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Glasnost des Bösen

OLEG SOULIMENKO AM RAND VON “SWIMMING POOL”

Von Helmut Ploebst

Noch am 21. Dezember 2017 treffen Oleg Soulimenko und ich uns im Foyer des Wiener Jörgerbades zum Interview. Im Jänner 2018 zeigt der russisch-österreichische Choreograf für das Wiener Brut Theater in der Schwimmhalle dieses Bades seine neue Performance Swimming Pool. Die Zusammenhänge unseres Treffens sind reichhaltig. Als symbolische Geste schien es richtig, Soulimenko, der 1960 in Moskau geboren ist, noch im 100. Jubiläumsjahr der Oktoberrevolution zu treffen. Das Jörgerbad wurde 1914 eröffnet, als Österreich den Ersten Weltkrieg anzettelte, in dem die Monarchien Österreich-Ungarns und Russlands einander feindlich gegenüberstanden. Und Swimming Pool ist 2018 zu sehen, also im Jahr hundert nach Kriegsende.

 

1917 und 1918 hat der Suprematist Kasimir Malewitsch seine Serie der Schwarzen Bilder geschaffen – damit sei an die Russische Avantgarde erinnert und daran, dass sich Kunst niemals an politische Machtgefüge binden wollen darf, egal wie vielversprechend „revolutionär“ diese sich aufführen. Ich nehme mir vor, Soulimenko, den ich als Künstler 1996 kennengelernt habe, weder auf die Oktoberrevolution noch auf die Russische Avantgarde anzusprechen.

 

Als ich ihn im Schwimmbad-Foyer erblicke, bilde ich mir ein, dass wir beide unseren Kleidungsstil seit damals nur unwesentlich verändert haben. Sobald wir an einem der Foyer-Tische sitzen, frage ich, was er damit beabsichtige, seine nächste Performance nicht in einem Theater oder sonstwo im Trockenen, sondern in einem Schwimmbad umzusetzen. „Ich habe zum einen daran gearbeitet, meine eigene Form von Ritual zu entwickeln“, sagt er nach einigem Zögern, „und mich für die Zeremonie interessiert, für Transparenz. Transparenz zunächst als optischer Effekt und dann als Gegenstand von Philosophie. Die soziale Dimension, nicht die politische – weil es in Russland jetzt seltsam ist, über Transparenz zu sprechen.“ Soulimenko lacht, aber nicht aus Belustigung. Obwohl er seinen Lebensmittelpunkt schon lange in Wien hat, gehört Russland immer noch zu seiner Lebensrealität. „Glasnost ist vorbei“, sage ich. Soulimenko: „Dieses Wort verwendet heute kein Russe mehr im sozialen oder politischen Zusammenhang. Für die Kunst hat das in den Neunzigern gegolten, als die Perestrojka begann.“

 

Wasser reicht überallhin

 

Was er aus der Philosophie gelernt habe, setzt er fort, sei, dass eigentlich „nichts transparent ist. Alles befindet sich hinter einem Zeichensystem, durch das niemand schauen kann. Boris Groys zum Beispiel meint, dass man heute hinter der Sprache in der Kunst nichts sehen kann. Darüber wird, soweit ich verstehe, viel spekuliert. Außerdem schrieb der französische Philosoph Jean Baudrillard – und das mag ich, weil es in Verbindung mit meiner Praxis in der Arbeit mit Wasser steht –, dass das Böse die Idee der Transparenz aufgreift, um selbst transparent und flüssig zu werden und sich so zu verbergen.“ – Vergleiche in Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Auf der Rückseite der deutschen Übersetzung, die 1992 bei Merve erschienen ist, steht in Handschrift zu lesen: „cette Glasnost d’enfer!“

 

"Swimming Pool", Oleg Soulimenko, Jörgerbad / Brut Theater Wien, Jänner 2018                                                                   Foto: Vance Gellert

 

„Wasser ist für mich mit Grenzen- und Endlosigkeit verbunden. Wenn man sich in der Küche ein Glas mit Wasser aus der Leitung füllt, weiß man, es ist mit weiterem Wasser verbunden, das wieder mit anderem Wasser in Verbindung ist und so weiter, über Ozeane bis hin zum Weltraum. Und nun beginne ich mich für den Russischen Kosmismus zu interessieren, für den der Körper wichtiger war als der Geist, und in dem der Körper als mit allem verbunden gesehen wurde. Da war sogar das Sterben etwas Positives, denn der Raum wird deine Atome weiter nutzen, und man lebt gewissermaßen weiter. Daraus kam eine Art Philosophie, die besagte, dass sich die Körper nach dem Tod im Raum wieder materialisieren.“ So bringt Oleg Soulimenko die Avantgarde von sich aus zur Sprache. Denn innerhalb dieser entwickelte sich der Russische Kosmismus während der 1920er Jahre. Das Berliner Haus der Kulturen der Welt hat dieser Bewegung übrigens erst 2017 eine ganze Ausstellung gewidmet, die Publikation dazu erscheint im März 2018 bei Matthes & Seitz.

 

„Was ich sagen will, ist, dass hier ein Zusammenhang mit dem Wasser besteht, der sozusagen überallhin reicht. Bis hin zu anderen Planeten, habe ich das Gefühl. Und ich selbst bin ja auch immer gern geschwommen und getaucht. Wenn ich unter Wasser schwimme, habe ich oft diese Begegnung mit meinem Unbewussten, mit Dingen, die man nicht über sich selbst weiß. Das ist unheimlich, überraschend und vermittelt zugleich Sicherheit. Wasser trägt mich auch, und Empfindungen von Schmerz und Gewicht scheinen darin leicht zu werden. Vor vielen Jahren, als es die Zusammenarbeit mit Lux Flux noch gab, bin ich jeden Tag nach Kaisermühlen schwimmen gegangen, bevor wir gemeinsamen – ich glaube, es war Neznajka – performt haben. Und nach dem Schwimmen hatte ich immer das Gefühl, ich bin mit allem verbunden.“

 

Entgrenzter Körper

 

Von 1996 bis 2001 hatten Oleg Soulimenko und Andrej Andrianov als Saira Blanche Theatre aus Moskau mit der Wiener Gruppe Lux Flux (Inge Kaindlstorfer, Jack Hauser, Annette Pfefferkorn, David Ender) zusammengearbeitet. Neznajka war ein Performanceprojekt, das 1998 beim Festival Impulstanz in den damals noch existierenden Wiener Sofiensälen gezeigt wurde. „Jetzt bin ich zufällig durch ein Fotoprojekt wieder auf das Wasser zurückgekommen, wir haben erst im leeren Amalienbad fotografiert, und dann hier im Jörgerbad – ich war nie zuvor in normaler Kleidung in einem menschenleeren Schwimmbad. Das sind irrsinnige Sinneseindrücke für den Körper, ob angezogen außerhalb des Beckens oder nackt im Wasser! Vor allem in dieser Art Schloss oder Kirche, wie das Innere des Jörgerbades wirkt. Und ich dachte, wie kann ich diese Sensualität in einem Kunstprojekt erforschen und teilen. Dieses kultivierte Wasser, das mit Wien, den Kanälen von Wien, verbunden ist, und diese Art Mikroklima mitten in der Stadt, da ist es immer warm, und die Zeit scheint zum Stillstand zu kommen. Dabei gibt es überall Uhren! Das Leben scheint stillzustehen...“

 

„...in diesem Raumschiff?“ – „Absolut. An diese Metapher habe ich auch gedacht. Vor allem, wenn es draußen dunkel wird, sieht dieses Jörgerbad wie ein Raumschiff aus. Das hat mich an Andrej Tarkowskij erinnert, an Filme wie Stalker – oder vor allem Solaris, mit dem Planeten, der zur Gänze aus einem intelligenten Ozean besteht. Dieser Ozean liest in seinen menschlichen Besuchern und materialisiert ihr Unbewusstes, das ja zuweilen auch unangenehme Gedanken birgt. Einen ähnlichen Eindruck hatte ich beim Schwimmen vor allem in natürlichen Gewässern auch immer wieder: dass ich auf etwas treffe, über das ich nicht so viel weiß. Und du spürst, dass du auch mit einer Art anderer Kreatur in Verbindung trittst. Der Körper entgrenzt sich...“

 

Ich will wissen, ob Swimming Pool mit früheren Arbeiten verbunden ist. „Ja, ich denke, in gewissem Sinn mit Loss, das ich zusammen mit dem bildenden Künstler Alfredo Barsuglia und der Tänzerin Jasmin Hoffer gemacht habe. [Anm.: Uraufführung im Wiener Brut Theater am 16. Februar 2017] Ein eher poetisches Stück, in dem mit Material gespielt wird – eher abstrakt, ohne offenkundige Geschichte. Es ging auch hier sehr um Sensualität, den Kontakt des Körpers mit spezifischem ,Gewebe‘ und darum, wie dieses in einem bestimmten Verhältnis zu Raum und Zeit auf den Kontakt mit dem Körper reagiert, welche Bedeutungen oder Assoziationen das erzeugt.“

 

"LOSS", Oleg Soulimenko mit Alfredo Barsuglia und Jasmin Hoffer; PACT Zollverein, Essen, 2017                                        Foto: Katalin Erdödi

 

„Aber Loss verweist auf die Erfahrung von Verlust, während die Bezeichnung Swimming Pool sich neutral auf die Umgebung bezieht, in der sich das Ereignis der Performance umsetzt.“ – „Ja, Loss verweist auf etwas, das heraus will, Swimming Pool ist ruhiger, eine trügerische Ruhe. Im Russischen sagen wir: In klarem Wasser wohnt das Böse.“ Hier bezieht sich Soulimenko auf das russische Sprichwort В тихом омуте черти водятся – ,In stillen Gewässern hausen die Teufel‘ – das im Deutschen seine Entsprechung als ,Stille Wasser sind tief‘ hat. „Das nehmen wir auf. Im Wasser erscheint das Wilde weicher. Am Anfang der Entwicklung von Swimming Pool wollte ich mehr Rauheit, Hässliches und Trash einbringen. Aber es ist überraschend, wie die Atmosphäre eines Schwimmbades all das sehr sanft dämpft oder aufsaugt. Das muss mit der Masse des Wassers zusammenhängen.“ Wie Loss sei auch Swimming Pool kein Stück, das nach einem Konzept umgesetzt wird, sondern in seiner Entwicklung ein Forschungsprozess.

 

Mitten in den großen Aufbruch

 

Soulimenkos künstlerische Biografie ist ein seit nunmehr 28 Jahren währende, ununterbrochene Forschung. Vor zwanzig Jahren war er mehr und mehr in Österreich eingesickert. Uber seine Ankunft und Aktivitäten habe ich im März 2000 für die Wiener Wochenzeitung Falter einen kleinen Text geschrieben. Hier einige Absätze daraus:


Tanz ist die Kunst der Ausweitung des Denkens vom Gehirn auf den ganzen Körper. Das heißt, das gesamte Wahrnehmungs- und Ausdruckssystem des Menschen wird trainiert, sich reflexiv und produktiv zu verhalten. Der Moskauer Tanzperformer Oleg Soulimenko gehört zu den wenigen, die dieses gesamtkörperliche Denken weiterentwickeln. Das verlangt ein Maximum an Offenheit und Forschungsdrang. Eines der Ergebnisse seiner Arbeit ist nun in dietheater Künstlerhaus zu sehen: Vase, ein Stück, das Soulimenko zusammen mit dem russischen Schauspieler und Tanzperformer Dmitri Samsankov entwickelt hat.

 

Hier wird der Blumenbehälter zum philosophischen Objekt, „als Kompositionsrythmus und organisierter Raum“. In diesem Duett, sagt Soulimenko, gehe es darum, „das Theater und die ihm eigenen Elemente etwas aus der Theaterstimmung zu verschieben“. Eine dritte Person (die Philosophin Katherina Zakravsky) sitzt auf der Bühne und beobachtet die beiden Tänzer. Sie ist zugleich Akteurin und Publikum. Wird sie dem Geschehen fasziniert folgen oder sich gelangweilt abwenden? Verschoben wird so auch das Verhältnis zwischen Tänzern und Zuschauern. Trotz ihrer hochreflexiven Basis – „Wieviel Zeit braucht man, um eine Information, die in welcher Konzentration von der Bühne kommt, zu verarbeiten?“ – sind Soulimenkos Arbeiten weder spröde noch didaktisch, sondern von einer sehr feinen emotionalen Qualität.

 

Vor zehn Jahren erfand der damals 30jährige das internationale Kreativlabor Saira Blanche Theatre, in dem Tänzer, Musiker und Künstler zusammenarbeiten und improvisieren. 1991 lernte er die österreichische Tanzperformerin Andrea Bold im Zug Richtung Mongolei kennen. 1994/95 knüpfte Saira Blanche – Soulimenko und Andrej Andrianov – Kontakte in Wien. Es gab Auftritte im WUK [The Needs of Organizm beim Festival Neuer Tanz ’95, Anm. 2018], 1996 auch mit der Improvisationsgruppe D.O.C.H. („Diskrete Ordnung Chaotischer Herren“ [Life is Life, Anm. 2018]), und es ergab sich eine konstante Zusammenarbeit mit dem Wiener Performancekollektiv „Lux Flux“. Im Vorjahr [1999, Anm. 2018] wurde das Saira Blanche Theatre von Meg Stuarts Company Damaged Goods eingeladen, an dem großen Improvisationsprojekt Crash Landing@Moscow teilzunehmen.


Als Soulimenko 1995 nach Österreich kam, geriet er mitten in einen großen internationalen Aufbruch der zeitgenössischen Choreografie. In Wien hatte diese Wende eine sehr spezielle Community hervorgebracht, die der ballett- oder tanztheaterorientierten Spätmoderne der etablierten lokalen Szene eine vor allem an Fluxus, Butō und Improvisation orientierte choreografische Performance entgegensetzte. Nach der Jahrtausendwende dünnte diese Community aus, doch Soulimenko hielt an Wien fest und konnte sich hier etablieren.

 

Tiefer in die Dinge

 

„Das war ein anderes Leben“, sagt er heute in Erinnerung an die zweite Hälfte der Neunziger. „Glücklicher, energetischer, leichter – ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll – die Entscheidungen fielen spontaner, die Beziehungen zu den Leuten waren leichter. In Russland gab es Zukunftshoffnungen, die heute nicht mehr existieren.“ Wann sich das allgemein zu verändern begonnen habe? Vor etwa zehn Jahren, schätzt Soulimenko, „vielleicht, weil man älter geworden ist, vielleicht, weil sich die Dinge geändert haben. Wenn ich die Gesellschaft beobachte, die politische Situation... Es wurde weniger produziert, und was produziert wurde, hat mehr vibriert. Es schien wichtiger. Man konnte Spannungen im Verhältnis mit dem Publikum erzeugen. Jetzt ist die Kunst definierter und institutionalisierter geworden. Es gibt zum Beispiel Improvisationskurse! Und ich frage mich, wie kann man Improvisation unterrichten, das ist doch eher eine Lebenserfahrung. Früher hat man mehr puzzeln müssen, und dafür gibt es jetzt weniger Raum.“

 

Nach seiner Ankunft in Wien, verband ihn mit etlichen lokalen Künstlerınnen eine Unzufriedenheit gegenüber dem etablierten Tanz. Gemeinsam wollten sie – vor allem während der fünf Jahre dauernden Kooperation von Saira Blanche Theatre mit der Wiener Gruppe Lux Flux – vordefinierte Grenzen durchbrechen. „Nach den Aufführungen hatten wir immer dieselbe Diskussion darüber, wie wir revolutionäre Dinge machten, das Publikum das aber nicht verstand.“ In der Zeit dieser Zusammenarbeit „haben wir eher ,horizontal‘ gearbeitet und versucht, bestimmte ,Landstriche‘ oder Oberflächen zu besetzen. Um zu sehen, was dabei herauskommt. Und sind dann auf ein anderes Gebiet gewechselt. Heute bleibe ich länger bei einer Sache, arbeite tiefer hinein, um Details und Methoden zu verstehen. Da ist mehr Ruhe eingekehrt, wird mehr Zeit mit einer Sache verbracht. Wir waren damals auch mobiler, konnten überall performen, manchmal auch ohne spezielle Einladung eines Festivals. Es gab mehr Potential für Neugierde. Dabei waren wir sozusagen ,invasiver‘ und haben den damit verbundenen Austausch praktiziert.“

 

"Old Chaos, New Codes", Oleg Soulimenko mit Andrei Andrianov. Mit Beirägen von Janez Jansa, Steve Paxton, Markus Schinwald, Robert Steijn und Meg Stuart; brut Kunstlerhaus Wien, 2012                                                                                                          Foto: Elena Tikhonova

 

Lebt Soulimenko noch die Improvisation? „Sie interessiert mich bis heute, ich bin aber ein wenig ausgestiegen. Jetzt brauche ich mehr Zeit, um mit meiner größeren Erfahrung mehr über Dinge und mich selbst zu wissen, mich mit Methoden und Konzepten – nicht in der Form, sondern auf der Ebene, wie man sich mit dem Raum, der Zeit, Objekten und Personen verbindet – zu beschäftigen.“ In den vergangenen vier Jahren, seit der russischen Besetzung der Krim im März 2014, fährt Oleg Soulimenko nicht mehr so oft nach Russland wie davor. „Das Land wird seitdem schwerer, und die Leute sind gespalten. Jetzt tauchen Ideen auf, an die man davor nie gedacht hätte – dieser Patriotismus und Nationalismus. Für mich war schwer zu verkraften, dass Menschen aus dem Kunstbereich, mit denen ich viel kommuniziere und die ja ein sensibles Verhältnis zur Zeit haben sollten, auf einmal mit Putin sympathisieren. Ich war überrascht davon, dass sie einer bestimmten Propaganda Glauben schenken, die man als Künstler eigentlich hinterfragen sollte. Das war für mich eine große Enttäuschung.“

 

Die Schönheit von Trash

 

Infolgedessen haben sich seine Verhältnisse zu den Menschen in der Heimat verändert. „Du kommst hin, beginnst dich mit ihnen zu unterhalten, siehst aber, dass es besser ist, nicht über Politik zu reden. Das willst du dann nicht unterstützen, also willst du dort nicht mehr so viel machen. Da steckt etwas fest, und man weiß nicht, wie lange. Das könnte eine Art neuer Krieg werden, denn wie ich die russische Situation sehe, denke ich, dass die Situation nicht leicht zu lösen sein wird. Vor zwei Jahren war ich zum Beispiel in einem Arbeiterbereich nahe dem Zentrum. Da gibt es äußerlich häßliche ehemalige Fabriksgebäude, deren Innenräume vermietet sind. Im Parterre sind Geschäfte, in denen Gebäck oder Särge verkauft werden, weiter oben gibt es Modedesign, dann in den obersten Stockwerken Galerien und Studios mit fröhlichen jungen Leuten. Diese Leute wollen nicht so sichtbar sein, weil sie wissen, es kann Probleme geben. Man braucht einen Ausweis, um in diese verborgene Welt reinzukommen. Auf der Straße aber gehen graue Menschen. Dort und auch im Fernsehen ist ein Druck zu spüren. Wenn ich jetzt in Russland Performances mache, dann wieder solche, die mit Improvisation zu tun haben, weil das flexibel ist. Es gibt ja kaum institutionelle Unterstützung.“

 

"Elegy For The Brave. Dislocation", Oleg Soulimenko; TQW, Halle G, 2007                                                                  Foto: Michael Loizenbauer

 

Hat sich Europa während der vergangenen zwanzig Jahre auch so stark verändert wie Russland? Soulimenko: „In der Kunst hier ist heute alles so gewichtig, man muss mehr kämpfen. Außerdem ist es schwerer geworden, sich nicht mit gewissen Themen zu beschäftigen. Ich kann mich erinnern, erst wurde es langsam wichtig, sich mit Konzepten zu befassen, dann sollte man bestimmte politische Trends berücksichtigen, und jetzt ist das fast schon notwendig. Aber ich sehe auch, wie einige Leute wieder versuchen, dem auszuweichen und verspielter werden oder sehr bewusst naiv arbeiten. Für mich zum Beispiel ist bei der Entwicklung von Swimming Pool die Schönheit von Trash ein Thema gewesen. Außerdem mache ich ja ein wenig Musik, und da interessiere ich mich für Lo-Fi. Im Tanz sehe ich das auch: die Tendenz zu niedrig aufgeladenen, ein wenig banalen Dingen – in diese Ästhetik tauche ich gerade ein. Und das ist ein wenig verbunden mit dem, was ich mit Lux Flux früher gemacht habe. Vielleicht komme ich jetzt wieder zu dem zurück, womit ich in den Neunzigern begonnen habe, als Andrej Andrianov und ich unsere eigene Sprache unter dem Einfluss von Kontaktimprovisation, Butō und Body Work entwickelten: Was passiert mit mir und meinem Körper, wenn ich dies oder das mache?“

 

"Last Videotape (1st letter to Samuel Beckett )", Saira Blanche Theater; DOM, Moscow, 2001                                           Foto: Denis Barkovsky

 

Was Soulimenko damit konkret meint, ist nicht etwa Nostalgie, sondern seinen wiedererwachenden Drang, selbst zu tanzen: „Ich bin immer noch an Physikalität interessiert. Anfang 2014 habe ich im Tanzquartier ein Projekt gemacht, von dem ich dachte, das bringt mich zu dem Tanz, der für mich interessant sein könnte: The Dance I Don’t Want to Remember. Das war nicht leicht. Der Tanz klopft wieder an die Tür: Hallo Oleg, vielleicht willst du das machen! In diesem Prozess befinde ich mich gerade. Also forsche ich nach, was das sein könnte – Bewegung, die befriedigend ist, als Kunst und als persönliche Erfahrung. Unlängst habe ich über Zeichen für endlosen, unsterblichen Bewegungen recherchiert – nicht um diese für immer auszuführen, sondern solche, die mir dieses Gefühl geben: Unsterblichkeit. Vielleicht lässt sich dieses Gefühl auch auf die Zuschauerınnen übertragen.“

 

(14. 01. 2018)