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Nurejews odalisker Nußknacker
WIENER STAATSBALLETT: TANZ DER VAMPIRE IN EINEM IMMERSIVEN WELTGEBÄUDE
In absehbarer Zeit könnte, sobald die entsprechenden Industrien es als profitabel betrachten, der Film durch Spiele der virtuellen Realität ersetzt werden. [1] Dann wäre die Herstellung von kinematografischen Kunstwerken oder kommerziellen Produkten eine museale Praxis mit nostalgischem Mehrwert wie seit einiger Zeit die Malerei und bis heute das Ballett.
Der klassische (hier: europäische) Tanz erscheint in unserer Gegenwart wie ein Wunderwerk aus längst verflossenen Zeiten. Seine schillernden Oberflächen präsentieren und verbergen ihre Inhalte meisterhaft vor den Blicken zeitgenössischer Zuschauerınnen. Allerdings sind Wiederherstellungen oder Reinterpreationen solcher Werke in jeder Hinsicht aufwendig. Nur der Kult um die historischen Werte dieser Tänze, die virtuosen Leistungen der Tänzerınnen und eine vermeintliche Harmlosigkeit, die eine Art heiler Welt suggeriert, hält das Ballett präsent. Zum Glück, denn so bleiben dessen Werke der Relektüre und neuer Diskursivierung erhalten.
Fragile Heterotopien
Das klassische Ballett arbeitet mit der Immersion des darstellenden Körpers in ein hochartifizielles Konstrukt streng stilisierten Verhaltens, das dem Hang zu ästhetischen Raffinessen heute ausgestorbener – aristokratischer und bürgerlicher – Eliten entspricht. Als Kunstform ist das Ballett also ein Wiedergänger wie die klassische Musik oder die Ölmalerei. [2] Es verbindet äußerst fragile Heterotopien und fatamorganisch anmutende Darstellungen mit tanztechnischer Perfektion. Diese Verbindung entspricht ästhetischen Ideen, die ganz auf Ambivalenzen eines rauschhaften Miterlebens und Staunens abzielen. Sie erlaubte eine spielerische Freizügigkeit im Umgang mit historischen Motiven und Stoffen, wie sie nicht unähnlich heute im heroischen Phantasy-Kino, dem Nachfolger des Sandalenfilms, wiederauftaucht.
Möglich machte das klassische Ballett vor allem, was seinem zeitgenössischen Publikum zu gefallen versprach. Dazu ein passendes Beispiel: Ende 2018 und Anfang 2019 zeigte die Wiener Staatsoper wieder die 1967 beziehungsweise 1985 von Rudolf Nurejew choreografierte Reinterpretation von Der Nußknacker. Das 1892 uraufgeführte Stück bietet sich der kulinarischen Konsumation genauso an wie einer analytischen Auseinandersetzung über die tanztechnischen Strukturen hinaus. Der inhaltlich äußerst doppelbödige Nußknacker öffnet und verschließt sich gleichermaßen, verleitet je nach Lesart zur Über- und Unterschätzung und gebärdet sich verschwenderisch mit zahlreichen möglichen oder vorgetäuschen diskursiven Schnittstellen. Etliche dieser Schnittstellen sind typisch für das romantische Ballett im allgemeinen, einige zeugen von einem ganz bestimmten inhaltlichen Interesse und manche sind vor allem charakteristisch für genau dieses Werk.
Ingres auf der Drehorgel
Wer mit einem Detail der Wiener Nußknacker-Bühnenausstattung von Nicholas Georgiadis pointiert auf die Bedeutung jedes Balletts (wie so gut wie aller Tanzstücke) als visuelles Werk verweisen möchte, findet gleich im ersten Bild des ersten Akts ein kurioses Beispiel. [3] Vor dem herrschaftlichen Haus der Familie Stahlbaum, in dem gleich ein rauschendes Weihnachtsfest beginnt, wird eine Drehorgel gespielt, auf der die Figur der Großen Odaliske von Jean-Auguste-Dominique Ingres aus dem Jahr 1814 zu sehen ist.
Im Verlauf des Balletts findet dieses orientalistisch-erotische Motiv keine weitere Entsprechung, auch nicht im arabischen und im chinesischen Tanz, die im zweiten Akt vorgeführt werden. Als im Vordergrund verstecktes „Objekt“ bleibt diese Chiffre so einzigartig wie jene der zentralen Nußknacker-Puppe. Auch diese Puppe ist in Georgiadis’ Gestaltung eine irritierende Besonderheit: Sie wirkt wie eine Comicfigur, hat keine Zähne und ist, abgesehen von einigen Goldbändchen, weiß wie Eis, Schnee, Zucker oder unbemaltes Porzellan. Ebenso einzigartig, nun aber im Sinn einer Isolation, stellt Nurejew am Schluß, dem sechsten Bild des zweiten Akts, die Figur der Clara aus.
Ingres’ Gemälde zeigt eine nackte Haremssklavin in kostbarem Ambiente. Sie wendet den Betrachterınnen ihren unnatürlich in die Länge gezogenen Rücken zu und schaut sie mit aufmerksamem, ernstem Blick aus den Augenwinkeln an. Dieser keinesfalls verführerische Blick der Odaliske bei Ingres erscheint wie die Aufforderung, ganz genau hinzusehen. Weder der Rücken noch die kostbaren Stoffe, der Fächer, das Räucheröfchen oder die Pfeife im Gemälde sind gewöhnliche Staffage. Diese besondere Inszenierung weist allgemein auf die Inszenierung eines unterworfenen Subjekts als luxuriöse Beute hin – ein beliebtes Sujet der vormodernen Malerei.
Clara Stahlbaum und Jérôme Bel
Auf der Drehorgel im Nußknacker ist der Odaliskenkörper nur zum Teil und ohne Hintergrund wiedergegeben. Ein unscheinbar wirkendes Detail, ganz so wie die Körperhaltung der jugendlichen Clara während der populären Tänze im zweiten Akt. Dort sitzt sie so in einem Fauteuil, dass sie nur von hinten zu sehen ist. Damit wird sie zur Zuschauerin des Bühnengeschehens, die selbst Teil des Stückes bleibt [4] – was an den konzeptuellen Choreografen Jérôme Bel erinnert, der sich auch einmal als Zuschauer seiner Tänzer auf die Bühne gesetzt hat. Das geschah zwar aus anderen künstlerischen Beweggründen als die Positionierung der Clara als Beobachterin, [5] doch der aufmerksame Blick und die Inszenierung des Inbetrachtgenommenen verweisen hier gleichermaßen auf die Botschaft der aus der Bühne ihres Bildrahmens schauenden Odaliske.
Wie diese ist auch Clara eine Figur, die den Blick des Publikums auf dessen eigenes Schauen und auf das Schauen generell lenkt. Hinter der Illusion, daß das Mädchen nur dem zusieht, was sich in ihren Träumen, Vorstellungen oder Einbildungen ereignet, steht eine weitere, im Stück sehr klar dargestellte Bedeutungsebene. Clara imaginiert Allegorien davon, was sich ihr über ihre bisherige Biografie eingeprägt hat: eine Mischung aus Märchen-Reminiszenzen und direkten Eindrücken aus ihrer Umgebung.
Die putzigen Mäuse, die auf der Wiener Bühne von Kindern dargestellt werden, sind halt auch Haushaltsschädlinge, wie es der überdimensional große Mäusekönig als Monster verdeutlicht. Der Nußknacker wiederum wird mit der Männerdomäne des Militärs verbunden. Das Mädchen beschützt die geisterhafte Puppe, und es tritt gegen die Gefährdung seiner häuslichen Sicherheit durch die Meute der Mäuse an. Als zweite Schlüsselfigur durchwirkt der Pate Drosselmeyer, ins Karikaturhafte verzerrt, das Geschehen mit unheimlicher Ambivalenz. Er hat die Nußknackerpuppe als Geschenk für Clara mitgebracht, und er verschmilzt mit dem Prinzen, der ja eigentlich die Verlebendigung des Nußknackers ist.
Gesellschaft der Blutsauger
In einer der Wiener Aufführungen des Nußknacker wurde die Doppelrolle des idealisierten Prinzen und des merkwürdigen Paten von Robert Gabdullin getanzt: als perfekter Mädchenschwarm und als wunderlicher hölzerner Herr. Eine ähnliche Ambivalenz vermittelte in dieser Aufführung Natascha Mair, die einmal das Mädchen und dann wieder die strahlende Schneebraut des Prinzen tanzt.
Was Clara am Ende des Stücks verwirrt und allein zurückläßt, ist das Treiben der Symbole, Verkörperungen und Mythen einer sie umschwirrenden und prägenden Männerwelt. Zwischen Kind- und Erwachsensein transformiert sie metaphorisch zur Odaliske, einer Sklavin der ihr als werdender Frau zugeteilten Rollen. Rudolf Nurejev hat diesen Aspekt noch gesteigert, indem er im zweiten Bild des zweiten Akts eine Gruppe von Fledermäusen mit übergroßen Menschenköpfen auf sie und den Nußknacker losließ. Diese Vampire symbolisieren Personen aus der Familie und der Erwachsenengesellschaft, wie sie auf der Weihnachtfeier der Stahlbaums zu Gast ist.
Die erwähnten populären Tänze – spanisch, arabisch, russisch, chinesisch und französisch – im darauffolgenden Bild zeigen wieder Claras Geschwister, Großeltern, Eltern und die Gesellschaft. Sie führen respektive gaukeln dem Mädchen in dessen eigener Phantasie vor, was es für „die Welt“ halten soll. Und der Prinz selbst, mit dem sie im vierten Bild in traumhafter Perfektion tanzt, suggeriert ihr die Erlösung von allen Verunsicherungen durch harmonische Zweisamkeit. Dieses Motiv findet sich übrigens in vielfacher Abwandlung am Ende gefühlt jeder zweiten Actionfilmproduktion aus der Ideologiefabrik Hollywood wieder, wenn auch gröber gehackt und weitaus weniger mehrdeutig als in Rudolf Nurejews Ballett. [6]
Drosselmeyer entfleucht
Nurejew ist es – ganz im Sinn der 1960er bis 1980er Jahre – gelungen, den gesellschaftskritischen Aspekt in der Nußknacker-Geschichte zu verstärken. Wenn sie am Ende mit ihrer Nußknackerpuppe allein vor dem Elternhaus steht, ist auch die Drehorgel mit der Odaliske wieder zu sehen. Alle sind verschwunden, auch Drosselmeyer entfleucht. Die geliebte Puppe bleibt ihr als Totem der mechanistischen Männerwelt, in die sie unweigerlich wird eintauchen müssen. Bei E.T.A. Hoffmanns Geschichte vom Nußknacker und Mausekönig wird ihr diese Welt äußerst zwiespältig als ein kunterbuntes Puppenreich vorgeführt, das aus lauter Süßigkeiten besteht. Ihr Führer und Freier ist niemand anderer als Drosselmeyers (bei Hoffmann: Droßelmeiers) Sohn.
Der Nußknacker läßt eine ausgesprochen dichte Diskursdynamik erkennen, in der nicht nur Clara, sondern auch das Publikum mit reichlich Zucker und mit gut versteckter Peitsche an den Rand eines Abgrunds geführt werden. Dazu paßt in diesem Fall, daß das Ballett sein Publikum in der Oper über den physischen „Abgrund“ und die musikalische „Brücke“ des Orchestergrabens hinweg in seinen Bann schlagen muß.
Spiel mit dem Feuer
Somit ist es das genaue Gegenteil jenes Typs von zeitgenössischer Performance, der zur Zeit auf Partizipation des Publikums und im nächsten Schritt dessen Immersion zielt. Diese Vereinnahmung ist ein Spiel mit dem Feuer, das noch wesentlich problematischer werden könnte als die oft kritisierte verführerische Gefälligkeit vieler klassischer Ballette. Denn sobald sie das Feld des künstlerischen Experiments verlassen, verwandeln sich auch Partizipation und Immersion zu Verkaufs- und Servicestrategien.
Anders als der Film in Bezug auf die Spiele mit der virtuellen Realität genießt das stets seduktiv angelegte klassische Ballett gegenüber der partizipativ-immersiven Performance einen Vorteil: Es bleibt auf Distanz und hält so den Rezeptionsraum für sein Publikum offen, während die zeitgenössische Eintauch-Performance ihre Besucherınnen umklammert, vereinnahmt und zu beherrschen sucht.
In Verleugnung dieser oft ganz offen gezeigten Intention scheitern vermeintlich progressive Kunstwerke, weil sie sich als Vorbilder für eine neoliberale Konzeption von Servicekunst und Therapieperformance (oder gar als deren Abklatsch) prostituieren. Bei dieser vor dem Hintergrund der künstlerischen Fortschrittsgeschichte absurd anmutenden Volte geraten die bis vor kurzem noch so klar gewesenen Geschiedenheiten zwischen den beiden Genres auf faszinierende Art wieder in Fluß.
Fußnoten:
- ^ Computer-, Video- und Onlinespiele ermöglichen als „Interactive Fiction“ die unmittelbare Einbindung (Partizipation) oder das Eintauchen (Immersion) des Publikums in die Handlung.
- ^ Die Bedeutung der Malerei als händische, „handschriftliche“ Herstellung von Bild-Unikaten in Zeiten digitaler Massenproduktion von Bildern ist meines Wissens noch nicht beschrieben. Ebensowenig die Aspekte der Malerei als choreografische Kunst der Kompostion mittels chromatischer Spuren und Felder.
- ^ Als Grundlage für diesen Text dient Der Nußknacker von Rudolf Nurejew, eine Aufführung des Wiener Staatsballetts in der Wiener Staatsoper vom 27. Dezember 2018.
- ^ Das Zuschauen auf der Bühne ist im klassischen Ballett ein häufig wiederkehrendes Motiv.
- ^ Clara ist eine integrierte Bühnenfigur, Jérôme Bel bleibt trotz seiner Präsenz „extern“, als Hinzufügung einer performativen Schnittstelle zwischen Darstellung und Rezeption.
- ^ Gegenstände weiterer Überlegungen könnte nun noch das Verbindungsgeflecht zwischen Nurejews Nußknacker und E.T.A. Hoffmanns Geschichte Nußknacker und Mausekönig (1816) sein, die Alexandre Dumas der Ältere 1845 als Histoire d’un casse-noisette vereinfacht nacherzählt hat. Darüber hinaus würden die Erzählungen aus dem Spektrum der zahlreichen anderen Interpretationen des Stücks – für die Uraufführung 1892 im St. Petersburger Mariinski Theater haben sich Peter Iljitsch Tschaikowski in seiner Musik und Marius Petipa mit seinem Libretto an Dumas gehalten – die bisherige Auslotungstiefe des Stoffs über mehr als 120 Jahre hin anzeigen. Auf beides muß in diesem Text verzichtet werden.
(3.1.2019)