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Identität als Out

RACHAEL YOUNG UND DWAYNE ANTONY BEIM WIENER FESTIVAL IMPULSTANZ

Von Lina Paulitsch

Die Orange ist eine dankbare Symbolträgerin. Ihre Eigenschaften bieten einen wunderbaren Interpretationsspielraum. Von außen nach innen: Die harte Schale, mit feinen Poren übersät, darunter eine schwammig-weiße Hautschicht und schließlich das Fruchtfleisch selbst, eine mehrfach gespaltene Kugel. Saugt man den Saft aus dem Fleisch, bleibt nur ein Hautrest.


Dass die britische Performerin Rachael Young und der jamaikanische Choreograph Dwayne Antony der Orange einen zentralen Stellenwert in ihrer Performance Out einräumen, hat also schon seinen Grund. Der Mensch als „Frucht“ – nach außen hin gepanzert, mit süßen Versprechungen im Innern – kann durchaus aus seiner Zitrusexistenz geschält werden. Ist der Stücktitel Out metaphorisch gemeint? – Ein „Coming Out“ aus der Orangenschale?


Und außerdem: Das „Out“ impliziert ein Gegenüber, ein antagonistisches „In“. Wer befindet sich drinnen und wer draußen? Die Antwort auf diese Frage ist fundamental. Sie strukturiert nicht nur Gruppen, sondern auch die individuelle Persönlichkeit, die eigene Identität. Und sie ist zur Urfrage der Gesellschaftstheorie geworden, zum Brennstoff zahlreicher Debatten und Kontradiktionen. Sich im Gewirr der Rassismus-, Feminismus- und Gendertheorien zurecht zu finden, ist deshalb gar nicht so leicht. In der Folge soll ein theoriegeschichtlicher Rückblick zur Entwirrung beitragen. An Out kann gleichzeitig die seit Jahrzehnten gleichbleibende akademische Frage exemplifziert werden: Um welches Draußen geht es?


Exklusion als Vogelfreiheit


Wer staatliche Rechte garantiert bekommt und wer nicht, wer von Großtanten und -onkeln schief angeschaut wird und wer nicht – Exklusion kann öffentlich wie privat erfolgen. Und ist außerdem ständiger Begleiter, auch wenn Freiheit als Grundwert hochgehalten wird. Selbst die universal geltenden Menschenrechte sind weniger universal als sie scheinen, was Hannah Arendt als „Aporie der Menschenrechte“ bezeichnete. Nur als Staatsbürger bekomme man Grundrechte wie Freiheit und Gleichheit garantiert, Freiheit verliere ihre Bedeutung, wenn sie nicht durch das Gewaltenmonopol des Staates geschützt werde. Staatenlose, etwa Flüchtlinge, blieben damit vom „Recht, Rechte zu haben“ [1] ausgeschlossen. Das staatliche „Out“ erklärt sie als unfrei, sie sind dort tatsächlich vogelfrei.


Vogelfrei, schutzlos vor dem Blick der Zuschauer, scheinen auch die Performer Young und Antony. Kein Startschuss, kein Vorhang lässt Anfang und Ende der Performance erahnen. Laute Elektromusik betäubt die eintretende Zuschauerin, der Boden ist Bühne, wo bereits eine Art Work Out der Künstlerınnen stattfindet. Die beiden sind einheitlich gekleidet: Schwarze Unterhose, Stöckelschuhe, mit schwarzen Pasties sind männliche wie weibliche Brustwarzen überklebt. Der Bass dröhnt, allmählich ist die Publikumsarena voll, immer rhythmischer werden ihre Bewegungen, schließlich finden sie Synchronität. In die exotisch klingende Technomusik mischen sich Stimmen, die an (Hass-)Predigten aus vergangenen Zeiten erinnern. „Don’t hide what’s the best part of you“, schreit jemand. Young blickt starr ins Publikum, ihre Rastazöpfe wippen im Takt. Beide, Young und Antony, sind schwarz.


Identitätsmerkmal Hautfarbe: Die Beherrschung der Beherrschten


„Der Weiße ist in seine Weißheit eingesperrt. Der Schwarze in seine Schwarzheit“, schrieb Frantz Fanon 1952 in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken. [2] Out, das heißt in Youngs und Antonys Performance Antagonist zu sein, in der westlichen Welt vor allem: eine andere Hautfarbe zu haben.


Als Wegbereiter der Postcolonial Critique war Fanon einer der meistzitierten Theoretiker, wenn es um revolutionäre Befreiungskämpfe der Kolonisierten gegen ihre europäischen Besatzer ging. Geboren 1925 auf französischem Kolonialgebiet, der Insel Martinique, und ausgebildet in Frankreich, beschäftigte sich Fanon mit Fremd- und Selbstzuschreibungen der herrschenden und unterdrückten Klassen. Fanon durchlebte beide gesellschaftlichen Realitäten – der Kolonisierten und der Kolonialisten – und baute auf dieser Dualität seine Rassismustheorie auf. Schwarz und weiß stehen bei ihm in einem wechselseitigen Verhältnis, das mit der existenzialistischen Perspektive Jean-Paul Sartres theoretisiert wird.


Der Blick des anderen legt die eigene Identität fest, das Selbst wird durch die Anwesenheit eines Gegenübers objektiviert. Im gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnis des Kolonialismus bedeutet dies, dass der Farbige „auf Schwierigkeiten bei der Herausbildung seines Körperschemas stößt“, [3] da er durch den Blick des Weißen in ein Rassenschema gedrängt wird, dem eine „Geschichtlichkeit“  eingeschrieben ist. Der andere erkennt den fremden Körper nicht „in der dritten Person, sondern in der dreifachen Person“, [4] er denkt Vorfahren und rassifizierende Merkmale mit, nimmt keineswegs ein bloßes Indivduum wahr.


Das dialektische Moment Fanons besteht nun in einer Art Übertragung: Der objektivierende Blick des anderen wird vom Selbst übernommen und führt zu einer neuen Selbstwahrnehmung. Die „Kunst“ der Unterdrückung besteht in diesem Paradox, quasi in einem Stockholm-Syndrom: Rassismus produziert affirmative Gefühle der Beherrschten. Festgeschrieben und fremdbestimmt, kann der Status der Unterdrückung von den Unterdrückten selbst verkannt werden.


Identitätsmerkmal Gender: Frauen und Sexualität


Young und Antony bleiben in ständiger Bewegung, ihre Bewegungen sind abgehackt, wirken gar militaristisch und ziehen sich schmerzvoll in die Länge. Wie zwei Teile einer Maschine arbeiten ihre Körper immer weiter, bei fast unerträglich lauter Musik. Ein Mann, eine Frau, gleich gekleidet, simultan. Ihre optische Analogie lässt an eine weitere gesellschaftstheoretische Dimension denken: Geschlechterverhältnisse.


Eine geschichtliche Herleitung führt auch hier zum Existenzialismus, vor allem zu Simone de Beauvoir. Die Frau als Objekt, als durch den männlichen Blick festgeschrieben, wurde quasi parallel zu antirassistischen Überlegungen theoretisiert. Und trotzdem fehlte es an jeglicher Bezugnahme. Frauen kommen bei Fanon justament als Subjekte des männlichen Begehrens ins Spiel. Analyse von Unterdrückung auf der einen, Fortschreibung von weiblicher Unterdrückung auf der anderen Seite – diese Uneinlösbarkeit von Inklusion, diese Unausweichlichkeit von Fremdbestimmmung ziehen als Perpetuum Mobile ihre Kreise durch die gesamte Theoriegeschichte der westlichen Philosophie.


Denn auch in umgekehrter Weise wurden blinde Flecken innerhalb der feministischen Theorie reklamiert. Von farbigen Frauen, die zu Recht die grundlegenden Differenzen in der erlebten Erfahrung von weißen beziehungsweise schwarzen Frauen feststellten. Feministische Denkerinnen der 60er- und 70er-Jahre hatten sich auf Lebensrealitäten berufen, in denen die Hausfrau aus der weißen Mittelschicht in der patriachal strukturierten Gesellschaft objektiviert wird. Dass sich Objektivierungsmechanismen für farbige Frauen in zweifacher Zuschreibung äußern, konnte in Folge der Kritik mit dem Ansatz der Intersektionalität begriffen werden. Wie auf einer Straßenkreuzung überschneiden sich unterschiedliche Kategorien der Exklusion und schaukeln einander gegenseitig hoch. Die afroamerikanische Soziologin Patricia Hill Collins spricht von „interlocking structures of oppression“, wobei die Kategorien „race, class and gender“ [5] als prägendste Faktoren geselllschaftlicher Positionierung definiert werden.


Von der Frauenbewegung der 60er- und 70er-Jahre sind wiederum die heutigen Gender Studies zu unterscheiden. Der Begriff „gender“ zielt ja nicht nur auf das Strukturmerkmal Weiblichkeit, sondern soll Heteronormativität umfassend thematisieren. Seit den 1990er-Jahren stellt die Queer Theory die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit ins Zentrum ihrer Überlegungen, einer rein biologisch bestimmten, bipolaren Identität von Mann oder Frau wird Absage erteilt. Eingelassen in Machtstrukturen und Normen, ist auch Sexualität ein Produkt derjenigen Gesellschaft, in der sie erfahren wird. Von vielen Theoretikern vormals negiert, rücken in der Queer Theory Homo-, Trans- und Intersexualität in den Analyserahmen.


Die Queer-of-Colour Critique sprach dann paradoxe Situationen an, wo sich zum Beispiel farbige Homosexuelle dazu gedrängt sahen, sich für eine dominante Identität entscheiden zu müssen. Während man dem oben beschriebenen Intersektionalitätsansatz vorwarf, Sexualität als Kategorie völlig auszuklammern, kritisierte man an der Queer Theory umgekehrt die Auslassung rassistischer Diskriminierung. In der Queer-of-Color Critique finden diese verschiedenen Ansätze am ehesten zusammen.


Kritik der Selbstverwirklichung: Eine Frage der Klasse


Nach Voguing und Catwalk lassen sich Antony und Young gegen Ende der Performance auf Baumstämmen nieder. Nun kommt die Orange ins Spiel. Über mehrere Minuten hinweg schälen und essen die Künstlerınnen mehrere Früchte, saugen sie aus, ihr Saft duftet verführerisch. Das im sommerlichen Wiener Kasino am Schwarzenbergplatz bei 35 Grad schwitzende Publikum lechzt, die Orangen werden gespalten, an die Zuschauer verteilt. Eine Wohltat. Womöglich Umverteilung? Eine Art ironischer Sozialismus?


Interessant ist die Debattengeschichte rund um Exklusionstheorien vor allem, weil sie als Ganzes stark kritisiert wird, formuliert als marxistische Kritik der Postmoderne. Sowohl die Postcolonial Studies als auch die Gender Studies entstammen augenscheinlich dem „Post-Diskurs“, dem der „linguistic turn“ zu Grunde liegt. Diese Wende bedeutete vor allem eine Verschiebung: Nicht länger wurden ökonomische Faktoren als Hauptkonstante gesellschaftlicher „Wirklichkeit“ begriffen, wie dies der Marxismus mit seinem Klassenbegriff getan hatte. Der linguistische Paradigmenwechsel der 1980er-Jahre setzt vielmehr voraus, dass sprachliche Diskurse und kulturelle Leistungen eine Gesellschaft und die individuelle Identität hervorbringen. Ebenso wie es im Poststrukturalismus nicht die „eine“ Realität gibt, ist auch Identität ein fluktuierendes Produkt, das über sprachliche Zuschreibungen und Zitate funktioniert  – inklusive Diskursen der Diskriminierung und Exklusion.


Was nun von marxistisch geprägten Theoretikern eingewendet wird: Die Gründe für Diskriminierung liegen zuallererst in den materiellen Verhältnissen der Gesellschaft. Wer einer bestimmten Schicht angehört, bezieht seine Erfahrungen primär aus den Umständen seiner sozialen Zugehörigkeit – andere Kategorien seien stigmatisierend, aber womöglich erst durch die jeweilige „Klasse“ geprägt. Die verschiedenen Exklusionserfahrungen finden in einem sie determinierenden Rahmen statt: in der „durch Lohnarbeit vermittelten Gesellschaft“. [6] Außerdem, so die Kritik, würde der postrukturalistische Diskurs der akademischen Linken entspringen, die ihre eigene ökonomische Privilegiertheit nicht miteinbeziehe.


Die mannigfaltigen Identitäten der Post-Diskurse werden aus marxistischer Perspektive auf einen gemeinsamen Nenner – die Klasse – gebracht, der Gesellschaften übersichtlich strukturiert und vor allem den revolutionären Befreiungskampf des Subjekts denken lässt. Denn: Zwar verneint der Poststrukturalismus starre Kategorien; die eigene Identität unterliegt ständig neuen Zu- und Einflüssen. Wenn sich allerdings jeder und jede über den Unterschied definiert, werden Individualität und Individualisierung einzementiert: In unterschiedlichen Lebenswelten soll sich das postmoderne Subjekt selbst verwirklichen und seine spezifische Identität finden, sich nicht über seine Klassenzugehörigkeit definieren. Das klingt dann eher nach „rags-to-riches“-neoliberaler Politik als nach linkem Gleichheitsstreben. Die marxistische Kritik sieht diesen Zusammenhang übrigens als durchaus strukturell.


Out bewegt sich also in einem dichten Diskursdschungel. Und lässt alles offen. Als Zuseherın von Out wird man sich selbst überlassen, denn: Um welches exkludierende Merkmal es geht, bleibt unausgesprochen. Vielleicht bedeutet das „Out“ auch einfach das „Draußen“-halten von neuen Zuschreibungen und Dogmen? Dass hier gar keine Theorie, gar keine Identität passend ist? Wie die Dutzenden von Orangen, die am Boden umherkollern, sind Menschen doch vor allem eines: gleich.

Fußnoten:

  1. ^ Arendt, Hannah: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht. Erschienen in „Die Wandlung“, 4. Jg., Herbstheft 1949, Dezember 1949, S. 754-770. (URL: http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/154/274)
  2. ^ Fanon, Frantz: „Schwarze Haut, weiße Masken“. Wien: Turia + Kant, 2013. S. 10.
  3. ^ Fanon, Frantz: Ibid., S. 102.
  4. ^ Fanon, Frantz: Ibid., S. 104.
  5. ^ Hill Collins, Patricia: Symposium on West and Fenstermaker's "Doing Difference". In: Gender & Society 9/4, 1995. S. 492.
  6. ^ Berg, Philipp; Heß, Julian (Hg.): Zur Kritik des Poststrukturalismus. Ringvorlesung zur Wissenschaftskritik. Darmstadt: AstA TU Darmstadt, 2014. S. 48.

 

(17.9.2017)