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between a rock and a hard place
Philipp Gehmachers “Die Dinge der Welt” im Tanzquartier Wien
Philipp Gehmachers durational Performance-Installation Die Dinge der Welt (2017) [1] ermöglicht, erfordert eine Positionierung. Die Zuschauerınnen dieser fünfstündigen Solo-Choreographie und zugleich Ausstellung, die sich auf der Bühne und im Auditorium der Tanzquartier-Halle G frei bewegen können, sind Zeugenınnen einer neuen, singulären, verausgabenden raumzeitlichen Versuchsanordnung.
I’m obsessed with time and age
I’m obsessed with time and age, sagt in Die Dinge der Welt der überraschend wasserstoffblonde Choreograph und bildende Künstler – zwischen den Zeiten unseres Weiß/Weisewerdens. Hier zunächst ein Mini-Parcours durch Gehmachers Arbeiten, sofern sie als choreographische Dinge, als epistemische Dinge auch in seiner jüngsten Performance zitiert werden, in der immer wieder das Zitieren, Aufzählen, Auflisten, Timen, Abhandenkommen vorkommt.
Also in the absence (1999) – fremd im eigenen Körper, ein ausgestreckter Arm als Standphoto seiner selbst. Stills durchsetzen die Bewegung und Gesten des Unzustellbaren, die jede Gegebenheit zurücknehmen. Gesten, zugleich zu groß und zu klein, die sich nur verhalten verhalten, wenn überhaupt. Der Körper entlang eines Begehrens umarmt immer nur seine eigene Leerstelle, hält sie fest. Wie viele Hände braucht eine Umarmung? Und wie viel ist good enough (2001)?
Der zurückgehaltene Gestus von Pathos und Melancholie verhandelt das Inkommensurable des Anderen, Nothing compares 2 you (2002): Unerhört entfernt diese Hände, Arme, so fremd getragen, als wären sie verbrannt. Gesten zwischen Stilisierung und Selbstvergessenheit. Konzeptuelle Strenge: Mountains are Mountains (2003): Tautologie, die Reste evoziert. Gesten, so klein, dass sie ihre Abwesenheit berühren, als wären sie noch gar nicht da, als wären sie in einem oder vielmehr selbst ein incubator (2004).
Diese kleinen Gesten sind zugleich so groß, dass sie reißen, als adressierten sie die Ewigkeit – Maybe forever (2007) – zugleich ekstatisch und reglos, verhalten und verausgabend: like there’s no tomorrow (2007). Endpunkte. dead reckoning (2009): laufende Ortsbestimmung des bewegten Körpers, die keine absoluten Fixpunkte außerhalb des Körpers verwendet, Choreographie als diese paradoxe Navigation, als Vermessung, Vermutung, Mutmaßung, ex-zentrisch, rhizomatisch.
Die Übersicht wird stets neu verteilt und vereitelt, sie ist uns abhandengekommen. Was bleibt, sind Gesten und Räume als fault lines (2010) – als konfuse, drohende Verwerfungslinien. Der geteilte Raum wird immer neu umgestülpt, multipliziert, gefaltet, gehäutet – nie bis zur letzten Oberfläche, mehrere Oberflächen an einem Ort: Heterotopische Versuchsanordnung, als würde die Bewegung den Raum schälen. Die Sicht: nur ein Vexierbild ihrer selbst in unserer in Komplexität kollabierenden Welt.
Und wir – aneinander entlang, mit- und durcheinander, wie Philipp Gehmachers Arbeiten selbst aneinander entlang, jedes Stück die Distanz zum nächsten berührend, verwerfend, at arm’s length (2010), nichtgegebenen Benennungen hingegeben, gewidmet, in their name (2010). Die Pronomen also, my shapes, your words, their grey (2013), Pronomen, die sich der dramatischen Zugehörigkeit entziehen: There is no point in beeing dramatic. I’m done with apologizing, zitiert Gehmacher in my shapes… einen anderen, auch wenn er vielleicht, wie er hinzufügt, es selber hätte sagen sollen.
My things, our things
Und das ist wiederum die paradox ‚nichtkonfessionelle‘ Zitat-Struktur in Die Dinge der Welt – keine Bekenntnisse, zugleich intim, intakt, integer, intensiv und intransparent, der Selbstdurchsichtigkeit, der Übersicht, der Zugehörigkeit entzogen. Am Anfang die Negation: It’s not called The world of things, sagt er. The title is: The things of the world. What things? My things, our things. But who am I to speak of ‚us‘? Das Hinterfragen der Instanz, der Autorisierung.
The things of the world. What world? Our little European world. The globe becomes a global situation today. In today’s world things have become situations. No matters of fact but matters of concern. Die Dinge sind hier at stake, indem sie on stage sind – obsessed with age. Der Körper wird zum Kompass des Raums – und der Zeit: Eine durational Performance-Installation, immer neu der Kontrolle, der Probe, der Durchsicht entzogen, jeder Abend ihre Dinge neu aufteilend, auflistend (you have to care about so many things) – und gerade so atemberaubend kontrolliert und probend, durchgesehen und nicht durchsichtig.
Nicht transparent auch die intensive Interferenz zwischen Sprache und Bewegung: Körper und Zunge als Dinge, die in einer ihnen fremden Sprache zögern, zweifeln, Tourettes’ Syndrom, Korporalie, keine Echolalie, während die Gesten die Worte austesten, ausprobieren, ausspionieren anstatt sie zu kommentieren. Noch weniger kommentieren die Worte die Gesten. Jedes Wort vielmehr zögernder Spion und zugleich Pionier seiner selbst, Worte noch nicht und nicht mehr in time, Worte im Training. Auch jede Geste – kontaminiert mit der eigenen Negation. Aber wer spricht hier, wer zögert, wer adressiert? Was streckt den Arm und nimmt diese Bewegung zugleich zurück?
I o u, u o me
Wer choreographiert die Dinge und wie sie uns? Wie die Dinge neu denken? Wie sie ohne Esoterik zum Sprechen bringen und mit welchem Organ ihre anderen Organisation orten? OOO. (Object oriented ontology) I o u, u o me. Als ob die Dinge an Wörtern wie an Marionettenfäden hängen und zugleich aber daran ziehen – und uns dadurch den Boden unter den Füssen wegziehen, unnütz, good for nothing, good enough.
Und plötzlich diese Lesbarkeit: eine beiläufige Geste ‚Daumen hoch‘ geht übergangslos in ein Abzählen an den fünf Fingern über: Beide Gesten entziehen sich aber der Dechiffrierung, sind Teile gar keiner Chiffre. Körperschrift ohne Chiffre, ohne Codes. I’m actually quite happy, sagt er – und sein kleiner Hüpfer denkt gar nicht an Freudensprünge, bleibt hängen, an der Wand, an den Wänden, an den Einwänden.
Philipp zitiert eine unbekannte ,sie‘, noch eine, dann einen unbekannten ,er‘: She said to me: you can try to work on abstraction without a loss of humanity. Another she said: artists are not the solution, they are part of the problem. Das plötzlich laute akustische Material (minimalistische Komposition, Sound: Gérald Kurdian) zwingt ihn, den Satz, mit dem er nicht zurechtkommt, nochmals zu sagen, zu schreien: es gibt also ein Problem (artists are part of the problem). He said: try to define your own position and let them review theirs. Die abverlangte Positionierung, seine, unsere.
Erzählung und Zitat erzittern am Saum ihrer verabsäumten Konturen, ‚konfessionslos‘. Und doch ist die Struktur lesbar: Sprechen ins Tanzen ins Sprechen. Und doch gehen Tanz und Sprache nicht einfach ineinander über, vielmehr übergehen sie einander, lösen sich ineinander auf, aber einander brechend, um in keiner Transparenz, Dechiffrierung ineinander aufzugehen. I’m not the one having the overview. Kein Überblick, vielmehr das Auflisten: no more stones, no more rocks, no more walls, no more lists (but more of other things), listet er ein paradoxes Manifest auf.
In den Tanzsequenzen entgeht der Körper seinen Gesten, sucht kniend ein Oben – aber ohne Transzendenz. Die Arme rahmen den Raum, während die Bewegung kniet. Gehandicapt. Die Hände schmuggeln ihre ungesetzlichen Gesten, die sich setzen, während der Körper im Still eines knienden Berges verharrt – die Hände überm Kopf zur Bergspitze zusammengefügt wie in Philipp Gehmachers choreographischem Vortrag des Gedichts Ich ersehne die Alpen (2015). Mountains are Mountains. Als könnten wir auf den Knien des eigenen Herzens sprechen (wie Kleist an Goethe). My hands, they were strong but my knees were far too weak to stand in your arms without falling to your feet.
Körpervermessen des Raumes. Wer vermisst hier was? Was vermisst hier wen? Verstört, autistisch, albino, outside – des Raums, des Körpers. No inside des Spiegels. No outside der Kulisse, no beside der Wand, der weißen z.B., die den Bühnenraum partiell teilt – damit wir wiederum den Raum mit dem Performer teilen, müssen wir uns selbst bewegen, wenn er die Wandseite wechselt. Try to define your own position and let them review theirs.
Grauraum
Das Stück Wand also, die Objekte also, die weich oder weiß oder grau oder rau oder anders, vertikal oder horizontal die Bewegungsvertikalen und -horizontalen apostrophieren (Raum und Objekte: Philipp Gehmacher und Astrid Wagner). Hier nur eines davon:
Die Sonnenbank, ein weißer Storch – aber welcher Frühling, welches Opfer? Mit seiner umgekehrten Gitterstruktur korrespondiert das Ding vage mit dem riesigen Bildgestell im früheren Stück my shapes, your words, their grey, mit dem Rücken zum Publikum wie Velázquez’ Staffelei in Las Meninas in Foucaults Die Ordnung der Dinge. Im Original: Les mots et les choses. Wieder die Wörter und die Dinge. Am Rande welcher Benennung sind wir angekommen? Die Dinge der Welt.
Wieder dieses Ding also – ein Konvexspiegel von Plan-Konvex-Scheinwerfern angestrahlt, Parmigianino, Selbstportrait im Konvexspiegel. Das choreographisch gespiegelte Ich steht neben sich, der Mensch mit seinen Ticks steht neben dem weißen Ding, das zu ticken beginnt, eine Uhr, eine Sonnenuhr, ein Solarkollektor, seine Sonnen die Scheinwerfer (präzise Lichtregie: Victor Duran) – welches Licht wird gesammelt, absorbiert, in welche Energie umgewandelt? Ein Kabel ist hier abgeschnitten, Diskonnektion. Nicht anzuschauen ein Solarkollektor, der uns sonst erblinden lassen würde, erstarren, Medusa.
Irgendwann ist Gehmachers Körper selbst der Storch, der auf einem Bein balanciert, selbst ein Solarkollektor, doch welche Energie ist hier am Rande welcher Darstellbarkeit, Herstellbarkeit, Generierung angekommen? Am Rande welcher Reflexion? Wer reflektiert was? Was wen? Das graue T-Shirt zu breit, ein Grauraum für den Körper, die Leinwand hochgezogen, den Arm entblößt und fremd. The screen, the sceen, the cube, the box, the white, the black, the grey. No pre-, no post-, just grey, presenting itself, sagt Gehmacher (der sein Studio Grauraum nannte) in my shapes, your words, their grey.
Mindestens so viele Bühnen wie Objekte. I like wall dancing, sagt er, angelehnt an der weißen Wand, seine Graphik, seine Choreographie an die Wand werfend. Das Stück weiße Wand vom fehlenden white cube, eine hohe, grau-grüne Skulptur als Gürtel-Vorhang, der eine fehlende black box umschließt. The real sculpture stands freely, on his feet. Ein Stein, relativ-theoretisch, hard rock, dancing between a rock and a hard place, an idiom. Und die hautfarbene Matratze, ein liegender Körper, auf dem sich nur der Kopf des Performers gegen Ende der fünf Stunden für zwei kurze Momente ausruht.
The thing is just a gathering
Die Dauer. Die Hände, wildgewordene Metronome, die erhoben ticken, nicht verrückt, das Zögern auf der Stelle, das die Zeit zäsuriert und die Ausführung, die Ausführlichkeit zensiert. Der Performer sagt: You don’t need to... und hört auf. Mehrfach diese Zäsuren. Das Unausgesprochene verstummt, löst sich in eine unsagbare Geste auf. Existenziell. I’m running for my life here, sagt Gehmacher in seiner Arbeit gerade mit dem Titel: Say something (2013).
Immer wieder die Hände vorm Gesicht, immer wieder reiben sie die Augen, die Welt reibt ihre Bilder an unseren Augen. Unsere Blindheit. Maybe it is about shame. My stories are a way of shutting my eyes. Menschen verfügen über die Möglichkeit, nicht zu sehen, Dunkelheit ist die Farbe der Potentialität, so Giorgio Agamben. Some professors teach with sunglasses. Das akademische Solarium, das universitäre Solarkollektorsystem. No more Zentralperspektive, no more overview.
Keine entzifferbaren Codes, keine Transparenz, die uns und die Dinge angeblich zu einem wahren Selbst zurückführt, kein Phantasma völliger Selbstdurchsichtigkeit, die in unserer Open Source-Gesellschaft so gefragt ist, so Emmanuel Alloa. Die Übersicht lässt uns die Dinge übersehen. Ein unmittelbarer Zugang zu den Dingen würde Entität voraussetzen. Aber: I like parts, sagt Philipp Gehmacher. I don’t like sections, you always know that they will end. Parts just lying around. Der Arm findet sich wieder ganz oben, aber von wem gehoben, von wem separiert?
Gegen Ende sitzt er am weißen Wandstück angelehnt und zieht mit dem Arm große Kreise um sich. Fehlgeschlagene Umarmungen ohne Umarmtes: ein Zitat aus the fault lines. Querschnitt einer nie stattgefundenen und doch erinnerten Umarmung, an die Wand gestellt. Ein Semaphor, Winksignal und Uhrwerk wieder. Wer tickt hier – anders? I’m obsessed with time and age. I like parts. Die Teile, die Solarzellen des Solarmoduls.
What is a part? What is a thing? The thing is just a gathering. Der Ernst, mit dem Philipp Gehmacher unsere Unmöglichkeiten in die Aporie des Ironischen führt – und loslässt. The nice thing about things is: you can let them go. Let the things alone. Kids, things, art works. The paradox thing about the visual arts is: anything is already something. A thing is just a gathering: das Sammeln, das Akkumulieren der Dinge und ihrer Namen, das Akkumulieren des Materials:
Die Dinge der Welt, das Theater der Welt, das Haus der Kulturen Welt, die Akademie der Künste der Welt, die Weltuniversität der angewandten, zugewandten, abgewandten Künste, die List einer paradoxen Liste, die Leerstellen und Lehrstellen aufzählt, überlagert, künstlerische wie universitäre Institutionen als Lehr- und Leerstellen aneinanderreiht und reimt.
The things – I feel sometimes apart from / a part of them. Das aparte ,Gesetz des Berührens ist Trennung‘ (Jean-Luc Nancy). Separat sein, um Teil zu sein, nicht mittun, um mitzusein. The thing is just a gathering. Die Versammlung, das Zusammensein. You keep the things at distance, they keep you at distance. Vielleicht at arm’s length. Und erst so – a part of them.
Fußnoten:
- ^ Die erste Version von Die Dinge der Welt wurde als Ausstellung und darin stattfindenden einstündigen Performances beim Steirischen Herbst 2016 gezeigt. Die an zwei aufeinanderfolgenden Tagen für jemals knapp fünf Stunden realisierte zweite Version hat das Tanzquartier Wien am 27. und 28. Januar 2017 gezeigt.
(7.3.2016)