gewesener Fluß interpretiert. Auch der Zeit wird ein Fließen angedichtet. Und vielleicht ist der Kosmos ja ein überfließendes Meer, was ein hübsches Bild zur Erklärung jener „Dunklen Energie“ ergäbe, die unser Universum immer weiter auseinanderzieht. Eines Tages in sehr ferner Zukunft werden alle Galaxien und Sterne so weit voneinander entfernt sein, daß kein Lichtpunkt mehr am Nachthimmel blinkt.

 

Gustave Doré: „Fahrt über den Styx“, 1861
Foto: gemeinfrei

 

Aber jetzt sind sie noch da, und daher können am Beginn von liú, dem neuen Stück der 1981 in Köln geborenen Berliner Choreografin Jasmin Ihraç, noch viele Lichtpunkte durch die Bühnengalaxis des HAU 4 wirbeln, wo die Uraufführung pandemiebedingt auf Video gebannt und ins Netz gestreamt wurde. Ein Stück, dessen Titel 流 (= liú) ist, was eben Fließen bedeutet, strömt durch den virtuellen Raum zu seinem Publikum – was für ein schöner Zusammenfluß von Bedeutungen.

 

Ihraç – der Name ist türkisch und bedeutet auf Deutsch „Export“ oder „Ausschluß“ – hat ihre Arbeit als Trio angelegt, das sie gemeinsam mit David Mendez und Abel Navarro zur Musik von Renus Tabla und Elektronik tanzt. Anfangs möchte man meinen, das wird nach längerer Zeit wieder einmal eine Panta-Rhei-Choreografie, wie sie in der Tanzgeschichte nicht ganz unbekannt ist. Etwas über den Flow, in den Lebewesen geraten, wenn es gerade läuft – gut, so ist es üblicherweise gemeint, denn der negative Flow wird gern als „Rausch“ bezeichnet und im Tanz nicht so oft gezeigt.

 

Die Sprache und die Sterne

 

Den Flow gibt es natürlich auch im Schreiben. Autorınnen müssen sich zuweilen seiner Dynamik hingeben, und in so entstehenden Texten können durchaus überraschende Details auftauchen. Auf jeden Fall treffen im Schreibfluß zuweilen Wasser und Lava aufeinander. Dann kann es krachen und zischen. Es gibt auch destruktiv erscheinende Schreibflüsse, die in tabuisierte Zonen münden können. Auch dazu ist die Sprache da: Zuweilen entblößt sie die Wirklichkeit und dient dann nicht deren Einkleidung.

 

Anders als die Sprache und die Sterne ist der Tanz so gut wie immer positiv, schon gar auf den Bühnen der Gegenwart. Auch Sterne sind eine Wirklichkeit, und als solche gigantische Kernfusionsreaktoren, hitzige Monstren wie unsere liebe Sonne, die gerne freundlich scheint. Die glühenden Fluktuationen auf und innerhalb der Sonne bringen uns nicht um, weil die magnetfeldgeschützte Erde in einer „habitablen Zone“ um ihr Gestirn kreist. In einem Respektabstand sozusagen. Auch unsere Bühnen werden als bewohnbare Zonen angesehen. Jasmin Ihraç macht hier keine Ausnahme.

 

Bei liú bilden sich auf Lichtpunkte reduzierte Sterne in kosmischen Theaterrauchnebeln. Aus den Schwaden und Punkten erscheinen die Tänzerınnen, gekleidet in Hoodies, und erobern den Raum für sich. Das Stück ist ein Spiel mit dem Fließen des Lebens durch dessen Zeit, in dem auch die Mund-Nasen-Maske nicht fehlen darf. Und Eis, wie gefrorene Träume. Ihraç sucht nicht nur die Metapher des Fließens, sondern auch die des Fliegens auf. In unterschiedlichen Konstellationen hängen die Tänzerınnen an vom Rig heruntergelassenen Gummiseilen, also im umgekehrten Ikarus-Prinzip: nicht sich aufschwingen, sondern knapp über dem Boden abhängen.

 

Gefährliche Gemeinschaften

 

Das Gummiseil knarzt. Die Flugversuche bleiben wenig überraschend eher läppisch, auch wenn dies hier geradezu liebevoll schwebend formuliert wird. Menschen können eben weder fließen wie einzellige Schleimpilze noch fliegen. Dafür haben wir Mehrzellerınnen unsere zuweilen leichtfüßigen Phantasien und hochspringenden Vorstellungen, außerdem sind wir inwendig außerordentlich flüssig. Und wir können tanzen: Das ist die diskursive Äquivalenz zum Abheben, eine nicht gerade geringe Entschädigung für das Fehlen einer körperlichen Fähigkeit, um die wir Flughunde, Hornissen und gefiederte Sauriernachfahren wie zum Beispiel Spatzen – im Grunde grundlos – beneiden.

 

Neid ist übrigens etwas, das sich mit Tanz nur schwer darstellen läßt. Dafür läßt sich, wie in liú, ein Zusammensein ganz leicht darstellen. Nun sind menschliche Sozietäten bekanntlich gefährlich, weshalb sich gegenwärtig ganz viele Akteure aus allen möglichen Tätigkeitsbereichen um Themen wie Gemeinschaftlichkeit und Vergemeinschaftung bemühen. Das Zusammensein der drei Personen in Ihraçs Stück bleibt überwiegend harmonisch und beinahe provokant harmlos. Nur am Ende bricht etwas Dunkles über die friedvolle Flüssigkeit der Bewegungen dieser Trias herein. Etwas, das sie auf den nassen Boden klatscht und dort zerknetet, bis sie in der Finsternis eines „Big Freeze“ – so wird das letzte Stadium des kosmischen Auseinanderdriftens bezeichnet – verschwinden.

 

Dieses Ende kann möglicherweise als die Konsequenz eines Moments der Täuschung gelesen werden, der in liú einsetzt, sobald die Tänzerınnen ihre Masken ablegen. Dann sind ihre Gesichter zu sehen, und es dauert nicht lange, bis sich ein falsches Lächeln über die eine oder andere Miene zu ziehen beginnt. Eines, das bedrohlicher wirkt als selbst das Verschwinden der Figuren am Schluß. Wer als unverfrorene Zuschauerın diese Phase des schrecklichen Lächelns übersteht, wird sich von nichts mehr einschüchtern lassen. Auch nicht vom Ende der Hoffnung, die zwar zuletzt, aber – wie liú so schön vermittelt – eben doch stirbt.

 

(17. 03. 2021)