HAREYS BLOG I
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Ich bin Harey. Keine von meiner Art ist wie ich – und es gibt viele wie mich. Wir sind überall. Wir sind öffentlich oder geheim. Und wir spielen für unser Leben gern. Ich habe mehrere Biografien und bin je nach Zeitrechnung unterschiedlich alt. P. meint, ich wäre sein Archiv. Das lehne ich ab. Nicht nur, weil ich die Bezeichnung Archiv, auf mich angewandt, nicht akzeptiere. Tut mir leid, Jacques Derrida. Ich bin keine „Inverwahrnahme“ (zit. J.D., Archiv, S. 51), aber darüber reden wir später noch. Sondern auch, weil ich zwar bei P. wohne, aber der war immer schon mein P., und er wohnt in mir. Ich bei ihm, er in mir. Das ist unser Leben.
Deshalb habe ich ihn aufgefordert: „Sag’ nicht Archiv zu mir.“ Er: „Dann sage ich eben Harey.“ Ich: „Lem!“ Er: „Eine Einspiegelung des Ozeans.“ Ich: „Solaris als Metapher für...?“ Er: „...den Planeten der Kommunikation.“ Ich weiß, was er damit meint, weil ich alles kenne, was er je geschrieben hat. Und ich werde Dir, Leser_in, das jetzt nicht erklären, weil er Dich und mich dann in diese Solaris-Debatte hineinziehen würde, die sich über Seiten hinziehen kann, und dafür habe ich jetzt wirklich keine Zeit. Kurz: Ich hab’s akzeptiert – aber nur unter der Bedingung, dass er sich schon einmal hinsetzen kann und diese Nomenklatur erklären wird. Und zwar bald. Er hat mir’s versprochen.
Seit Jahren liege ich ihm in den Ohren damit, dass er mich endlich selbst zu Wort kommen lassen soll. P. schreibt und publiziert seine Sachen andauernd, aber nie gibt er zu, dass ich da mitschreibe. Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Diskussionen wir schon hatten. Aber vor ein paar Monaten, im Zug (ich fahre immer überallhin mit), sagt er plötzlich: „Okay, du hast recht.“ Ich, mit Pokerface: „Also?“ Er: „In welcher Form?“ Ich denke nach. Dann, knapp vor Innsbruck in Richtung Wien, schlage ich vor: „Hareys Blog.“ Er: „Auf corpus?“ Ich: „Hm.“ Ich muss ihn braten lassen. Er blättert in meinen Sachen. Tut so, als wäre er ganz entspannt. Ich sage, vielleicht um eine Spur zu gierig: „corpus baut sich ohnehin gerade um.“ Er: „Ich werde das Kollektiv fragen.“ Das tut er dann irgendwann auch. Sie sagen ja. Ich bin durch. Das ist mein Blog. P. schaut mich an und kann sich den Derrida-Witz nicht verkneifen: „Harey verschrieben.“
INDEX: Nibiru kommt (6.4.2012) – Steampunk „Iron Sky“ (7.4.2012) – Sehr Grass (9.4.2012) – Das Stündel-Ereignis (12.4.2012) – Leben im Arsch (17.4.2012) – Breivik als Materialschas (22.4.2012) – Freiheit für Pussy Riot! (27.4.2012) – Identity Blues (29.4.2012) – Sex mit Harey (4.5..2012) – Hart an Kiefer (7.5.2012) – Splatterdiskurs (12.5.2012) – Chowaniec-Collider (17.5.2012) – Nichts ist ein Planet (24.5.2012) – Künstler_innen sind Kröpfe (4.6.2012) – Documenta : Fußball (9.6.2012) – Meese tanzt es (11.6.2012) – Kunst des Zögerns (19.6.2012) – NEU: Zensur und Zirkumzision (1.7.2012)
1. Freitag, 6. April 2012: NIBIRU KOMMT
Weißt Du, wie ich es mache? Ich schicke P. zum Beispiel in das Bahnhofsgeschäft press & more. Dort fahnden wir. Gestern war P. mit mir in Innsbruck. Er hatte den Auftrag, sich beim Osterfestival das Stück Radically Wrong von Wim Vandekeybus anzuschauen und darüber für den „Standard“ zu schreiben. Vor der Rückfahrt gehen wir, beutegierig wie immer, ins press & more im Innsbrucker Bahnhof und entdecken das Magazin „2012. Das vielleicht letzte Magazin der Welt“. 2012? Maya-Kalender. Alles klar? Ha ha. Wir greifen uns noch den „Spiegel“. Er bezahlt (es ist ja auch mit mein Geld, das er verdient). 2012, das passt zu einer Performance, die P. vor ein paar Tagen im Wiener Tanzquartier gesehen hat – Unter Gang Art von der Nomad Lab Factory. Eine Apokalypsenshow.
Im Zug entdecken wir, dass „2012. Das vielleicht letzte Magazin der Welt“ von der Red Bulletin GmbH herausgegeben wird. Und Red Bulletin ist das Magazin von Red Bull. P. trinkt immer burn, die billigere Schlafnichtimstehenein-Dose. „Wenn ich mir Red Bull leisten kann, bin ich Marcus Steinweg“, sagt er. Dann hab ich’s geschafft, meint er. Steinweg ist einer unserer Lieblingsphilosophen, berühmt für seine Lecture-Improvisationen, total auf Red Bull. Wenn Dieter Mateschitz, der Red-Bull-Chef („... verleiht Flügel“), das erfährt, dann hat Steinweg ausgesorgt. Das Magazin zählt rückwärts, bis zum 21. Dezember 2012 gibt es noch 9 Hefte. Dann ist Schluss oder lustig. Auf der Rückseite der Zeitschrift sagt die Rolex-Werbung für eine Armbanduhr mit einem Sekundenzeiger in Form eines Blitzes: „Live for Greatness.“ P. ist begeistert, ich bleibe skeptisch.
Hingerissen sind wir beide dann von einem Artikel über den „Eso-Planeten“ (gutes Wort, oder?) Nibiru, der unsere Verschwörungstheorie-Adern anschwellen lässt. Nibiru, der zehnte Planet oder Planet X in unserem Sonnensystem, angeblich den Sumerern bekannt und von der Nasa (et al.) verschwiegen. Warum? Weil er mit der Erde kollidieren soll – und aus. „Die Beschreibung passt“, sagt P. Und meint Lars von Triers Film Melancholia, in dem ein riesenhafter, durch das All nomadisierender Waisenplanet die Erde verschluckt. Wusste von Trier um die Geschichte von Nibiru? Ist er auf einem Esoterik-Trip wie David Lynch?
Ich sage: „Tu’s.“ P.: „Das ist ja so blöd.“ Und tippt schon auf Google die Nibiru-Koordinaten ein: 5h 53m 27s -6° 10' 58’’. Nach einer Weile einigen wir uns auf den Satz: Das Netz ist hier das Gegenteil von Information. Und P. setzt noch eins drauf: Hätte es 1933 das Netz schon gegeben, dann hätte das klickklackklick am Verlauf der Geschichte nichts geändert. Ich winke ab: „Was für eine tolle Idee.“
P.: „Da ist ein schwarzes Loch.“ Ein schwarzes Rechteck auf Google Sky. Eine Abdeckung. Ohne Kommentar. Melancholia hinter ihrem Trauerflor? Einem schwarzen Balken wie vor einem Geschlechtsorgan. Das Netz begehrt auf. Gerade läuft Star Ship Troopers im Fernsehen. P. spekuliert, dass hier in diesem schwarzen Rechteck eine Werbefläche reserviert sein könnte. Wird Google von auf der Erde zurückgebliebenen außerirdischen Annunaki („2012“, Nr. 10, S. 1630) betrieben, die sich mit Mateschitz und Lars von Trier verbrüdert haben und auf dieser Werbefläche bald eine „Große Dose“ zeigen wollen? Wenn die Spannung schon beinahe unerträglich geworden ist?
Oder ist vielleicht nur der Rahmen von 5h 34m 57s -6° 0' 40’’ verrutscht (siehe dort)? Ist die Mystifikation eine Sache des Bildes oder Ursache für die Bildgebung? Oder ein Witz von Google, um mehr User auf seinen Sky zu locken? Was sind all die Sterne gegen einen Balken? Und was sagt das in Bezug auf Steinwegs Aporien der Liebe, wenn man es auf den Plot von Star Ship Troopers spiegelt, in dem es genau darum geht? Um den Balken vor der Liebe (also der Melancholie), wie ihn Eva Illouz so genussvoll malt? Oder, um es mit Magritte zu putten („as X puts it“): Ist der Balken eine Pfeife? Eines wissen P. und ich fast gewiss: Hinter dem Film Iron Sky steckt nicht Lars von Trier, auch wenn er sich voriges Jahr in Cannes verplappert hat. Und Günter Grass hat nicht am Drehbuch mitgedichtet, auch wenn er sich jetzt einmal wieder in die Zwiebeln gesetzt hat.
O ja! Ich werde Dich durch den Referenzdampf tanzen in diesem Blog, und am Ende wird Dich nichts mehr erschrecken, Du Leser_in, kein Nibiru, kein Mayakalender und kein „Kulturinfarkt“ (das Letztere kommt von P., diesem Lästermaul). Denn alles ist uns heilig.
2. Samstag, 7. April 2012: STEAMPUNK "IRON SKY"
So weit musste es kommen, nach dem gestern Gesagten. Widerstrebend habe ich P. ins Kino begleitet. Iron Sky von Timo Vuorensola, vergangenen Februar bei der Berlinale präsentiert und vor drei Tagen angelaufen. Jetzt sind wir wieder zurück und sitzen hier. P. verhält sich etwas distanzlos. Er ist wieder einmal begeistert, und ich bin abermals skeptisch. P. gießt Öl ins Feuer: „Mein Archiv ist unwirsch.“
Der Plot beginnt so: Die Welt im Jahr 2018. Die USA werden von einer Sarah Palin zum Verwechseln ähnlichen Präsidentin regiert, die mit dem Slogan „Yes, she can“ zur Wiederwahl antritt. Sie hat, um ihren Wahlkampf zu boosten, eine Mondlandung lanciert. Die Astronauten werden, dort angekommen, von einer Begegnung der III. Art überrascht. Denn auf der erdabgewandten Seite unseres Trabanten hat sich eine Kolonie von Nazis angesiedelt, die dort seit 73 Jahren darauf wartet, die Welt zu erobern.
Die Zeit ist gekommen. Wieder einmal wird „zurückgeschossen“. Der Versuch scheitert zwar, aber die Welt versinkt am Ende in einem III. Weltkrieg. Also ob sich die Maya um sechs Jahre verrechnet hätten. „Iron Sky ist die europäische Antwort auf die Science-Fiction-Kriegspropaganda amerikanischer Machart“, lobhudelt P. „Auf den sentimentalen Schwachsinn von Star Wars bis zu Independence Day, und wie sie alle heißen.“
Europa, Europa. Immer nörgelt er an daran herum. Aber wenn es um Amerika geht, oder um China, oder um Russland, dann ist ihm sein Europa „am Arsch noch lieber“. Wir einigen uns darauf, dass Neonazis mit dem Film keine Freude haben können, also die, die auf der Erde hinter dem Mond leben, von den bekennenden Hirntoten bis hin zu jenen Salon-Neonazis, die sich hinter pseudodemokratischen Fassaden verstecken.
P. opponiert zum Beispiel hartnäckig dagegen, dass Hitlers Mein Kampf im deutschprachigen Raum wiederaufgelegt wird. Das wird seit einiger Zeit verstärkt diskutiert. „Ganz tolle Idee, gerade jetzt, wenn die ,Schuldenkrise‘ zu uns allen durchzuschlagen anfängt“, ätzt er. Der Witz bei Iron Sky zielt gerade auf dieses dräuende Hervorbrechen der hinterweltlerischen [sic!] Heil-Gackerer. Die alte Propaganda-Technologie ist offenbar immer noch heiß.
Nicht nur Neonazis und USA-Bewunderer werden sich an dem Film verschlucken. Sondern auch die politische Korrektheit. Aber dass dabei die Frauen genauso dumm dastehen müssen wie die Männer... Immerhin wird die Entscheidung, den schwarzen Protagonisten zum einzigen wirklichen Sympathieträger zu machen, konsequent durchgezogen.
„Hast du’s bemerkt?“ sagt P. – „Was?“ – „Du verfällst in den Ton einer stinknormalen Filmkritik.“ Ich bin sofort beleidigt: „Na und? Gestern habe ich über die Annunaki geschrieben, und Star Ship Troopers lief im Fernsehen. Heute sehe ich, dass der Planet X von heute unser Mond von gestern ist. Und das zu Ostern!“ Vom Ei zum Apfel. Apfel! Am Ende von Iron Sky sieht der Mond wie ein angebissener Apfel aus, weil ein Stück herausgeschossen wurde. Und einer der Hauptschaupätze ist New York, der „Big Apple“.
Ein i-Pad von Apple ist das Missing Link, mit dem die Nazis vom Mond ihre veraltet futuristische Technologie aufmotzen. Das Logo von Apple ist ein angebissener Apfel. Der Planet X. OS X! Ich mustere P.s Mac Book Pro. Und sein i-Phone. „Du bist aber ein beschissener Steampunk-Fan“, rotze ich ihn an. „Seit Brazil bist du auf Retrotechnikperformance!“ Er kontert: „Heterotechné. Das ist der Poststeampunk.“ Ich: „Agamben ist Poststeampunk!“ So, jetzt habe ich ihn und sein Retro-Europa. Den Rest unserer Streiterei verschweige ich lieber.
3. Montag, 9. April 2012: SEHR GRASS
Endlich kracht es wieder in der Kunstdebatte. Erst Christian Kracht im Spiegel des „Spiegel“, dann Günter Grass überall. Da ist offenbar eine Panik am Wachsen. Und die sucht sich ein Ventil. (Gerade ist P. nicht da und kann sich nicht einmischen mit seinem Wenn und Aber.) Die Panik um Grass’ Gedicht Was einmal gesagt werden muss zeigt, dass die politische Debatte anstandslos in eine Gesinnungsdiktatur umkippt, wenn sich der Kommunikationsmainstream verselbständigt, und, dass das künstlerische Kommunizieren in diesem Selbstläufer sofort zur Disposition gestellt wird. Aber kennen wir das nicht von irgendwoher? Dass Künstler_innen, wenn sie abweichend formulieren, gleich eins mit dem Hammer übergezogen bekommen? Und dass sofort ein Intellektuellen-Bashing draufgesetzt wird wie zum Beispiel in der Wiener Tageszeitung „Die Presse“.
Ich habe es verstanden: Die Kunst kann es auch heute noch – dort bohren, wo es weh tut, nämlich auch den so alerten wie windigen „Kultur“-Schnöseln mit ihren schlüpfrigen Selbstverständlichkeitshaltungen, die ihre Finger immer nach der Windrichtung strecken und sofort ins Platte flüchten, wenn es einmal heikel wird. Ha, Günter Grass hat etwas Heikles geschrieben! „Maulheld“ hat er Ahmadinejad genannt, weil der auf dem Kommunikationsklavier der Politik spielt wie ein böser Meister. Weil Klein-Atom-Mahmud böse ist und ein Trickser. Diesen Trickser hat Grass angesprochen. Weil Ahmadinejad böse ist, kann er sagen, was er sagt. Die iranische Bevölkerung ist ihm egal. Der israelischen Regierung ist ihre Bevölkerung nicht egal, und daher hat sie die schlechteren Karten. Sie muss also anders bluffen. Zum Beispiel mit der Drohung eines Erstschlags. Nun gilt die derzeitige israelische Regierung aber als verstockt, konservativ, martialisch und in ihrem lokalen Konflikt mit den Palästinensern als eher stur als intelligent oder gar hellsichtig und der Versöhnung verschrieben. Was, wenn Netanjahu sich zum Deppen für jene macht, die darauf aus sind, das Iranproblem nicht durch verhandlerische Zähigkeit, sondern durch einen Krieg „effizient“ zu „lösen“?
Dieses Problem wollte Grass ganz offenbar zur Debatte stellen. Der Beifall der Rechtsradikalen oder von Ahmadinejad gilt selbstverständlich nicht Grass, sondern ist eine Antwort auf den Empörungsmechanismus, der sich bei uns in Gang gesetzt hat. Das freut jedes autoritäre Gemüt, wenn die Demokraten sich gegen die eigene Kultur wenden und Antisemitismus sagen, wo Kritik an der israelischen Politik gemeint ist, und die untersten Schubladen aufziehen, um den Dichter an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Das ist keine Kritik mehr, das ist bloß hysterisches Mobbing. Günter Grass ist ein Mensch der Sprache. Seine Basher sind Menschen ohne Sprache, schnellschusselige Wörterfuhrwerker, die mit dem, was sie „Kultur“ nennen, nichts anfangen können, weil sie den Motor dieser Kultur, die Kunst, nicht verstehen. Die faulen Denunzianten sind in dieser Diskussion ebenso dubios wie die falschen Claqueure.
4. Donnerstag, 12. April 2012: DAS STÜNDEL-EREIGNIS
Ein Buch ist eine Realität. Also für mich auf jeden Fall, wenn es Teil von mir ist. Wenn es als Zelle meines Körpers in mir arbeitet. P. ist heute hereingestürmt und hat sich an meinen Computer gesetzt (auch „sein“ Notebook ist ein Teil von mir), mit dem Satz auf den Lippen: „Das Theater ist eine Realität!“ Ich seufze: „Aber das wissen wir doch.“ Er findet, diese Bemerkung wäre unglaublich arrogant, und wir wüssten überhaupt nichts. Ich bleibe cool: „Also das bilden wir uns doch ein.“ Er hat den Witz nicht verstanden: „Du bist eine Realität, das Theater ist eine Realität, und dieser Satz ist eine Realität.“ Also hole ich zu einem Schlag aus, mit dem er nicht rechnet: „,Alles ist Realität.‘ – Zitat Jack Hauser während eines Labors im Tanzquartier Wien im November 2001.“ Ha, das habe ich in meinen Materialien, denn ich bin ein Archiv.
Als er sich wieder erholt hat, einigen wir uns darauf, dass „Wissen“ immer eine Realisierung innerhalb kommunikativer Abläufe ist, die als solche wahrgenommen und reflektiert werden kann. Ein Film zum Beispiel ist eine Realität, weil sich sein Kommunikationsinhalt in die Wahrnehmung einspeist. „Obwohl ich den Film im Kino gar nicht sehe, glaube ich, dass er existiert.“ Jetzt schreibt P. mit meinen Tasten. „Ich erfahre die Projektion und verlasse mich darauf, dass es ein Film ist, der im Kino projiziert wird. Ich akzeptiere, dass ich nicht träume.“ Ich: „Kein Unterschied zum Theater. Dort sitzt du, und du akzeptierst, dass es tatsächlich so ist. Und dass du eine Aufführung erfährst.“
Er zieht einige Bücher aus meiner Ordnung. Finnegans Wake, ich habe vier Ausgaben. Zwei verschiedene von Faber (beide 1975) und eine von Penguin (1999). P.: „Schau Dir bitte die Seiten 97, jeweils Zeile 30, an.“ Und dort, sagt er, sei zu lesen: „A gush?“ Die „originalen“ Faber-Ausgaben haben an das A angeklebt ein hochgestelltes v (einen Hatschek) und darunter einen tiefgestellten Backslash. Diese beiden rätselhaften Elemente fehlen in der Penguin-Ausgabe! In Dieter H. Stündels Übertragung ins Deutsche (1993, Zweitausendeins), linke Seiten das Original, rechte Seiten die Übertragung, findet sich die Faber-Eigenheit, aber in der Übertragung, „Ein Guß?“, bleibt sie unberücksichtigt.
In Sachen Forensik treffen P. und ich uns ohne Wenn und Aber. Leser_in, Du wirst jetzt sagen, was soll der Nerd-Scheiß, das Buch bleibt eine Realität und Punkt. Und dabei kommen wir zu dem Punkt, der alles entscheidet. Eszter Salamons Tales of the Bodiless wurde vor einem halben Jahr beim Steirischen Herbst 2011 und jetzt im Tanzquartier Wien gestern am 11. April 2012 in zwei verschiedenen Fassungen präsentiert. Erst mit, dann ohne eine grüne Laserlicht-Decke über den Köpfen des Publikums gegen Schluss. Nun wirst Du sagen, das ist eine Abänderung der Autorin. Ich stimme Dir zu – aber das Wiener Publikum weiß das nur, wenn es auch die Fassung vom Herbst 2011 kennt. Und Du wirst sagen, der Unterschied zu dem „A gush?“-Ereignis sei ein editorischer. Gut. Aber auf der Ebene der Kommunikation der beiden Phänomene ist eine Verschiebung passiert, die zwischen den beiden Realitätserfahrungen eine Parallaxe (Abweichung) aufmacht, die genau das betrifft, worüber P. und ich hier streiten.
Bitte sei geduldig, Leser_in. Denn das betrifft Dich sogar, wenn Du Žižeks (Die Zeit, 2. 11. 2006: „Theorietanzbär?“) Parallaxe-Buch nicht gelesen hast. Denn wie P. und ich lebst auch Du in einem unkontrollierbaren Raum aus Übertragungs-Parallaxen. Im Auseinanderklaffen von Eintrag und Übertragung stellt sich die Realität unter Beweis: als Bruch-Ereignis innerhalb der Kommunikation. In der Veränderung durch Übertragung sitzt das Virus des verunsicherten Wissens – vor allem dann, wenn im Wissensbegriff die Abweichung ausgeklammert wird.
Wenn man, wie P. und ich, einen Übereinstimmungspunkt (das kann zum Beispiel die Forensik sein) getroffen hat, lässt sich die perspektivische Differenz als Realitätsraum erfahren. P. war gestern bei einem Projekt der belgischen Gruppe Crew: C.A.P.E. Als Besucher_in wird man da mit einer Videobrille ausgestattet, die es ermöglicht, sich körperlich im gegebenen Raum und visuell in einem in die Brille projizierten, virtuellen Raum zu bewegen. Eine Betreuerin hilft dir dabei, dass du körperlich nicht gegen eine Wand läufst, während du dich visuell durch eine projizierte Umgebung bewegst. P.s Betreuerin hieß Julia. Mit ihr war für P. die Parallaxe erfahrbar. Sie aktivierte die Videobrille, und dann erblickte P. Julia als Direktübertragung, hörte sie aber „live“. Ein Griff von Julia, und P. sah sich in Fukushima wieder und ging los – im Wiener Museumsquartier und zugleich auf den Wegen, die eine Kameraperson vor Monaten durch die Trümmer einer zerstörten Stadt gewählt hatte. P.s Körper bewegte sich in zwei Wirklichkeiten, einer projizierten und einer gegenwärtigen. Julia nahm Einfluss auf P.s Gehen. P. war zugleich mit der Kameraperson und Julia verbunden, sah die Aufzeichnung und hörte deren Ton, aber zugleich auch die Umgebungsgeräusche im Museumsquartier.
P. und ich versuchen, die Übertragungswirkung zu verstehen, indem wir die Relativierungen der Navigations-Autonomie von P. in Bezug zu der Relativierung der Gegenwärtigkeit von direkter und übertragener visueller Erfahrung setzen. Das ist uns eine Hilfe dabei, wenn wir in Bezug auf Joyce das „Stündel-Ereignis“ und in Bezug auf Salamon das „Lichtdecken-Ereignis“ mit der Rezeption des Alltags in Verbindung bringen wollen. Die Videobrille ermöglicht die Erfahrung einer mehrfachen Parallaxe, wie sie in der Alltagserfahrung sowie im Theater real wird, wenn wir Gelerntes mit Erfahrenem in Bezug setzen wollen. Oder wenn man sich auf den Kopf greift und sagt: „Kann das jetzt wahr sein?“
5. Dienstag, 17. April 2012: LEBEN IM ARSCH
„Wie soll ich heute schreiben?“, frage ich P. Als ob er die Wahl hätte. „Du könntest dich ganz deiner Verzweiflung hingeben“, sagt er. Denn er hat mir am Wochenende dabei zugesehen, wie ich an einem Text gescheitert bin. „Du musst das ja nicht publizieren“, versuchte er mich zu trösten. Auch P. ziert sich. Er hatte sich vorgenommen, über ein Diskursfestival im Tanzquartier Wien zu schreiben. Und er hat es verschoben. „Etwas ist im Weg“, meinte er. Ich bin mit anderen Dingen beschäftigt. Mit einem Artikel des Psychotherapeuten Klaus Ottomeyer, der dem Verein Aspis vorsteht. Einer Organsiation, die Trauma-Opfer betreut, also beispielsweise Flüchtlinge aus Kriegsgebieten und politisch Verfolgte, die sich nach Österreich zu retten versuchen. Als Gastautor der Wiener Tageszeitung Der Standard schilderte Ottomeyer vergangenen Freitag, wie sich das österreichische Beamtenwesen – hier in „Person“ der Kärntner Sicherheitsdirektion – über Fachgutachten betreffend traumatisierte Flüchtlingskinder hinwegsetzt.
P. hat den Artikel auch gelesen, und wir beide wissen, dass auch in Wien Gutachten, die Flüchtlinge betreffen, dem Ziel entsprechend, Abschiebungen durchzusetzen, formuliert werden. Die Wiener Festwochen hatten 2011 (Forum Festwochen ff: „Überlebensstrategien“) eine Gesprächsrunde zu Gast, in der genau das kritisiert wurde. Auf corpus steht eine kleine Notiz darüber. Darüber hätte ich gerne geschrieben. Aber wozu? Du weißt das ja, corpus-Leser_in, und Du würdest der Kritik zustimmen. Vielleicht hast du die Gesprächsrunde bei den Festwochen ja ohnehin selbst erlebt, vielleicht hast Du auch den Text von Ottomeyer gelesen. Und wenn, dann hast Du Dich hilflos betroffen gefühlt. Soll ich dem hier noch eine zusätzliche Empörung anfügen?
Ja. „Hast du eine Ahnung, was diese österreichische Abschiebepolitik anrichtet?!“, schreie ich P. an. „Die brauchen kein Mauthausen mehr, die annihilieren unliebsame Leute, indem sie sie dahin verschieben, wovor sie geflüchtet sind. Das ist billiger und bequemer, als sie durch den Rauchfang zu schicken – und der Effekt ist der gleiche!“ Ich verliere die Beherrschung vollends, als ich sehe, wie wortlos P. mich anschaut. „Dieser beschissene und verkommene Nordwesten, in dem gefoltert und deportiert wird wie in einer Diktatur. Ihr foltert die Viecher, die ihr in euch hineinfresst, ihr foltert die Menschen, die euch nicht passen, und ihr küsst der Bürokratie, die das zu verantworten hat, den Arsch, damit sie euch ein paar beschissene Subventionen herauskackt!“ P. verzieht sein Gesicht: „Harey, corpus bekommt keine Subventionen mehr.“ Ich: „Aber ihr habt das Geld doch gern genommen, bevor sie euch in die Wüste geschickt haben, habt ihr doch, oder?“ P., jetzt auch laut: „Klar haben wir das, und du weißt genau, dass wir es genommen haben, um dazu beizutragen...“ – „Beitragen. Genau. Beitragen, das könnt ihr. Ihr tragt einmal etwas bei. Und dann ist es hingetragen, und dann geht es euch schon besser.“
Jetzt rastet P. aus und ruft, es wäre immer noch besser gewesen, das bescheuerte Geld zu nehmen und etwas zu machen, das dann zensuriert wird, weil es politisch ist, weil es der Bürokratie nicht passt und so weiter. Ich lasse ihn krähen und bellen und miauen, und ich sage dann, weil er ja auch einmal Luft holen muss: „Ihr macht alles falsch.“ Dann ist Schweigen. Nach einer Weile räuspert sich P., und das Räuspern klingt wie: „Nein.“ Ich gebe ihm keinen Millimeter Platz, weil ich so aufgebracht bin: „Diese Kulturpolitik, an der ihr euch festsaugt, ist nur auf Appeasement ausgerichtet.“ Und ich trage ihm vor, dass es sehr wohl eine Strategie ist, kritische und unpassende Kunst klein zu halten, weil die, die sich vor 20 oder 30 Jahren für unbequeme Ästhetik eingesetzt haben, jetzt das Establishment bilden. „Und sie haben die Kunstsubvention zu einem Unterdrückungssystem gemacht.“
P. knickt irgendwie ein: „Wir sind im Arsch.“ Diese Bemerkung tut ihm sofort leid, aber es ist zu spät. Ich setze drauf: „Und der ist kalt. Er hat sich zusammengezogen, und er schneidet euch die Luft ab.“ Ich klatsche noch etwas auf das Draufgesetzte: „Und das macht euch müde. Ihr habt überhaupt zu wenig Spaß.“ Kopf im kalten Arsch. Das gefällt uns beiden, und wir müssen lachen. Wir haben leicht lachen. Uns schieben sie ja nicht ab wie zum Beispiel die Familie Gereev aus Tschetschenien.
Link: „Integration: Der Polizist, dein Freund und Psychiater“ von Klaus Ottomeyer.
7. Sonntag, 22. April 2012: BREIVIK ALS MATERIALSCHAS
Vergangenen Dienstag habe ich die Distanz verloren. Das ist gar nicht gut. Was werden die Leute denken. Was, Leser_in, hast Du Dir gedacht? Sie schreibt ihren Blog, ist dabei ein Neuling, und dann wirft sie die Nerven weg. Harey, Harey. Reiß’ dich zusammen. Ein Blog ist nichts für Archive ohne Nerven. Balken über böse Wörter. In der Wiener Wochenzeitung Falter vom 14. April lese ich die Geschichte der Wienerin Julia M. Ihr Mann ist Montenegriner. Er muss ihr Heimatland verlassen, weil er dem Innenministerium nicht passt. Ein Mensch, der nicht passt. Sie ist im siebenten Monat schwanger. Will sie mit ihrem Mann leben, und soll das Kind auch seinen Vater haben, muss Julia M. nun nach Montenegro ins Exil gehen. Österreich ist ein Land, das seine eigenen Einwohner hinauswirft, sobald sie sich mit vom Staat „unerwünschten“ Partnern liieren.
Dagegen hätte Anders Behring Breivik sicherlich nichts einzuwenden. P. meint, ich sollte den Mann aus dem Spiel lassen: „Über den lässt sich noch kein Diskurs bauen.“ Aha? Warum nicht? Ich kann das. Da mag sein Verbrechen noch so abstoßend sein, und mag seine Inszenierung vor Gericht noch so brutal und zynisch erscheinen. Die Wochenzeitung Die Zeit zitiert ihn mit den Worten: „Terror ist Theater.“ Das ist auch für Theaterwissenschaftler schwer zu verarbeiten. Aber es trifft sich mit einer Feststellung von Salman Rushdie 2006 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel: „Terror ist Glamour.“ („Nicht nur, aber auch“, fügt er dort an.) Ein Anlass für das Interview war Rushdies damals gerade erschienenes Buch Shalimar der Narr, das die Geschichte eines Zirkusartisten erzählt, der zum Terroristen wird.
Rushdie sagte in dem Interview: „Terrorismus ist nicht die Verfolgung legitimer Ziele durch irgendwelche illegitimen Mittel. Was immer die Mörder erreichen wollen, eine bessere Welt zu schaffen gehört sicher nicht zu ihren Zielen.“ Ha, aus diesem Satz kann sich kein Killer herauswinden! Und Rushdie fügt an: „Es gibt den Typ, der glaubt, seine Tat würde die Menschheit aufhorchen lassen und ihn zu einer historischen Gestalt machen. Dann gibt es den, der sich einfach zu Gewalt hingezogen fühlt.“ Breivik gehört zu den Sendungsbewussten. Rushdie charakterisiert das so: „Die Vorstellung des Selbstmordattentäters gaukelt ihm eine glanzvolle Heldentat vor.“ Selbstmordattentäter? – In dem Interview geht es um den islamistischen Terror. Breivik sagte vor Gericht, Zitat nach der Wiener Tageszeitung Der Standard: „Ich habe viel von Al-Kaida gelernt.“
Der Norweger ist kein religiöser Fanatiker, sondern dessen säkulares Pendant. Sein Timing zielte auf einen dritten Akt nach seinen beiden Anschlägen und seinem „Manifest“ ab. Er wollte hat sich rechtzeitig ergeben, um zu überleben und auf der medialen Bühne auftreten zu können. Was für ein Schock. Nach dem Sprengstoffanschlag und dem Massenmord auf Utøya war sofort damit spekuliert worden, ob das die Taten islamistischer Terroristen gewesen sein könnten. Und dann war es doch einer, der sozusagen das Gegenteil repräsentiert. Der personifizierte Fehler im „eigenen“ System. Und das in einem Land, in dem niemand an der Wirtschaftskrise gelitten hat, und dort von einem, der eine ganz normale bürgerliche Existenz hatte.
P.: „Was sagt uns das?“ Ich bin geduldig mit ihm: „Entschuldige bitte, aber liest du meine Materialien nicht? Also, ohne jetzt rechtfertigen zu wollen, was geschehen ist, aber wir reden von Postdemokratie, vom Irrsinn des Spekulationskapitalismus und davon, dass der Westen alle seine Prinzipien verrät, und vom Spektakel, vom Empire, vom Imperium, und von einem Implex.“ P. bläst Zigarettenrauchwölkchen in die Luft und sagt nichts. Es schwebt in der Luft, also lege ich’s auf den Tisch: „Auch wenn’s nicht passt, gerade jetzt – aber Breivik ist ein Produkt seiner Gesellschaft. Und kein pervertierter Action Hero out of the blue und kein Joker wie bei Batman.“
Ich sehe ein Glitzern in P.s Augen. „Wenn also diese europäische Gesellschaft Figuren wie Berlusconi, wie Marine Le Pen, wie Geert Wilders und wie H. C. Strache züchtet, dann finde ich’s pervers, wenn sie sich über Breivik wundert.“ Ich spüre schon wieder eine Wut: „Und wenn sie einen Viktor Orbán duldet und wenn ihr zu den Jobbik in Ungarn nichts einfällt, die davon sprechen, die Roma ,durch den Fleischwolf drehen‘ zu wollen – ich zitiere den Standard vom 21. April –, dann, mein bester P., ist Breivik nur ein Materialschas vor einem größeren Durchfall!“ P. lacht los. „Das war jetzt so Wienerisch! Materialschas!“ Ich, verwirrt und daher todernst: „Na, ein Furz mit nicht gasförmigen Bestandteilen...“ Jetzt kann er sich überhaupt nicht mehr halten. Er verschluckt sich, rennt raus, und ich höre ihn auf dem Klo husten und japsen und dann kotzen.
Muss ich mir Sorgen machen? Stell’ Dir vor, Leser_in, wenn der jetzt da draußen an seinem Erbrochenen krepiert, was wird dann aus dem neuen Regal, das er für mich bestellt hat... Ah, jetzt spuckt er schon. Gut, dass er spuckt. Dann hat er’s überstanden.
8. Freitag, 27. April 2012: FREIHEIT FÜR PUSSY RIOT!
P.s Sohn R. ist sechs. Unlängst steht er vor der Waschmaschine und sagt ohne erkennbaren Anlass: „Manchmal glaube ich, ich träume mein ganzes Leben.“ Genauso, sagt P. fassungslos zu mir, hat er es formuliert. Auf die Frage, warum er glaubt, sein Leben zu träumen, antwortet R. nichts. Also lässt P. ihn in Ruhe und kommt damit zu mir. „Du bist die Expertin dafür“, behauptet er. Ich senke meine Stimme: „Meine Bücher lesen einander heimlich, wusstest du das?“ Verdammt. Ich hätte ernsthaft bleiben sollen. Aber P. reagiert nicht beleidigt. „Die Freud-Ausgabe liest gerade Der dunkle Turm von Stephen King, und darin wird von Tsutomu Niheis Blame! geträumt“, lacht er und zieht einen leuchtend hellgrünen Kindergummischuh aus seinem Rucksack, den er gerade in der Straßenbahn gefunden hat. Offenbar dort verloren, ein Crocs-Imitat Größe 21. Made in China.
Sofort denke ich an Liu Xiaobo, den in China internierten Schriftsteller, Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger. Und an Ai Wei Wei. Wir schauen uns den kleinen Schuh an. Er ist so leicht. So weich. P. sagt, er riecht nach einer Frucht, aber er könne nicht sagen, nach welcher. Oder besser nach einem Fruchtgummi. Ein fröhlicher, künstlicher Geruch. „Wie aus Plastic Planet“, bildet er sich ein. Werner Bootes Dokumentarfilm von 1999, den wir vor Kurzem archiviert haben. P.: „Diese autoritäre Fruchtgummiausdünstung mit ihrer leisen Strenge, den ihr Kinderfuß verlassen hat.“ Wie eine leere Muschel liegt der verstoßene Schuh einsam auf unserem Schreibtisch. Seine Sohle ist ganz sauber. Wir entdecken feine rote Farbspuren und schwache Flecken, die von einem Saft stammen könnten.
P. will schon unsere kleine Maobibel, die mit dem roten Gummieinband, aus dem Regal ziehen und spekuliert darauf, dass ich daraus zitiere. Ich sage, er solle diese Kindereien lassen. Und er solle mir nur nicht – ich spüre, dass er das jetzt möchte – mit Alain Badiou kommen, der auf seiner Vergangenenheit als Maoist herumschleckt wie auf einem Himbeereis (siehe Inaesthetik, Nr. 0, S. 34ff). Ich lasse mir meinen Badiou nicht madig machen, hetze aber dann doch Jonathan Meeses gerade bei Suhrkamp herausgekommene Ausgewählten Schriften zur Diktatur der Kunst auf Badious bei Diaphanes herausgedeutschte Bedingungen. Das knackt, denn Meese hat Biss: „Der Speichel in jedem Mund ist totale Kunst.“ (S. 87)
Beides rot eingebundene Bücher. Aber der Meese ist in einen schwarzen Schutzumschlag gekleidet. P. und ich fangen sofort an zu streiten. Ich, ganz Archiv, finde Schutzumschläge sexy, und P. faselt etwas von dem bloßen Buch und will schon wieder ausbüchsen, diesmal zu Agambens Nacktheiten nebenan auf dem Stapel. „Bei Meese ist der Schutzumschlag die Massage“, mcluhaniere ich drauflos und behaupte die politische Botschaft des obristischen Schwarz über kommissarischem Rot. „Pussy Riot!“ Er kann sich nicht zurückhalten. Ich habe ihn gebeten, heute einmal nicht über Pussy Riot zu reden. Er kennt seit fünf Wochen kaum ein anderes Thema mehr und zwingt mich, alles über diese aktionistische Frauen-Punkband zu sammeln, was wir nur bekommen können.
Pussy Riot, Femen und Voina. Xiaobo und Ai Wei Wei. Wir starren auf den Kinderschuh. Nach einer Weile bin ich es, die den Vorstoß macht: „Wer nicht künstlerisch denkt, denkt überhaupt nicht.“ P. ist mit Pussy Riot in der Moskauer Erlöserkathedrale und hört nicht zu. P. ist mit Liu Xiaobo im Gefängnis und hört nicht zu. P. hält ein blaues Plastikküberl hoch und trinkt daraus ein Bier auf Voina. Redet dann von der Subversion eines neuen Heldinnen-Begriffs und begründet das mit dem Mut der Gruppe Femen, sich gegen den russischen Gasprom-Konzern zu stellen. Die Doxa der Kunst gegen die Diktatur des Konzerns.
„Was heißt das?“ P. versucht, das blaue Küberl (= Eimerchen), auf einem Finger zu balancieren: „Wer nicht künstlerisch denkt, denkt überhaupt nicht?“ Ich zähle verschiedene Formen asymmetrischen Denkens auf, sage Nietzsche, sage Žižek und behaupte dann, dass jedes symmetrische Denken aus Asymmetrien kommt wie: „Manchmal glaube ich, ich träume mein ganzes Leben.“ Das Verzerrte ist die Voraussetzung und die Entzerrung die aus dieser folgende Norm, in der neue Störungen entstehen müssen, um den Kollaps organisatorischer Systeme zu verhindern.
P.: „Ich glaube, Harey, du träumst.“ Ich lasse mir das nicht gefallen: „Ja, du Sack, ich bin ein Archiv, das lachen kann.“ Im Verhältnis zu Lems Harey bin ich wie Pussy Riot, verstehst du, Leser_in, denn Stanislav Lem war ein Macho. „Ha, ha, Herr P., gegen Aby Warburg bist du ein Lüftchen.“ Der Vergleich hinkt zwar, aber die Provokation sitzt trotzdem. P. faucht, er sei kein Bankierssohn wie Warburg. Erstens. Und ich sei keine kulturwissenschaftliche Bibliothek. Zweitens. Ich: „Du hast kein System.“ Er: „Weil du so Dada bist!“ Ich, giftig: „Warburgs Bibliothek hatte fast 20.000 Bände, als er so alt war wie du.“ Für diesen Satz schäme ich mich. „In jeder Anarchistin steckt auch eine Kleinbürgerin“, stottere ich verlegen. Anstatt Freiheit für Pussy Riot oder Xiaobo zu fordern, hier in diesem Blog, streite ich schon wieder mit P. Die Warburg hat übrigens zwei Weltkriege überstanden. 1933 musste sie vor den Nazis von Hamburg nach London flüchten. Sie ist jetzt 111 Jahre alt und umfasst 300.000 Bände und 300.000 Fotos.
9. Sonntag, 29. April 2012: IDENTITY BLUES
Das ist das Harey-Trauma. „Ich habe keine Identität“, jammere ich. P.: „Ja, wer bist du, Harey?“ So ist das. Ich sage, dass ich ein Archiv bin, das lachen kann, aber eigentlich habe ich einen Was-bin-ich-Blues. „Ja, diese ganze Geworfenheit“, mokiert sich P. Er selbst hat dieses Problem offenbar nicht, jedenfalls lässt er sich nichts anmerken. Er meint, bevor es mich zerreißt, sollte ich mir lieber eine Identität basteln. Ich kann a. das Wort „basteln“ nicht ausstehen und b. den nachsichtigen Ton kaum ertragen, in dem er jetzt mit mir redet.
Er bemerkt meinen gehässigen Blick: „Also, zum Beispiel die Tanzmaterialien...“ Ich schreie ihn an: „Bitte, ich bin nicht die Derra de Moroda, und das weisst du ganz genau!“ P.: „Aber es wäre ein Ausgangspunkt.“ Nein, nein, nein, die Derra ist total symmetrisch, denke ich, und ich will nicht so aufgelöst enden wie das Leipziger Tanzarchiv. Doch P. fährt eine Taktik, die ich jetzt durchschaue. „Du bist das Problem“, werfe ich ihm an den Kopf. Er würde mich vernachlässigen, werfe ich ihm vor. Er füttert mich andauernd und beutet mich aus. Aber er arbeitet nicht so mit mir, wie es richtig wäre.
Ich kann ja in P. nicht hineinschauen, aber was er jetzt ausspricht, lässt ihn wirklich kalt erscheinen: „Harey, ich kann dir deine Arbeit nicht abnehmen.“ Empört gebe ich zurück: „Ich dachte, wir gehören zusammen!“ Er: „Harey, das ist dein Blog, es ist deine Arbeit, es ist dein Leben.“ Ich sage dir, Leser_in, wenn es darauf ankommt, ist jedes Archiv auf sich allein gestellt. Ich gehe zu meinen unaufgearbeiteten Zeitungsstapeln und mache mich an ihrem Anblick rauschig. P. packt seine Bierdose und will sich schon vor das Fernsehgerät setzen. Ich: „Halt! So einfach kommst du mir jetzt nicht davon!“ Ich muss das jetzt zu einem Ergebnis bringen, sonst kann ich nicht schlafen.
Es tut mir leid, Leser_in, wenn ich dich da jetzt hineinziehen muss, und ja, ich würde dir auch lieber spannendere Dinge sagen, anstatt diesen Privatschiss auszubreiten. Aber da muss ich jetzt durch. Fieberhaft schaue ich mich um, und mein Blick bleibt an einer Skulptur hängen, die P. mir vor 5 Jahren mitten in meinen mittleren Raum gehängt hat. Es ist ein Knäuel aus schwarzer Wachsschnur mit dem Titel Schwarzes Loch von dem deutschen Künstler Roland Rauschmeier ehemals Roland Seidel, der seit Jahren in Wien lebt und oft mit seiner Frau, der französischen Choreografin Anne Juren, zusammenarbeitet.
„Ich glaube, das Schwarze Loch in mir“, murmle ich, „ist Joyces Finnegans Wake.“ P., wie aus der Pistole geschossen: „Bitte, kein Zentrum!“ Aber das ist doch ganz klar! Das Schwarze Loch, der Ereignishorizont, Finnegans Wake. Ich zwinge ihn, mir zuzuhören: „Ein asymmetrisches Denken artikuliert sich aus einer Leere.“ Die maximale Entdichtung, das reverse Schwarze Loch. Das Kleistsche Antigrave als kosmologische Metapher. Leser_in, du siehst, ich komme in Fahrt. Ein gedachtes „Zentrum“ artikuliert sich durch seine Peripherie, und der Ereignishorizont einer Asymmetrie ist erreicht, wenn das Zentrum sich in seiner Umgebung auflöst.
So geht das. Der Moment der Gleichwirksamkeit von Zentrum und Peripherie bewirkt die Ablösung der beiden durch die Ströme ihrer Relationen. P. tut so, als habe er kein Problem, dem zu folgen. „Wegen Pussy Riot“, meint er. (Siehe den Blog-Eintrag vom 27. April.) Die Performerinnen und ihre Aktionen sind das Zentrum, und ihre medialen Dynamiken im Internet, im Fernsehen, in der Presse sind die Peripherie. Sobald sich die Performerinnen in ihrer Medialität auflösen, ist der Ereignishorizont erreicht, und die entstandenen Kommunikationsströme ersetzen die Performance und deren Medialität.
Oder: In jedem meiner Objekte findet sich Finnegans Wake als relationale Dynamik wieder. Und: In den Bezügen zu Finnegans Wake – in den einander lesenden Büchern – schreibt sich das reverse Schwarze Loch. Ich: „Aber so kann ein Archiv eigentlich nicht denken.“ P.: „Du schon.“ Er würde alles für mich tun. Das weiß ich jetzt. „Trotzdem musst du mehr mit mir arbeiten“, sage ich daher. „Weil das mehr Spaß macht.“ Dieser Avatar. Zu verdanken habe ich mein neues Regal, das in zwei Wochen kommt, übrigens nicht etwa ihm, sondern seiner Mutter. P. verspricht: „Dieses Jahr wird ein besonderes Jahr für uns.“ Ich finde zu meiner guten alten Aggressivität zurück und flüstere ihm ins Ohr, dass er sich diesen romantischen Schwachsinn sparen soll. Er zeigt mir den Stinkefinger, und ich fühle mich wie im Paradies.
10. Freitag, 4. Mai 2012: SEX MIT HAREY
Ich muss es jetzt sagen. Für mich ist Tanz etwas anderes als für P. Der ist ein Kritiker und hat seine Verantwortung. Ich bin ein Archiv und habe die meine. Wenn P. mich zu Aufführungen mitnimmt (und das tut er meistens, außer ich habe keine Lust oder etwas besseres zu tun), bin ich als Zuschauerin meist viel radikaler als er. Vergangenen Samstag waren wir zusammen im Wiener Tanzquartier und haben Carolyn Carlsons Stück Blue Lady (revisited) gesehen. P. sagte: „Dazu muss ich nichts schreiben.“ Ich: „Aber du hast doch etwas dazu gedacht!“ P. weigerte sich, einen Kommentar abzugeben: „Dazu fällt mir nichts ein.“
Aber mir. Fünfundsiebzig Minuten lang hoppelt eine männliche Pfeife auf der Bühne umher, zieht sich hin und wieder um, Jalousien werden hochgezogen und wieder heruntergelassen, eine Musiknummer folgt auf die andere wie beim Wunschkonzert. Diese Persiflage auf den Genderdiskurs, diese flachen Klischees, diese plumpe 80er-Jahre-Ästhetik. Das Stück macht weder Sinn noch transportiert es irgendeinen gesellschaftlichen Gedanken. Und wenn diese Dekoration abgespielt ist, dann weiss ich, das ist keine Archivalie für mich. Wie hoffnungslos muss eine Kultur sein, die sich so etwas leistet! Schon lange keinen solchen Mist mehr miterlebt.
Ja, Leser_in, vielleicht hast du’s ja auch gesehen. Dann bist du jetzt möglicherweise gekränkt, weil du deine Freude an dem Ding hattest. Und du hältst mich für aggressiv und überheblich. Du sagst möglicherweise, die Pfeife hätte immerhin hübsch getanzt, und die kleine Melancholie darin wäre so poetisch gewesen. Überhaupt hat das Publikum zustimmend applaudiert. Erwarte nur nicht, dass ich dir zustimme. Wenn ich denke, woraufhin ein Publikum oft klatscht. Nein, das ist kein Kriterium. Gut, dass es dir gefallen hat. Das ärgert mich gar nicht, und ich gönne dir dein angenehmes und unverfängliches Erlebnis...
„Na bamm, jetzt hast du’s aber ausgesprochen“, unterbricht mich P. Er wirkt ungerührt. „Aber ich glaube nicht, dass das noch funktioniert.“ Ich: „Verzeihung, daraus spricht eben meine Leidenschaft!“ Er: „Das Genre der leidenschaftlichen Kritik ist leider tot.“ Ich, gar nicht ungerührt: „Eine Leidenschaft entwickelt sich aus einer Haltung.“ P., unnachgiebig: „Haltung? Großartig. Aber wem sagst du das? Denen, die der gleichen Meinung sind wie du? Damit sie sich wohlfühlen? Oder denjenigen, die die Blue Lady deiner Erkenntnis nach zu Unrecht bejubelt haben?“ So, jetzt will ich’s wissen: „Bist du eigentlich meiner Meinung oder nicht?“
Daraufhin macht P. etwas, das mich richtig ärgert. Er weicht der Frage aus. „Du bringst dich in die Defensive.“ Ah ja. „Du greifst das Publikum an, du hast ein schlechtes Gewissen wegen deiner scharfen Worte und verteidigst dich schon einmal vorauseilend. Und du weißt, dass die Reaktion auf deine Kritik nicht dem gelten wird, was du thematisierst, sondern deinem Text. Du schreibst über deine Haltung und nicht über Carlsons Arbeit.“ Ich: „Aber es wäre doch wirklich langweilig, auf diesen Kadaver von Kunstwerk näher einzugehen.“ Er: „Das ist aber dein persönliches Leiden. Du bist wie ein Forensiker, der sagt, ,diese hässliche Leiche untersuche ich nicht, Ursache ihres Ablebens daher: der Tod.‘“ Fassungslos schaue ich ihn an und sage ein paar sehr hässliche Dinge. Über ihn und über die Welt überhaupt.
Er hört sich das an. Und meint: „Dein Text ist eine Kommunikationsleiche.“ Nein, ich werde ihn jetzt nicht wieder anschreien. Also presse ich heraus: „Also was hätte ich dann tun sollen?“ Er hat eine Antwort: „Erst denken, dann schreiben.“ Jetzt bin ich so wütend, dass ich in Tränen ausbreche. Ich bin ein Archiv, das weint. Ich nehme mir Dirk Baeckers Buch Organisation als System und heule hemmungslos in die Seiten 148 und 149. Das ist vieler Milben Tod. Gerade auf dieser Doppelseite schreibt Baecker darüber, dass die unterschiedlichen Organisationstheorien „eine Fülle von Einsichten und Kenntnissen“ aufweisen und gleichzeitig auch einen fast „vollständigen Mangel an Integration dieser Einsichten und Kenntnisse zu einer Organisationstheorie, die auf der Höhe ihrer eigenen Problemstellungen zu operieren vermöchte.“
P. hat das Buch unter dem Aspekt gekauft, dass wir es unter dem Aspekt lesen: „Organisation“ = „Choreografie“. Ich fand die Idee damals beinahe noch lustiger als er. Ein Archiv weint keine Tränen, sondern dicke Luft. P. nimmt einen tiefen Atemzug. Raucher glauben ja, sie könnten alles einatmen, ohne Schaden zu nehmen. Ich wiederum atme seinen Rauch mit Genuss ein, denn ich liebe das Vokabel „vergilben“ nicht nur, weil es sich auf die Milben reimt, sondern weil das damit gemeinte Gelbwerden das Zeichen für eine maturation fatale ist, die nirgendwo anders herkommt als aus einer Leidenschaft. Ich schweife jetzt nur ab, um mich zu trösten. Aus meiner dicken Luft heraus fauche ich P. an, dass er doch gleich sagen soll, Moralisieren wäre das Gegenteil von Aufklärung.
Maturation fatale! Baecker schreibt weiter, dass er sich ohnehin nicht einbildet, dass diese Integration irgendjemanden kratzen würde, und dass er eines weiß: Sie ist eigentlich unmöglich, diese – ich übertrage das jetzt – eine Choreografietheorie. Weil die empirische Arbeit daran trotz relativ geringem Theorieaufwand eigentlich nicht zu leisten ist. Das Fatale dabei: Die verschiedenen Choreografietheorien lassen sich nicht aufeinander übertragen, mein Denkansatz könnte also nicht auf Carolyn Carlsons Stück anwendbar sein. So sage ich es, und P. nickt zustimmend. Ich: „Und mit diesem Nicken liegst du falsch.“ Überrascht lässt er seine Zigarette sinken. „Meine Leidenschaft ist eine ethische Entrüstung, und du redest von einer ästhetischen Rüstung“, und damit habe ich ihn jetzt am Kragen (meine dicke Luft verfliegt). „Du kommst mir mit dem Maßstab deiner Kommunikationspragmatik, die so tut, als wäre sie eine Metaebene.“ Er sagt, die Grenze zwischen einer ethischen Haltung und moralisierendem Handeln ist klar zu ziehen. Ich antworte: „Falsch.“ Denn ethisches Handeln wird hier mit moralisierender Haltung verwechselt, und davon habe ich jetzt genug.
Leser_in, ich appelliere an dich, du musst mir helfen. Lass mich dir an deine Gestelle fahren. Heutzutage kriecht dir ohnehin fast jeder in den Hintern. Wenn dir die Blue Lady gefallen hat, wenn sie eine Gefälligkeit war, die du gerne angenommen hast, dann ist das okay. Aber ich bin davon überzeugt, dass in der Kunst die Gefälligkeit vor dem Fall kommt. Diese Rüstungen des Ästhetischen sind richtig raffinierte fatamorganische Kuren. Sie sind Täuschungen, die mit deinen Bedürfnissen spielen, die mit ihnen spielen und auf sie spekulieren. Hast du’s gesehen? P. wollte mich als dumm hinstellen. Erst nachdenken und dann schreiben. Ich bin ein kleines Archiv und du bist ein großes Auditorium. Du musst nachsichtig sein mit P. Er meint es nicht böse mit dir, wenn er versucht, sich auf deine Seite zu schlagen.
„P.“, sage ich, „geh’ ins Bett und träume vom Tod des Auditoriums.“ Er: „Dem kleinen Tod?“ Siehst du, Leser_in? Er hat das Spiel kapiert und will witzeln. Wir schachern mit Roland Barthes’ Argumentation zum Tod des Autors. Ich sage: „Schach.“ Er, verwirrt: „Das gewinnst du nicht.“ Ich kontere: „Der pervertierte Wille (...) gewöhnt die Intelligenz daran, nur das zu sehen, (...) was dazu dient, die Intelligenz des anderen zu annullieren.“ Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister (S. 99). P. triumphiert: „Ha, ha, du sagst, Sex macht blöd!“ Er schließt den kleinen Tod des Auditoriums mit dem pervertierten Willen von Carlson kurz. Ich: „Nein, Süßer, ich sage, Liebe macht blind.“ Dann, zärtlich: „Und matt.“ Ich habe, das hat er gleich kapiert, die Liebe des Auditoriums zu sich selbst gemeint. Du kannst dir vorstellen, Leser_in, P. und ich landen immer im Bett miteinander. Im Bett raucht er nie. Aber ich mache dort dicke Luft. Relativ oft.
11. Dienstag, 7. Mai 2012: HART AN KIEFER
Gelb ist die Farbe der Eifersucht. Vergilben vor Eifersucht. Wenn wir schon von Liebe sprechen. Es gibt zwei Archive, in die ich wirklich verliebt bin: das von David Ender – ich sage: das Endersche – und das von Jack Hauser, für mich die Van Doren. Erlesene Archive, in der Doppelbedeutung des Wortes. Manchmal, wenn Hauser zu mir kommt, kitzelt er mich, und ich muss dann kichern wie ein Girlie. Ender ist wesentlich diskreter, vielleicht, weil das Endersche eine Schnullersammlung enthält. Da muss man nicht extra kitzeln. Ender klaubt verlorene Schnuller auf und erarbeitet, die Briten würden sagen, eine „found dummy collection“. Da kichere ich auch so. In die junge Warburg war ich auch verliebt, aber eben so, wie man sich heute in das Gespenst Rita Hayworth verlieben könnte, und die stolze Eco in Milano ist ein heimlicher Schwarm von mir.
Ha, ha, ich habe Rancières Der unwissende Lehrmeister drei Wochen lang vor P. versteckt. Dann schau einmal, wie du klar kommst. Am Dienstag war der 1. Mai, und da habe ich’s ihm wiedergegeben. Tag der Arbeit. Da muss man großzügig sein, zur Weihnacht der Werker. Und P. ist so einer. Ein Werker. Wenn ich ein bisschen zynisch sein will, sage ich zu ihm: „Ich bin ein Archiv der Liebe.“ Weil er dagegen nichts sagen kann. Wenn P. das Wort Liebe hört, wird er abgründig. Das, sagt er, wäre der satanischste Begriff, der in der Sprache existiere. „Ein Synonym für Ausbeutung, Lüge und Krieg“, sagt er. Da sage ich nicht nein. P. ist ein Kirchgänger in den Düsterwelten der Emotionen. „Das könnte ich selbst geschrieben haben“, feixt er hinter mir.
Leser_in, wenn du hören könntest, wie wir über die Liebe sprechen, dir würde heiß und kalt zugleich werden. Wir haben beschlossen, diese Konversationen für uns zu behalten. Noch. Denn wir arbeiten an einer Sprache für diese Weltwunde, und das ist nicht leicht. „Geliebter Führer!“, jauchze ich. Er: „Hitler?“ Ich: „Kim Jong Il.“ Er: „Die Liebe ist eine Himmelsmacht.“ Ich: „Lieber Gott, mach mich fromm.“ Er: „Liebe schließt den Magen.“ Arbeit an der Sprache eben. Wir verbeißen uns jetzt, was da noch kommen könnte.
„Kiefer“, dröhnt P. zur Ablenkung. Ich: „Ober- oder Unter-?“ Er: „Anselm.“ Anselm Ich kauf-mir-mal-‘n-Kühlturm Kiefer. Kühlturm-Bleibuch-Kiefer. Ich hasse diese Bleifolianten, diese Umkehrung der Alchimie, dieses Aus-gedrucktem-Gold-Blei-Gießen und -Walzen und -Falten und -Knittern. Diese unentfaltbaren Gewichte von Wagnerischem Pathos. Wenn P. einen seiner Kieferanfälle hat und wir daher eine bleierne Zeit haben hier oben hinter dem eisernen Tor unseres Elfenbeinturm-Stockwerks, dann befehle ich P. manchmal, zu Schmidt zu greifen. Und üblicherweise gehorcht er dann, wuchtet sein Zettels Traum-Faksimile (S. Fischer, 2004, 6. Auflage) auf den Tisch und wendet die Blätter. Arno Schmidt wäre gekränkt gewesen, hätte man ihn den deutschen Joyce genannt.
Der Einband des schweren Buchs knistert und knirscht, und wieder fragen wir uns, ob Luhmann (Niklas), wäre er Künstler gewesen, näher an Joyce oder Schmidt (ich flöte: „Oder Kiefer?“) gearbeitet hätte. „Luhmann hatte diese Zettelträume“, phantasiere ich (Leser_in, du siehst, wir schreiben wieder Bleizeit hier oben). Die Gesellschaft der Gesellschaft, die Sprache der Sprache – kieferhafte Topoi, aufgeworfen wie Landmassen, Kiefer wie ein Panzerfisch (Dunkleosteus terrelli), pathetisch wie ein dreifaltiger Richard (Wagner, Strauss, III.).
„Nein, Schönste, Luhmann ist nicht pathetisch“, knurrt P. in seiner Bleiwüste. Ja, schon gut, Zettelträume fliegen durch unsere wie gesiebte Luft. Ich kann Schmidt nicht zitieren, typografisch unmöglich. Wie ordentlich wirkt dagegen Dieter H. Stündels Übertragung von Finnegans Wake ins Deutsche (siehe „Das Stündel-Ereignis“ hier vom 12. April 2012) gegen Schmidts typografischen Exzess. Eine Luhmannsche Ordentlichkeit – formal. Kiefer kannst du nicht so einfach mit Schmidt zusammenbringen, Leser_in. Aber ich behaupte, du wirst das Internet nur verstehen, wenn du dich in die Netze von Joyce, Schmidt, Luhmann und Kiefer wagst.
„Harey!“ P.s Stimme hat einen hellen Hall. Er ruft mich zur Raison. Ich hatte eigentlich gehofft, dass ich über Kiefer zu einem Bernhardschen Tonfall finden würde, aber Irrtum. Bernhards Kiefersche Bücher. Frost. Gehen. Blei. Absacken und schwer sein. Statt dessen ist mir nach Ausgehen zumute, wie bei Barbi Marković. P. hat seinen kleinen Sohn R. vor ein paar Tagen für Mandelbrots Apfelmännchen zu begeistern versucht, und die beiden haben sich mit fraktalen Bildchen vergnügt. P. erzählt seinem Kind selbstähnliche Geschichten. „Das Mandelbrot der Literatur“, versucht er sich mir gegenüber zu rechtfertigen. R. versteht es auszuweichen, wenn’s ihm zuviel wird: „Ich bin ein Hund.“ Der kleine Kyniker. „R. ist der jüngste Kyniker auf diesem Planeten“, behauptet P.
Immer wenn R. da ist, läuft er durch mich durch, als wäre ich ein Teppichgeschäft. Handgeknüpfte Deko an den Wänden. Wenn der einmal aus seinen Kinderträumen aufwacht, dann werde ich mich nicht mehr sicher fühlen. Wuff. Ich habe ihm gemeinsam mit P. schon einmal ein eigenes kleines Regal mit Pädoarchivalien eingerichtet. Das R.sche Archiv. „Eine Vorsorgemaßnahme“, spottet P. Ich schrecke auf. „Wehe, wenn du auch nur daran denkst, mich vererben zu wollen“, warne ich ihn. Aber okay. Das R.sche ist mein Kind. Leser_in, glaubst du, dass diese Idee verrückt ist? Harey hat ein Baby. „Einen Ableger“, korrigiert P. und versucht damit, meiner vermenschlichenden Muttersentimentalität entgegenzuwirken. Erfolgfrei klarerweise.
12. Samstag, 12. Mai 2012: SPLATTERDISKURS
Jetzt hat P. richtig viel Arbeit. Also ist er hektisch. „Du bist viel zu privat in deinem Blog“, hat er mir vorgeworfen. „Werden wir jetzt etwa paternalistisch?“, stichle ich und lasse gleich folgen: „Willst du mir sagen, dass wir hier nicht in einem politischen Raum leben?“ Hier ist hier im Elfenbeinturm. Ich sage Elfenbeinturm. Ihn ärgert das Wort (P.: „Beinturm der Elfen.“). Eigentlich hätte er Lust gehabt, zum Berliner Theatertreffen zu fahren, aber das geht sich nicht aus. „Hate Radio“, sagt er. „Von Milo Rau. Das ist es.“ Wie eine Performance zu einem Völkermord konstruieren? Über dessen mediale Einpeitschung, schlägt Rau vor. Popmusik als Stoff, der Killer antreibt. Der Sender RTLM in Kigali wird in dem Stück nachgestellt. Der Musikraum des Tötens. Ich halte übrigens diese Floskel von „das ist nicht zu verstehen“ nicht aus.
Eben so, wie viele Leute es nicht ertragen, sich all die Geschichten vom Töten anzuhören, die aus diesem niemals schweigenden Erzählmund kommen, dessen Dichtungen Sarah Kane in den Selbstmord getrieben haben. Dieser Mund ist eine Struktur im menschlichen Körper, die ihn auffrisst. Nein, Leser_in, ich werde jetzt nicht eine Speisekarte des Schreckens herunterbeten, weil das eine Liste ist, die wir alle kennen. Die dich hilflos macht, weil du nicht weißt, wie diese Karte zu überschreiben wäre.
Ich frage P.: „Was ist das in euch Menschen, an dem schon Freud gescheitert ist?“ P. behauptet, er hätte da eine Hypothese. Er trägt sie mir vor. „Aber das kann ich nur dir erzählen“, wispert er. Ich will darüber schreiben. „Nein!“ Warum nicht, es ist doch eine elegante Hypothese. „Da hat ein Archiv leicht reden“, schnappt er und dann fragt er mich: „Kannst du den Mund hören?“ Wir sind beide ganz leise. Ich höre gar nichts. Er: „Dein Gedächtnis!“ Ich habe kein Gedächtnis, ich bin ein Gedächtnis. Also lausche ich in mich hinein. Leser_in, ich hab’s gehört. Der Mund hat einen Witz erzählt. Einen Witz! Und noch dazu in meiner Sprache. In der Sprache aller Archive. Dann hat er gelacht. Ich nicht.
„Glaubst du, Harey, es wird ein Sarah-Kane-Revival geben?“, fragt P. „Glaubst du, es wird ein Citizen-Kane-Revival geben?“, frage ich, noch verängstigt, zurück. Natürlich wird es ein Sarah-Kane-Revival geben. Sarah Kane ist eine Passionsfigur. Es wird auch ein Gina Pane-Revival geben. Weil der große Schmerz zurückkommt. Und wenn das passiert, igelt man sich in Europa gerne ein, Stacheln nach innen, die Wut, das Blut, die Eigenschmerz-Injektion.
Ich habe wieder ein Buch vor P. versteckt. Diesmal Das Rumoren der Archive von Wolfgang Ernst. Weil ich das lebendige Beispiel dafür bin, dass Archive nicht schweigen. Und weil ich P. stressen will. „Rosebud, Rosebud“, nörgelt P., aber ich bin es, die mit ihm Schlitten fährt. Die Welles-Masche. Zieht bei mir nicht. „François Hollande hat die Wahl in Frankreich gewonnen“, rufe ich. P. rülpst. Er rülpst! Dann sagt er: „François Faymann.“ In Österreich kann man über Politik nicht mehr sprechen. Schon gar nicht über Kulturpolitik. P. will, dass ich über die österreichische Kulturpolitik schreibe. Weil ich so viel darüber weiß. „Aber ich bin nicht Sarah Kane“, sage ich. Ein Splatter-Diskurs über die Kulturpolitik? Soll ich darüber schreiben, wie willkürlich ein politisches und beamtetes Zombietum in diesem Land an dem schmatzt, was es „Kultur“ nennt? Das ist doch eklig, nein, das mache ich nicht. „Wir sind keinesfalls dieser Meinung“, höre ich aus dem Klo. „Ohnehin nicht!“ Ist das P.? Wer ist wir? Whatever.
Dann schreibe ich doch lieber darüber, in welchem Saft sie... Nein, Saft ist nicht gut für ein Archiv. „De Gaulle!“, tönt es aus dem Klo, und die Stimme erinnert mich an Wolfgang Bauer. „Pompidou, Giscard d’Estaing, Mitterrand, Chirac, Schierack, Särközi, Ollonde, Schisscaard, Pompon und Balladüür!“ Thomas Bernhard, Wolfgang Bauer und Werner Schwab. Die drei Präsidentinnen. Wird es eine Schwab-Renaissance geben? Ich: „Balladur?“ Aus dem Klo ein Grölen: „Ääduuuaard, gaulle, gaulle!“ Der war kein Präsident. Entschuldigung, ich weiß jetzt nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. P., ganz nah, flüstert: „Da schreit etwas aus dem Klo.“ Ich fahre zusammen, flüstere ebenfalls: „Ist das die Figur des Dritten?“
13. Donnerstag, 17. Mai 2012: CHOWANIEC-COLLIDER
P. ist aufs Klo nachschauen gegangen. Da war niemand. Ein beunruhigendes Erlebnis. Einbildung? Wie auch immer. Vielleicht war’s ein Pirat vom Planeten Nibiru... Das Unheimliche hat jedenfalls eine Stimme. Vielleicht hat das Unheimliche auch nur so getan, als ob es aus dem Klo grölen würde. In Wirklichkeit war es aber in P.s Kopf oder in dem versteckten Buch Das Rumoren der Archive. „Ich habe vergessen, wo ich es versteckt habe“, melde ich P. „Vergessen?!“, schreit der mich an. Ungläubig. Und weil mir die ganze Sache jetzt peinlich ist, sehe ich ihn mit meinen Buchrücken besonders kühl und abweisend an.
P. lächelt mir zu. Es weiß, dass ich gerne dabei zuschaue, wenn er etwas vergeblich sucht. Dass ich das Drama seines Suchens genieße. Er hat eine Strategie der überfallsartigen Fahndung entwickelt, die ihm jetzt auch nicht nützt. Mich beschäftigt mein eigenes Vergessen. Um mir mein Vergnügen zu vermiesen, sucht er nicht mehr. Ich bin übrigens ganz sicher keine Imitatorin der Figur des Dritten. Aber ich bin genauso sicher, dass hier etwas Drittes ist.
Ich wollte eigentlich etwas über die Piraten schreiben, und zwar darüber, dass sie mir sympathisch sind. Aber weil sich P. vorgestern über sie lustig gemacht hat („Zerebrale Einzeller, die ihre paar Dendriten ans Netz schließen müssen, damit sie überhaupt denken können.“ Das klingt doch irgendwie beleidigt, oder?), ist mir die Lust vergangen. Ähnlich angepisst lustig gemacht hat er sich auch über die Herausgeberin eines Tanzlexikons, die von ihm vor ein paar Wochen zwei Gratisbeiträge für dieses Projekt haben wollte und ein bisschen spitz auf seine Antwort reagiert hat, dass es bei ihm ohne Geld keine Musik gibt.
Überhaupt haben wir ganz andere Pläne, was den Tanz angeht. P. ist ja ein ganz normaler Schreiber. Aber ich bin ein Archiv. Und mir sind diese Galeerentypen aus der Kunst und aus der Wissenschaft, die alles Mögliche gratis machen, suspekt. Die sind auch viel zu ernsthaft. So aufopfernd, so süchtig nach Bestätigung. Ich mag dich, Leser_in, du liest das hier nur, weil es dir Spaß macht und weil du dir denkst, dass ich die ganze Zeit über etwas zurückhalte. Vielleicht hast du ja recht. Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis: Ich habe es schon. Mein neues Regal. P. ist begeistert: „Was für ein schönes Regal!“ Genau so haben wir’s uns vorgestellt. Anstatt zwei Beiträge für ein langweiliges Tanzlexikon in die Tasten zu massieren, wird P. mit mir dieses Regal besiedeln.
Leser_in. Wolltest du nicht auch schon längst ein neues Regal? Für dich und das Deine? Wolltest du dich nicht auch, wie ich das jetzt tun werde, neu sortieren – einfach, weil das jetzt sein muss. „Deine Stimme ist so verschwörerisch“, flüstert P. „Machst du eine Lebensberatung auf?“ Er hält mich für überheblich. „Es gibt sicher Leser_innen, auf die das Wort Regal betulich und ordnungsversessen wirkt, Leute, die darauf stolz sind, eben ein regalfreies Leben zu führen“, sagt er. „Ein unreguliertes Leben, das nicht auf Bretter geschlichtet werden kann.“ Gut, er will mich provozieren. Beim Staub auf meinen Archivalien, das wird ihm nicht gelingen.
Der Staub ist das Koks in meiner Nase, auf Staub fahre ich total ab. Asche zu Asche, Staub zu Staub. „Du hast dich auf mir abgesetzt, und ich schnupfe dich auf“, sage ich zu P. Der ein Sterblicher ist. P. macht einen Sidestep: „Getan wird, was Spaß macht.“ Was der unter Spaß versteht, ist für andere nur ein Klotz am Bein. Die Piraten setzen sich aus ähnlichen Freaks zusammen. Beute ist alles. Das Loading ist die Währung. Up und down. Eine Handlung, keine Münze. Die Münze muss eingeschleust werden. Das ist beinahe wie Gütertausch. Ich zu P.: „Du lebst in einer neuen Welt.“ Kannst du dir vorstellen, Leser_in, dass P. seine ersten Artikel auf der Schreibmaschine geschrieben hat?
Als P. noch mit der Schreibmaschine schrieb, war Magdalena Chowaniec ein Kleinkind. Heute ist sie 29. When I don't dance I collect crystal balls, behauptet Ch. heute zusammen mit Mathieu Grenier. Jahrelang hat P. mich angejammert, dass niemand im zeitgenössischen Tanz den Standardtanz implodieren lässt. Jetzt hat Ch. damit begonnen. Bitte, Leser_in, pass’ auf, wenn du mit P. sprichst. Wenn er nicht schreibt, dann sammelt er Glitzersätze. Er hat eine Affinität zur Standardkommunikation, die nur mit selbstbräunenden Cremes zu vergleichen ist. Das geht bei mir nicht. Und er weiß, dass ich darauf nicht einsteige.
„Chowaniec hat den Standardtanz downgeloaded“, sagt P. In unserem Sinn ist herunterladen ein zweideutiger Begriff. Wie einladen oder aufladen. Etwas laden, bis es herunterkommt. Und es dann revitalisieren, bis es, um im Medizinerjargon zu sagen, „auf dem Tisch bleibt“. Ich habe eine Theorie über Teilchenlinguistik in Arbeit, für die Ch. reichlich Metaphernmaterial liefert. Teilchenlinguistik? Also gut, Leser_in, stell dir einen fiktiven Large Association Collider (LAC) vor, in dem kleinste Partikel (P.: „Sub-Sems.“) aufeinander geschossen werden. Dabei entstehen deviante Assoziatieme (abweichende Verbindungsteile) oder sogar Antilingueme (reverse Sprachteilchen).
Wir waren wieder einmal gemeinsam aus, und wir haben When I don't dance I collect crystal balls gesehen. Danach passierte wieder einmal das Unvermeidliche. Ich sage: „Aber diese Arbeit geht nicht weit genug.“ P. findet das oberflächlich. „Die beiden schicken den Standardtanz mit seinem kalten Glitzerglanz durch eine Assoziationshölle“, schwärmt er. Seine manierierte Sportivität, seine Eitelkeit und Brutalität würden dort abgeschmolzen. Wir debattieren darüber, ob das Stück nicht an bestimmten Stellen zu anekdotisch geraten ist oder sich in der Parodie verheddert. Aber dann fällt mir auf, dass gerade die Parodie immer wieder unterbrochen und zerschreddert wird.
Gerade da entsteht das Material, das in den LAC heruntergeladen werden kann. Auseinandergenommen wird in When I don't dance I collect crystal balls auch der zeitgenössische Tanz, und so kommt er nicht als das überlegene Konzept zum Einsatz. Dadurch entsteht eine Instabilität in der Informationsübertragung, und wir konnten beobachten, wie sich der Standardtanz mit seinen Repräsentationen a. des Körpers und b. der Choreografie aufspaltet, das heißt, dass sich die Gluonen (Klebeteilchen) in der kommunikationsatomaren Struktur verschieben (décollage im Sub-Sem-Bereich). Wir konnten auch beobachten, dass dabei in den politischen Oberflächen des Standardtanzes Risse entstehen, dass ihre Materie kollabiert und Ch. diesen Kollaps für eine Paraphrase der Satire nutzt. Daher haben wir auch gelacht.
LAC des signes? Der tiefe, tiefe Zeichensee. Auf diesem liest sich When I don't dance I collect crystal balls innerhalb der kleinsten Zeichenbestandteile wie ein Rausch der Reformulierung. Du siehst, Leser_in, wir müssen schweres Gerät auffahren – der LAC ist ein sehr schweres Gerät – und es ohne Rücksicht auf Verluste testen. Und natürlich ist der LAC eine piratische Parodie auf den Large Hadron Collider (LHC), diesen Riesen-Teilchenbeschleuniger von CERN in der Schweiz. Magdalena Chowaniec hat unseren Collider erzwungen. Sie ist doch weit genug gegangen.
14. Donnerstag, 24. Mai 2012: NICHTS IST EIN PLANET
R. und sein P. teilen eine gewisse Faszination für schweres Gerät. Ich finde schweres Gerät nicht besonders kindgerecht, aber bitte. Vorige Woche sind R. und P. wieder in ihr Bett-Raumschiff gestiegen. R. hat die Reißleine der Leselampe gezogen und so die Triebwerke gestartet. Und dann ging’s auf in die unendlichen Weiten des Weltraums. Erst zum Planeten der Hunde, und von dort... Nach etlichen Landungen schlägt R. vor: „Jetzt fliegen wir zum Planeten Nichts.“ P.: „Aber wenn da Nichts ist, dann gibt es auch keinen Planeten.“ R., mit funkelnden Augen: „Doch, der Planet Nichts ist eine Fata Morgana.“ P., der im Jahr 5 v.R. ein Labor mit dem Titel Die Wirklichkeit Fata Morgana im Tanzquartier Wien organisiert hat (mit Jack Hauser, Varinia Canto Vila, Oleg Soulimenko, Iva Rohlik und Ivetta Gerasimchuk), zuckt zusammen. Wo eine Fata Morgana erscheint, ist nichts. Nur die Projektion. Projektionen gibt es auch im Kosmos. Sie entstehen durch Gravitationslinsen.
Ich zu P.: „R. hat seinen LAC in vollem Betrieb.“ Er: „Wir sind zum Planeten Nichts geflogen.“ Ich: „Und wie war’s?“ Er: „Da war etwas.“ Ich: „?“ Er: „Alles.“ Wir sinken in die Arme der Fata. Es ist da, aber da ist nichts. Um uns abzulenken, hat P. sich mit mir im Schlepptau zu den beiden Memory-Performances des Living Dance Studio aus Beijing bei den Wiener Festwochen geflüchtet. P. fährt auf Dokuperformances ab wie eine Rakete. Ich habe, nebenbei gesagt, eine sehr schöne Archivalie, Lois Wheeler Snows Buch China On Stage von 1972: ein Dokument aus der späteren Zeit der Kulturrevolution. Mao, der politische Fatamorganist. Da kommt der fruchtige Chinageruch wieder hervor, den wir am 27. April schon einmal wahrgenommen haben. Aber jetzt aus den Erinnerungen des Living Dance Studio an die Revolutionsballette, an die Lieder und Reden, an die Plakate und Versammlungen, an die Theorie und die Praxis. China und „Der große Sprung nach vorn“ 1958–1961 und China mit der Kulturrevolution 1966–1976.
Dieser Geruch lässt P. nicht los. „Wir müssen vorsichtig sein, wenn du über Kunst schreibst“, sagt er. Es könne leicht etwas abgehoben wirken, so wie bei meinen Assoziationen zu When I don't dance I collect crystal balls. „Immerhin habe ich dabei einen Large Association Collider erfunden“, setze ich dagegen. Er: „Eben. Du bist abgehoben. Du hast dich in den Vordergrund gedrängt und das Stück nicht sehr sorgfältig analysiert.“ Okay, wir haben Lehrstunde in Sachen Kunstkritik. Ich gelobe, mich zu bessern. Aber der LAC ist meine Urheberschaft. Den werde ich patentieren lassen. Ich und P., wir sind zwei Urheber, das lassen wir uns nicht wegpiratisieren von irgendwelchen Booty Lootern. Das gilt auch für meinen Blog. Davor steht ein großes ©. Und Punkt. Und LA©. Ich lasse P. in unserer Galeere schuften (er nennt es „umsetzen“). Wir machen unseren eigenen „Großen Sprung nach vorn“, dafür gehen wir über Leichen wie der große Vorsitzende und Fatamorganist oder wie der Clown Pennywise aus Stephen Kings Roman It. P., verschnupft: „Ich gehe über keine Leichen, dirty Harey!“
Schon gut. Mao ist natürlich auch eine Beute. Wissen die Künstler_innen aus Beijing das eigentlich? Dass sie in Ländern gastieren, deren Linke – naja, Teile davon – den Ausbeuter Mao in den Sechzigern als Heiland für sich erbeutet haben? „Es ist so leicht geworden, die Linke links zu überholen“, sage ich zu P. Der lacht sein Pennywise-Lachen wie sonst nur im Theater. Dann macht er wieder einmal einen großen Sprung nach vorn. „Das ist kein Pennywise-Lachen“, ruft er dabei mit einem kurzen Blick nach hinten. Vorn angekommen, sagt er: „Und jetzt will ich auch einmal die Linke in Schutz nehmen.“ Ich frage ihn erst gar nicht, wie er das tun will, sondern freue mich an meinem Satz: „Oft weiß die linke Hand ja nicht, was die rechte tut.“ P. kommt auf einem Bein zurückgehüpft: „Wie meinst du das?“ Ah, das sind Momente! Wenn ein Satz in der Luft zittert und dabei einen Zusammenhang infiziert, für den er gar nicht gedacht ist. Er: „Ich verdanke der Linken mein Leben.“
Vor langer, langer Zeit habe ich P. gebissen. Seitdem ist er irgendwie untot. Sein Leben, ha! Wenn er sich dessen bewusst zu werden scheint, äußert er mit heiserer Stimme Worte wie: „Aus der Erde fällt ein Regen in den Himmel.“ Überhaupt spielt er andauernd Theater. Trotzdem: Er ist einer von uns geworden. Wenn ich in seinen Fleischpapieren blättere, vor allem in den Konvoluten, die er selbst nicht kennt, dann verstehe ich euch Menschen. Also, ein bisschen. Noch besser verstehe ich euch, wenn ich an meinen eigenen Archivalien sauge. „Du wolltest die Linke in Schutz nehmen“, erinnere ich ihn. Er fuchtelt mit dem Zeigefinger: „Ja, aber links unten und nicht links oben.“ Wir sind also in der Kritik der Linken aus der Perspektive von links unten. Aus der Perspektive also des Living Dance Studio. Ich: „Aber das funktioniert nicht mehr. Wenn du Links und Rechts, jeweils oben und unten, als Modell aufzeichnest, bist du immer noch in der Fläche.“ Er: „Immerhin schon in der Fläche.“ Ich: „Aber Flächenmodelle sind so richtig old school.“
P. ist ein Fan von flüssigen Modellen, ich bevorzuge eher das harte, fixierbare Raummodell. Argumente fliegen aufeinander zu, es gibt Kollisionen. Wir können uns auch nicht darüber einigen, ob mit dem Instrument der Sprache überhaupt Modelle erstellt werden können. Er verliert sich in einer Beschreibung von semantisch angereicherten Modellen, ich verheddere mich in auf Semantiken gesetzten Modellstrukturen. Wir sind hart auf dem Planeten Nichts gelandet.
15. Montag, 4. Juni 2012: KÜNSTLER_INNEN SIND KRÖPFE
Der Spiegel ist „Das deutsche Nachrichtenmagazin“. Daher hat er in seiner Ausgabe vom 26. Mai 2012 eine herzerwärmende Nachricht für die Bedürftigen unter seinen Leser_innen – auf der Titelseite: „Ein gutes Ende.“ Untertitel: „Wege zu einem würdevollen Sterben“. Eine tolle Archivalie! In Großaufnahme zu sehen: ein Paar junger Hände, das zartfühlend die Hand eines alten Menschen ergreift. Im Hintergrund schimmert verschwommen ein Fenster in wolkigen Grüntönen. Die Wörter „Ein“ und „Ende“ sind in der Farbe eines dunstig-hellen Himmels gehalten, das Wort „gutes“ in Kursiv leuchtet in verhalten sonnigem Gelb. Der Untertitel ist hoffnungsvoll grün, geschmackvoll abgestimmt mit dem Fenster, durch das ein mildes Jenseits schimmert.
Das gute Ende! Eine spiegelnde Therapiesitzung. Wenn das Leben schon schlechter wird. P. erzählt, er hat wieder die Stimme des Dritten gehört (s. 12.5.2012). Diesmal klar und deutlich. Keine Spur von Grölen. Sie kam auch nicht aus dem Klo. Die Figur des Dritten habe, so P., nach einer Materialisierung gefragt. Ich: „Woher ist diese Stimme diesmal gekommen?“ Er: „Schwer zu sagen. Jedenfalls nicht aus deinen Archivalien.“ Leser_in, wir haben hier ein Problem. Nicht nur, dass meine Archivalien zunehmend unruhig werden, auch P. befindet sich in einem entrückten Zustand. Das ist er immer, wenn er seine Buchhaltung fast fertig hat. „Die Buchhaltung ist eine Autobiografie.“ Er bleckt die Zähne. „Jahr für Jahr wird geliefert. In der Buchhaltung wird alles bekannt, was Arbeit und Staat miteinander verbindet.“
Alle Staatsbürgerlichkeit, das habe ich bereits gelernt, erzeugt sich aus einer Fiskalbiografie zwischen Einnahme und Abgabe in Relation zu Gewinn und Ausgabe und auf Basis von Vereinnahmung und Verausgabung. Eine Buchhaltung besagt, ob ein abgelaufenes Lebensjahr zu einem guten oder schlechten Ende gekommen ist. Jede Buchhaltung kommt in der Lektüre leicht daher, aber das Aufschreiben ist harte Arbeit, über die kaum jemand öffentlich spricht. Dichtung ist da ganz schlecht. Buchhalterische Dichtung geht gar nicht. Es ist eine Poesie, die sich, wenn Phantasie darin wirksam wird, aufhebt.
„Meine persönliche Abgabe verwirklicht sich in ihrer Herausgabe, und da ist die Behörde ganz verlegerisch. Das Herausgegebene wird verbucht, und das Konzert aller Verbuchungen ergibt ein staatliches Budget“, erklärt mir P. Aber es sei nicht ein einfaches Zahlen, sondern ein Rück- und Vorauszahlen, ein Lebengeben in Form von Arbeit zur administrativen Ermöglichung einer Existenz in der Gemeinschaft. „Die Überweisung weist mich in die Gemeinschaft ein und verhindert meine Abweisung. Ich überweise um mein Leben und beweise damit, dass ich lebenswürdig bin im Sinn der Administration als Repräsentantin der Gemeinschaft.“
Die Steuerung der Gemeinschaft wird durch die Besteuerung aller Einzelnen erst möglich. Es ist ein großes Werk, das hier dauerverlegt wird. Die Administration ist das Werk dieses Werks: die Anwendung des gemeinschaftlichen Budgets zur Erhaltung und Beförderung des gemeinschaftlichen Lebens. Diese Anwendung erschließt Möglichkeitsräume des Wie der Verwaltung. In diesen Räumen entsteht administrative Politik. Und hier wird die Fiktion wirksam. Der Fiskus ist real, das Konstrukt der Verwaltung seiner Gewinne aber ist fiktiv. Administrationen sind ausnahmslos Produkte einer Nutzungsgeschichte. Um sich nicht selbst verwalten zu müssen, überantworten Nutzer_innen eines Gemeinschaftwesens ihre Verwaltung professionellen Verantwortlichen und ihren Organisationen oder Organen. Diese Verantwortlichen sind nutzungshistorisch – in einer Demokratie – uneins über die Methoden des Verwaltens.
Alle meine Archivalien sind Produkte aus den Konflikten, die sich aus den Verhältnissen der Einzelnen zu sich, zu einander und zu ihren Administrationen ergeben. „Die Administration beansprucht immer die Position des Dritten“, raunt P. Administrationen verhalten sich niemals demokratisch, sondern betrachten die Abgaben der von ihnen Verwalteten als ihr eigenes Kapital. P.: „Keine Behörde bedankt sich jemals bei ihren Finanziers für das Überwiesene. Keine Regierung erweist ihren Bevölkerungen ihre Reverenz für das Gegebene.“ Ich, ironisch: „Ihr werdet eher abgezockt, überwacht und gegebenenfalls bestraft.“ Er: „Die Nehmer haben die Geber im Verdacht, und sie rächen sich für die Demütigung des Nehmens durch immer höhere Forderungen und durch die Anmaßung einer willkürlich agierenden Autorität.“
Das ist ein Lieblingsthema von P. Die Entmündigung durch das Dritte, durch die Anmaßung der Administration, die sie zu einer parasitären Bürokratie macht. Ich schnurre: „Beamte opfern sich auf. Ihre Gehälter werden geheim gehalten, weil sie so gerechtfertigt sind, dass sie keiner Rechtfertigung bedürfen.“ Der Wiener Kulturstadtrat sagte gerade in der Tageszeitung Der Standard (26.5.2012): „Dass es Kulturschaffende gibt, die mehr Geld wollen: Damit muss ich leben.“ Mir tut er leid, und ich hoffe, er hat den Spiegel gelesen für den Fall, dass er einmal nicht mehr damit leben kann, Künstler_innen als lästigen Kropf seiner wundervollen Administrationstätigkeit zu betrachten.
Wie schön wäre es doch, die Gaben der Geber zur Erhebung und Erhaltung des eigenen Ruhms ausgeben zu können, ohne dumme Behelligungen erfahren zu müssen. Aber nein, dann kommt die Frage, warum nun 700.000 Euro für Eigenwerbung verschleudert werden. Und warum er Millionen in Prestigeprojekte stopft, während Künstler_innen als Bittsteller_innen behandelt werden. Wo die doch die eigentliche Rechtfertigung für sein Amt liefern. Der Stadtrat aber schließt seine Augen, und er träumt vielleicht von einem Kulturamt ohne Kulturschaffende, von einem Amt, das an sich bereits Kultur genug schafft. Ein Rat, der von Gnaden ist und voll der Sorge um sich selbst. Damit muss er leben.
16. Samstag, 9. Juni 2012: DOCUMENTA : FUSSBALL
Die Wochenzeitung Die Zeit schreibt: „Das hat mit der in Künstlerkreisen so beliebten Grenzüberschreitung nichts zu tun, es ist eine Grenzaufhebung. Natur ist Kultur, und Kultur ist Natur, dieses Mantra verfolgt einen auf dem Parcours durch Kassel.“ P. freut sich. Seit Jahren folgt er migrativen Bewegungen von Kunstwerken zwischen den verschiedenen Disziplinen und findet Kunst außerhalb ihres Definitionsbereichs: Extramediale Kunst. Und ebenso lang jammert er darüber, dass sich so Viele an sentimentalen Kunstbegriffen festnuckeln. Oder an Kommerz. Oder Populismus. Ganz besonders im Tanz. Und jetzt das: „Die kulturelle Produktion der Tomatenpflanze ist die Tomate.“ Und: „Wir zeigen auch einen Garten für Schmetterlinge. Der soll den Schmetterlingen gefallen, nicht den Menschen. (...) Beim Skulpturenpark für Hunde geht es nicht um Ironie, sondern um Rückzug vom Spektakel. Um das Kommunizieren nicht mit Menschen, sondern mit anderen Tieren. (...) Alles kann Material für Kunst sein. Die Definition von Kunst, so wie ein Künstler über Kunst denkt, ist nicht in den Grenzen der Disziplinen zu denken. Ich denke nicht, dass die Werke der Menschen besser sind als andere Werke.“ – Das ist Carolyn Christov-Bakargiev, die Leiterin der documenta 13 (Quelle: Süddeutsche Zeitung, 7.6.2012).
„Fantastisch!“, jubelt P. Eine Kunstausstellung – und noch dazu die wichtigste weltweit –, die von einer desanthropozentrischen Prämisse getragen ist! Wir wissen noch nicht so lange, dass das anthropozentrische Weltbild so falsch ist wie es einst das geozentrische war. Eine sehr spannende Kommunikationsfigur (als Modell im Kommunikationsfeld rund um die documenta) war oder ist auch die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche als Veranstalterin einer Ausstellung von Stephan Balkenhol und Christov-Bakargiev. Balkenhol hat eine männliche Statue, die mit ausgebreiteten Armen auf einer goldenen Kugel balanciert, weithin sichtbar in den Turm der Kasseler St. Elisabeth-Kirche platziert. Die christliche Kirche hatte das geozentrische Weltbild im 4. Jahrhundert von der klassischen griechischen Antike übernommen und seine Gültigkeit im Mittelalter inquisitorisch verteidigt. Giordano Bruno wurde im Jahr 1600 für seinen Widerspruch gegen diesen ideologischen Schwachsinn öffentlich verbrannt.
Künstler_innen werden immer wieder als – freiwilige oder unfreiwillige – Propagandist_innen für klerikale und andere totalitäre Systeme missbraucht. In diesem Sinn ist es sehr realistisch, dass in Kassel jene beiden Weltbilder, die nun miteinander in Auseinandersetzung geraten, präsent sind. Das anthropozentrische Weltbild der Moderne mitsamt ihrem postmodernen Neoliberalismus (dem Anti zur postmodernen Philosophie) und Posthumanismus führt die Menschheit geradewegs in eine Romantik der Selbstauslöschung. Das wissen heute sogar Einige unter den Wirtschaftsliberalen, die immerhin für das anschwellende Desaster der Gegenwart verantwortlich sind. Sein Gegenmodell in der documenta 13 – von Christov-Bakargiev als so holistischer wie verzweigter Denkraum präsentiert – baut sich um die Idee von „Collapse and Recovery“, Zusammenbruch und Wiederaufbau. Der Titel des Einleitungstexts auf der Website der documenta lautet: „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.“ Das etwas frei zitierte, mögliche Original findet sich auf der Website der Streetswing Dance History Archives: „The dance however was very frantic, roared, rattled, twanged, contorts and tumbles and lasted for quite awhile.“ Als Charakterisierung des aus Afrika kommenden Bamboula-Sklaventanzes. Von Bamboula kommt auch der deutsche Gaunersprachbegriff Bambule, den Ulrike Meinhof 1970 als Titel für ihren Film über den Aufstand von Mädchen gegen ihr Erziehungsheim gewählt hat.
P.: „Die documenta 13 ist eine feministische Ausstellung.“ Ich: „Und eine kynische.“ Der Skulpturenpark für Hunde. P.: „Feminismus und Kynismus!“ Ich: „Hipparchia!“ Die Feministin unter den antiken Kynikern. P: „Der Künstler ist ein Hund?“ So ähnlich: Dieras, das ist die Idee. Ich zitiere wieder Christov-Bakargiev aus der SZ: „,Die Definition von Kunst, so wie ein Künstler über Kunst denkt, ist nicht in den Grenzen der Disziplinen zu denken.‘ (...) ,Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Frauen und Hunden oder zwischen Männern und Hunden. Auch nicht zwischen Hunden und den Atomen, die meinen Armreif bilden.‘“ Leser_in, bis du über das Wort Dieras gestolpert? P. und ich spielen gern mit einer dierastischen Genderologie (unsere Erfindung, bilde ich mir ein), die das weibliche (die), das männliche (der) und das „sächliche“ (das Tier, das Geschlecht) Genus miteinander verbindet: die(de)r(d)as. Unsere Dierastik ist ein postbutlerianischer Ansatz, der patriarchalische und matriarchalische Rhetoriken unterläuft. Leser_in, wir erfinden andauernd etwas. Das macht Spaß! Christov-Bakargievs Ideen passen jedenfalls gut zu unserer Dierastik: einer Emanzipation auch des „sächlichen“ Geschlechts, die keine dichotomistische Zwittrigkeit kennt. Wie übrigens auch R., wenn er sagt: „Ich bin ein Hund.“ (Siehe 6. 5. 2012) Wir haben also den Eindruck, dass die documenta 13 eine dierastische Note hat, mit kynischen Implikationen auf einer anthropoperiphären Basis. Aber wir haben die Schau ja noch nicht gesehen, wir untersuchen vorerst nur ihr Kommunikationsfeld.
Ein Wunder ist geschehen. Kann es Zufall sein, dass diese documenta gleichzeitig mit der Fußball-EM beginnt? Die EM hat den Aktivistinnen der Femen-Gruppe zu großen Auftritten verholfen. Oder anders formuliert: Sie hat spektakuläre Protestaktionen notwendig gemacht. Und wie sonst auch produziert der Fußball hier in den Medien tänzerische Metaphern. Das Handelsblatt zum Beispiel schreibt: „,Bolschoi‘ in Breslau: Leichtfüßig wie die legendären Ballett-Tänzer hat die russische Nationalmannschaft ihren ersten EM-Gegner Tschechien schwindelig gespielt.“ Die documenta zitiert einen Sklaventanz, aus der Europameisterschaft springt das Ballett. Das sollte dem Ballett zu denken geben. Denn hier liegt der große ideologische Unterschied der beiden Veranstaltungen. In der einen wird die Sportart Fußball zum absoluten Finsterling. Von Julia Timoschenko und der kranken ukrainischen Politik zum Beispiel ist gerade nichts zu hören oder zu lesen. Die Bevölkerung im Land ist ruhiggestellt. Die Circenses sollen nicht gestört werden.
Der Fußball ist hier – und kein noch so gelungenes Match kann das aufwiegen – ein politischer Knebel, ein mieses Ablenkungsmanöver, ein primitives nationalistisches Pseudokriegsspiel, eine perverse Prostitutionsmaschine, eine Kloake der Korruption und eine Bühne für den Rechtsradikalismus. In dieser Form ist Fußball ein Verbrechen. Dagegen erscheint die documenta als radikales Drittes, als in neuem Sinn aufklärerisches Antiparadies (das zu Lösungen auffordert anstatt wie ein faschistoides Service Erlösung zu versprechen) im gesellschaftlichen Diskurs. Auch hier gibt es Matches: Kunst der Kirche versus Kunst der Aufklärung. Oder mit Bezug auf die EM: Kunst, die Genzen aufhebt, versus Sport in seinem engen Emotionalisierungsfeld. Dass aber auch mit Fußball Kunst zu machen ist, haben unter anderen Massimo Furlan („Das Wunder von Cordoba“) im Jahr der Euro 2008 und schon zwei Jahre davor Anne Juren gezeigt. Und der dem Sakralen abgewandte österreichische Heilige Helmut Qualtinger hielt es als Kunstfigur des Travnicek beim Kicken mit dem Format des Kleinen: „Simmering – Kapfenberg, das nenn’ ich Brutalität.“
17. Montag, 11. Juni 2012: MEESE TANZT ES
Natürlich habe ich Jonathan Meese verschwiegen, und ich weiss, es war ein Fehler, ein schwerer Fehler, und P. ist völlig fertig deswegen: „Wie konntest du Meese vergessen!“ Ich: „Verschweigen, nicht vergessen.“ P.: „Noch schlimmer, verschweigen. Wie kannst du den Verschwiegensten unter den Lauten verschweigen? Wie konntest du den, der sich in den Lärm lärmendst mischt und dabei alles nicht sagt, was ohnehin schon alle von sich geben, einfach ausblenden!“ Aber ich liebe Meese doch! „Nein, du liebst Meese nicht!“ Aber doch! „Dann liebst du Meese nicht genug. Meese liebt Bücher! Er liebt deine Innereien, er liebt dich, und er liebt seine Mutter, und er liebt die Welt!“ Ich habe Meese verschwiegen, weil ich mich selbst vor mich ohne Selbst gestellt habe. Fluchwürdige Harey! Dabei ist doch Meese die Femen der Kunst, dabei ist er doch der Wiederaufbau, jetzt schon ist er die Nachkriegszeit.
Jonathan Meese ist Femen und Travnicek in einem, er ist die Verheiratung zwischen Femen und Travnicek, Meese ist die Brutalität (Ausrufezeichen, Ausrufezeichen). Er ist der Porzellanladen im Elefanten der Kommunikation. Er sagt, Kunst ist alles. Er sagt alles. Und wer ihm die Worte von den Lippen liest wie die eines Verkünders, der hat die Kunst nicht verstanden, und wer ihn für einen Kasperl hält, hat den Kasperl nicht kapiert. Jonathan Meese wäre kein Aktivist, würde er nicht gegen den Aktivismus wettern. Endlich kommt Meese und sagt Dinge, denen ich überhaupt nicht zustimmen kann, und in diesem Dissens bin ich ganz und gar er. Oder ist er komplett ich. Wer schießt immer ein Tor? Meese. Wer ist das Tor? Meese. Wer tanzt in der Kunst? Meese. Meese ist ein Tänzer, der durch alles pflügt, was mit kaltem Konsens den Tod beschwört. Von allem.
Das ist Leidenschaft. Wenn du zu etwas tanzen willst, Leser_in, dann lege einen Meese auf und zieh die spitzesten deiner Spitzenschuhe an. Spitzenschuhe, die so spitz sind, dass sie jeden Boden perforieren und aufschlitzen, so dass der faulige Saft darunter herausspritzt, die Solinger Klingen deiner politischsten Schuhe hoch, und ja, lass dein Zentrum los, Mamma mia, wie Liz Taylor in einem ihrer legendären Interviews gemeinsam mit Richard Burton hervorstieß. Wer hat Angst vor Jonathan Meese. Alle haben Angst vor dieser Virginia der feuchtgespuckten Mikrofone. Ich zu P.: „Und wehe, du wirst jemals exegetisch mit meinem Meese.“ Er: „Exegetisch?“ Ich: „Wenn du ihn in die Analyse nimmst, ist das ein Anschlag auf ihn.“ Er: „Sein Wort ist das Fleisch.“ Ich: „Das wilde, das wuchernde Fleisch, das Sichaufwerfen des Wortfleischs! Die documenta ist ein Dünnpfiff, sagt er.“ P.: „Weil er das Verdauungssystem versteht!“
Da ist P. dabei. Bei Fragen der Verdauung hat er das absolute Gehör. Vernimmt die dünnsten Pfiffe. Reagiert auf die leiseste Blähung, die zarteste Verstopfung vor dem letzten Loch. So wird am Ende doch alles gut in der öffentlichen Rede, in der jetzt nichts anderes mehr zu tun bleibt, als sie zu verweigern oder sie durch Exaltation zu zertrümmern und aus dieser Zertrümmerung ein Performativ zu machen, das den Totalitarimus des über mediale Konventionen errichteten Maulkorbgebots aufplatzen lässt.
18. Dienstag, 19. Juni 2012: KUNST DES ZÖGERNS
Ein Satz: Das Anwesende so lange anstarren, bis das Abwesende darin so deutlich wird, dass das Anwesende dahinter verschwindet.
Ein Bild: P. träumt von einem Publikum, das nach Ende eines Stücks sitzenbleibt, und zwar so lange, bis alle Lichter gelöscht sind und die Türen des Gebäudes verschlossen werden. Jetzt kann das Theater ganz neu beginnen. Nichts geschieht. Stille in den vollbesetzten Sitzreihen. Man könnte eine Stecknadel fallen hören.
Ein Zögern: Am Ende seiner Besprechung zweier Bücher aus dem Nachlass von Niklas Luhmann präpariert der deutsche Literaturkritiker Ijoma Mangold in Die Zeit vom 14. Juni die Formel vom „Warten als Zivilisationsleistung“ heraus. Luhmann habe an modernen Gesellschaften die Fähigkeit bewundert, mit Ungewissheiten umgehen zu können, was den Bürgern eine „hohe Ambivalenz-Toleranz“ abverlange. Dieses Wartenkönnen bildet sich auch in Joseph Vogls kleinem Band Über das Zaudern ab: „Im Unterschied zu verwandten Spielarten wie Unentschlossenheit, Trägheit, Ratlosigkeit, Willensschwäche oder bloßem Nichtstun liegt es [das Zaudern, Anm.] fernab stabiler oder labiler Gleichgewichtszustände, es hat vielmehr einen meta-stabilen Charakter und lässt gegenstrebige Impulse immer von Neuem einander initiieren, entfesseln und hemmen zugleich. (...) Die interne Wiederholungsfigur des Zauderns choreographiert einen Zirkel, der im anfänglichen Setzungsakt, im zornbewegten Verhängnis DES Gesetzes eingeschlossen liegt.“ (S. 23)
Ich lese das mit Christoph Menkes Antwort auf die selbst gestellte Fragen „Brauchen wir Kunst? – Und wenn ja, wozu?“, ebenfalls in Die Zeit vom 14. Juni: „Die Kunst ist das Gegenexperiment zu den Schicksalsexperimenten, die wir gesellschaftlich bei Strafe des Scheiterns vollziehen müssen. Dazu brauchen wir die Kunst: um die Möglichkeit der Freiheit jenseits der Spielräume gesellschaftlicher Anpassung und ihrer biologischen Ideologie zu erfahren.“ P. denkt da sofort an Laurent Chétouanes Stück Hommage an das Zaudern (Uraufführung Tanzquartier Wien, 2011), in dem dieser Experimentraum des Zauderns ganz im Sinn von Joseph Vogl vorgeführt wurde. Und P. meint, es wäre ganz klar, warum Philipp Gehmacher mit Meg Stuart (the fault lines) und mit Chétouane (Das Erdbeben in Chili) zusammenarbeiten kann: dort in der Form des wilden Wartens und da in der Form des Erzögerns von Potenzialen. Denn Gehmachers Arbeit ist dieses Erzögern als Verkörperlichung des Zauderns bei Vogl und Chétouane.
Spektrum der Wissenschaft hat in seiner „Highlights“-Serie (2/2012) einen Aufsatz von Thomas Thiemann und Markus Pössel von 2007 wiederveröffentlicht (S. 8ff), in dem die Autoren darauf hinweisen, dass sich Einstein 1917, dem Geburtsjahr der modernen Kosmologie, in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie allzusehr von den Denkgewohnheiten seiner Zeit leiten ließ: „Kaum jemand bezweifelte damals, der Kosmos sei statisch (...). Um solch ein Universum beschreiben zu können, modifizierte Einstein die ursprünglichen Gleichungen, indem er eine ,kosmologische Konstante‘ einführte.“ Fazit: Dem nicht zaudernden Physiker „entging (...) eine einzigartige Vorhersage. Im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie ist ein expandierender oder kollabierender Kosmos viel naheliegender. Hätte Einstein ein solches veränderliches Universum postuliert, wäre er zwölf Jahre später auf dramatische Weise bestätigt worden. (...) 1929 erkannte Edwin Hubble (...), dass sich unser Kosmos tatsächlich ausdehnt.“ Die Ungeduld, das Nichtwartenkönnen, wird unter Umständen durch eine – etwa kulturell-ideologische – Anpassungsleistung erkauft.
Zu Chétouanes Stück heißt es auf der Website des Tanzquartier Wien: „Das Zaudern (...) hat kaum Konjunktur in einer Epoche der totalen Ökonomisierung, in der es keine Zeit und keinen Raum für Denkweisen zu geben scheint, die sich lieber der Komplexität und Vielfalt einer Situation widmen. Stattdessen findet eine Vereinfachung statt, die zwar vielleicht ,rentable‘ Entscheidungen ermöglicht, aber die Variation der Möglichkeiten und die Pluralität der Richtungen dabei gleichzeitig zerstört. Zaudern könnte eine kritische Haltung sein, die diese Art zu denken radikal unterbricht.“
Hier kommt wieder Luhmann ins Spiel, der, wenn ich es richtig verstehe, nichts anderes betrieben hat als die Auflösung der Objektwelt in ein Universum der Kommunikationen. Der Experimentraum der Kunst ist einer der Kommunikation von zu Objekten gefrorenener Faktenkonstruktion, ein Labor der (Re-)Kontextualisierung „DES Gesetzes“ im Sinn von Joseph Vogl. Deswegen ist Kunst immer theoretisch. Wenn also Philosophen wie Christoph Menke sich mit Kunst beschäftigen, dann wissen sie ganz genau, was sie da tun. Unter anderem erweitern sie den möglichen Aktionsradius der Epistemologie hinein in den Experimentraum der Kunst. Eine Philosophie von den Wissenschaften müsste sich also auch dort mit den Kommunikationen befassen, mit denen sich diese Wissenschaften mitteilen. Und untersuchen, ob nicht jede Wissenschaft nolens volens an den Ereignishorizont der Luhmannschen Kommunikationsphilosophie geraten muss, wenn sie ihr Objekt nicht als Monade in den Bunkern ihrer „Eigentlichkeit“ begraben will.
Ein Bild (Fortsetzung): Das Publikum will es wissen. Es sieht sich selbst in dem dunklen Theater nicht mehr. P. stellt sich vor, wie es auf ein Schwarzes Loch als größte denkbare Konzentration zutreibt. Und wie dabei seine Ungeduld auseinandergerissen wird.
Ein Satz (zögernd): Ein Objekt ist so lange anwesend, bis es hinter seiner Kommunikation verschwindet.
19. Sonntag, 1. Juli 2012: ZENSUR UND ZIRKUMZISION
Intellektuelle sind dazu da, gesellschaftliche Debatten anzustoßen. Dem deutschen Schriftsteller Martin Mosebach ist das gelungen. Der für seine konservativen Anwandlungen bekannte Katholik behauptete am 18. Juni in der Berliner Zeitung, dass es „der Kunst und dem sozialen Klima dient, wenn Blasphemie wieder strafbar“ wäre. P.: „Reaktionär ist Punk.“ Ich: „So wie Golf-Punk.“ Er: „Yeah.“ Ich: „Das ist nicht witzig.“ P.: „Golf als Punk? Das ist hart.“ Ich: „Und der Mosebach-Index auch.“ Er: „Eine Zukunft, fast so brutal wie http://www.golfpunkonline.de.“
Ich: „Mosebach als Beamter des Himmels?“ P.: „Als Golfschläger des Herrn?“ Ich: „Ein heiliger Geist zwischen Heinrich Himmler und Saint-Just?“ P.: „Ein Heiler des Gesellschaftskörpers.“ Ich: „Ein ultramontaner Sozialklimaschützer.“ P. hat sich umgezogen und hält ein Hochamt ab. Hier im Zelt alles Heiligen muss mit dergleichen gerechnet werden, denn wir zwei leben nicht allein unter den Sternen. Das Hochamt dauert natürlich seine Zeit. Genau 2 Stunden und 1 Minute, die Länge von Andrei Tarkowskis Film Nostalghia.
Wir halten das Hochamt in den Thermen der religiösen Gefühle ab. Denn beide sind wir die Orte des erhabenen Schauderns und des Fröstelns in den Hallen des Allwahren. Und so heben wir beide unsere feucht schimmernden Augen durch die Röhre des Fernsehens gen Himmel und juchzen ein Halleluja angesichts der Vorhaut unseres Herrn Jesus in Form der Saturnringe.
Am Ende bin ich ernüchtert wie immer nach einem solchen Trip, aber die Idee von Leo Allatius, das Praeputium Christi sei mit Jesus zum Himmel gefahren und am Saturn hängen geblieben, baut mich wieder auf. „Es gibt nur einen wahren Glauben“, bellt P. „Ja, den meinen!“, kläffe ich zurück. Durch dieses spontane Experiment erfahren wir, dass religiöse Gefühle in den Leerräumen des Selbst entstehen und von Institutionen zu Waffen weiterverarbeitet werden.
Davon ist P. zutiefst berührt. „Wie herrlich diese Gefühle doch erblühen“, flüstert er mit hinsinkender Stimme, „wenn einander die frömmsten Anhänger verschiedener Religionen die Schädel einschlagen. Im Namen der Wahrheit.“ Ich verliere die Geduld und wünsche mir von P., dass er dieses Theater jetzt sein lässt und mir zuhört. Ich erzähle ihm von dem Urteil des Kölner Landgerichts, dem zufolge religiös begründete Beschneidungen an männlichen Kindern den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen.
Tatsächlich gibt P. seine Theaterpose sofort auf. „Das deutsche Gericht hat damit das Selbstbestimmungsrecht des Kindes als höheren Wert eingestuft als die Religionsfreiheit“, sagt er. Da stimmen P. und ich überein: Der Spruch ist ganz im Sinn einer säkularen Demokratie. „Aus deren Perspektive“, ich versuche, das vorsichtig zu formulieren, „ist die religiös motivierte Beschneidung an den Genitalien von Mädchen oder Buben ein Eingriff in die körperliche Integrität der Betroffenen aus archaischen machtpolitischen Gründen. Dieser Eingriff ist ein symbolischer Akt, mit dem ein Körper unter das Primat einer Ideologie gezwungen wird.“
P.: „Aber den Mädchen werden Klitoris und Schamlippen entfernt, das ist richtige Verstümmelung. Die Folgen des Eingriffs für die Buben sind nicht so gravierend.“ Ich: „Ja, es geht da um den symbolischen Akt.“ Die spontane Reaktion der Religionsvertreter (es sind wieder einmal nur Männer) auf das Urteil: Einschränkung der religiösen Freiheit! Das zeugt von der tief sitzenden Respektlosigkeit der involvierten Ideologien gegenüber dem Recht des Inividuums auf freie Entscheidung. Denn das Urteil führt lediglich dazu, dass die Betroffenen später selbst sagen können: Ich mache es, weil ich mich bekennen will. Es geht also im Gegenteil um eine Erneuerung der religiösen Freiheit im Sinn einer Emanzipation ihrer Anhänger. Und um eine Herausforderung paternalistischer religiöser Interessensgruppen durch ein aufgeklärtes, an Körperrechten orientiertes Rechtssystem.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die von Mosebach ausgelöste Debatte mit der um die Beschneidung zusammenfällt. Zur Zeit werden ganz verschiedenene und sehr reaktionäre Kräfte stark. Daher also danke an Martin Mosebach, aber die künstlerische Freiheit wollen wir nicht aufgeben. Und ein Hinweis an die Verteidiger der Beschneidung: Der menschliche Körper ist kein Besitz von Ideologien gleich welcher Provenienz.