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Superreine Weißheit

DIE PERFORMANCE “LEOPARDENMORDE” DER GRUPPE K.U.R.S.K. WURDE VON DEN BERLINER SOPHIENSÆLEN ZENSURIERT

Von Helmut Ploebst
Das Zürcher Theaterkollektiv K.U.R.S.K. hat mit seiner Performance Leopardenmorde in ein Wespennest gestochert. Nach der Uraufführung am 20. und 21. Oktober 2016 zu Hause im Theater Gessnerallee schien einmal alles normal. Doch bei der Premiere in den Sophiensælen der Weltstadt Berlin am 16. November 2016 begann ein gefährliches Summen. Die zweite Aufführung wurde von der Veranstalter-Institution (Leitung: Franziska Werner) abgesagt.
 
Zitat aus der Begründung: „Während der ersten Aufführung der Produktion in Berlin kamen wir, das Team der Sophiensæle, zu dem Schluss, dass der künstlerische Umgang mit einem Schriftstück aus den 1920er Jahren mit deutlich zu geringer kritischer Distanz vorgetragen wurde. Bei dem Text handelt es sich um einen Romanversuch des Großvaters des Darstellers, der über seine Zeit als Kolonialherr im heutigen Tansania schreibt und dabei seiner rassistischen Gesinnung deutlichen Ausdruck gibt.“ [1]
 
Vor kurzem, am 6. und 7. Dezember 2016, war Leopardenmorde, derzeit im Rahmen des Freischwimmer-Festivals auf Tournee, auch im Wiener Brut Theater zu sehen. Zum Glück für alle Beteiligten werden auch die anderen Mitveranstalter von Freischwimmer, der Mousonturm in Frankfurt am Main und das Forum Freies Theater Düsseldorf, dem Berliner Beispiel nicht folgen. Die Sophiensæle müssen sich nun den Vorwurf der Zensur gefallen lassen. [2] Was aber ist so unhaltbar an diesem Stück? Verbirgt sich darin etwa Neonazipropaganda, enthält es Hetze gegen Minderheiten oder ist es in seiner Intention missverständlich? Nein. Vielmehr wird daraus aus dem unveröffentlicht gebliebenen Roman eines hochrangigen SS-Offiziers zitiert – ausgesprochen kritisch und mit beinahe übertrieben expliziter Distanzierung.
 
Ein Roman als bedrückendes Erbe
 
Regisseur Timo Krstin, geboren 1980, dessen Großvater – George Ebrecht – der Romenschreiber gewesen ist, hat die Zitate in eine umfassende Geschichte darüber eingebettet, wie er als Enkel über die Hinterlassenschaften seines sinistren Vorfahren Schritt für Schritt entdeckt, was diese wirklich bedeuten. Aufbewahrt werden die Relikte in dem Haus in Lindau am Bodensee, in dem Ebrecht 1977 gestorben und in dem Krstin aufgewachsen ist. Erst waren da die „Souvenirs“ und „Trophäen“, die Ebrecht in den 1920-er Jahren als Abenteuerreisender in Asien und vor allem Afrika gesammelt hatte: Allerlei ausgestopftes Getier, darunter ein Leopard vor allem, aber auch Papiere, auch das Romanmanuskript, und Gemaltes.
 
Ebrecht hatte an Kunstakademien in Berlin und Dresden studiert und war nach Ende des Ersten Weltkriegs Schüler des Malers Otto Modersohn. In die NSDAP trat er bereits im Jahr nach deren Gründung 1921 ein, im Jahr nach dem Hitlerputsch 1923 verließ er Deutschland. Was ihn an Afrika bewegte, als er sich ab 1926 in Tansania als Sisalpflanzer versuchte, ist den zitierten Passagen aus dem Romanmanuskript relativ klar zu entnehmen.
 
Die heutige Republik Tansania hat eine wechselvolle Kolonialgeschichte. Im 16. Jahrhundert drangen die Portugiesen in das Gebiet ein. Sie wiederum wurden im 17. Jahrhundert von omanischen Eroberern verdrängt. In den 1880-er Jahren riss sich das Deutsche Reich das Gebiet unter den Nagel und errichtete die Kolonie Deutsch-Ostafrika. 1916 übernahmen Briten und Belgier das Gebiet. Als Ebrecht zehn Jahre später dort landete, stand Tansania unter der Herrschaft der Britischen Krone. Doch 1931 wurde die Sisalplantage des kleinen Kolonisten unrentabel. Mittellos kehrte er nach Deutschland zurück und wurde sofort Mitglied der SA, „Sturmabteilung“ und Schlägertruppe der abstrebenden Nationalsozialisten.

Die NS-Karriere des George Ebrecht  
 
Timo Krstin erzählt diese Geschichte, vermeidet aber die hier im Text angeführte Chronik der Jahreszahlen. Statt dessen schildert er, dass der Großvater gerne als Schriftsteller berühmt geworden wäre und dass George Ebrecht ein leidenschaftlicher Redner gewesen sei. Tatsächlich wird auch in seinem Wikipedia-Eintrag erwähnt, dass er sich von 1931 an als Propagandaredner betätigte. Krstin berichtet im Stück, wie er unter den Hinterlassenschaften nicht nur den Roman gefunden hat, sondern auch zwei dicke Leitz-Ordner voll mit Redemanuskripten. Die letzteren stammen allerdings nicht aus der NS-Zeit, sondern datieren von 1956 aufwärts, als Großvater Ebrecht ergreifende Reden für den Frieden und gegen die atomare Rüstung hielt und später Mitglied der linken Kleinpartei DFU (Deutsche Friedensunion) wurde.
 
Wieder ein heißes Eisen. Denn dem Wikipedia-Eintrag ist zu entnehmen, dass George Ebrecht nach 1949 erst in der neonazistischen SRP und der rechtsextremen DRP (dort als Landesvorsitzender von Baden-Württemberg) tätig war. Noch 1955, also mit 60 Jahren, begründete er zusammen mit Joachim Nehring, Ex-Waffen-SS-Mitglied und nun unter anderem Mitarbeiter der ultrarechten Deutschen Nationalzeitung, den Bund für deutsche Einheit. Was überrascht: 1960 wurde Ebrecht der erste DFU-Vorsitzende für den Bezirk Kempten/Lindau. [3]
 
In den fünf Jahren zwischen 1955 und 1960 hat sich also eine radikale Wende in seinen politischen Aktivitäten vollzogen. Begonnen haben musste sie bereits 1956, dem Beginn der Redemanuskripte-Sammlung. Timo Kristin war als Jugendlicher von diesen leidenschaftlichen Vorträgen gegen die atomare Rüstung und für Frieden so beeindruckt, dass er selbst zum linken Friedensaktivisten wurde. Im Stück stellt er dar, wie er mit 18 Jahren gegen die Bombardierung von Belgrad eine Lichterkette um den Bodensee organisieren und seine erste eigene Friedensrede halten wollte. Das Organisieren funktionierte nicht. Die Rede hat er trotzdem gehalten – vor zwei Zuhörern: einem befreundeten Aktivisten und dessen kleiner Schwester.

Worte eines Massenmörders 
 
Bei Leopardenmorde wird Krstins autobiografische Erzählung immer wieder durch Einschübe mit Texten des Großvaters unterbrochen. Diese Einschübe sind mit einer unheimlichen, immer eindringlicher werdenden Soundstruktur unterlegt. Von der Bühnenrückwand pulsieren gedämpft orange glühende Scheinwerfer. Das konterkariert die ausführlichen, von Liliane Koch gelesenen Auszüge aus Ebrechts Roman ganz klar. Diese Zitate sind inhaltlich aufschlussreich. Der nachmalige Vorstand in Heinrich Himmlers Rassezucht-Verein Lebensborn [4] schreibt in der damals üblichen Diktion vergleichsweise „freundlich“ über die indigene afrikanische Bevölkerung.
 
Doch diese scheinbare Freundlichkeit enthält einen tiefsitzenden, für damalige Verhältnisse weichgezeichneten Rassismus: „Der Neger hat viel Kindliches in seinem Wesen.“ Daher wäre ihm der Europäer „Herr und Erzieher“ zugleich. Später im Buch – im Zusammenhang mit der Schilderung von Mordfällen an englischen Kolonisten, für die Ebrecht unter der Bezeichnung „Leopardenmorde“ tansanische Afrikaner verantwortlich macht – fällt der Weichzeichner: „Es widerte mich an, dass Menschen sich derart wie Tiere verhalten konnten.“
 
Etwa zehn Jahre später, 1939, ordnete Ebrecht selbst die Ermordung von 1400 psychiatrischen Patientinnen und Patienten an. Ob er weitere ähnliche Verbrechen begangen hat, bleibt offen. Vom unbedeutenden Maler zum frühen NSDAP-Mitglied, vom kolonialistischen Abenteurer zum Möchtegern-Schriftsteller, vom ideologischen und praktischen NS-Täter zum linken DFU-Friedensaktivisten – das Menschenbild des George Ebrecht, der einer Verurteilung letztlich entging (erst in Nürnberg und dann 1967 in einem weiteren Prozess, der nach einem Schlaganfall des Angeklagten zehn Jahre vor seinem Tod eingestellt wurde), zeugt davon, wie widersprüchlich eine Biografie erscheinen kann.

Der unaufgearbeitete Post-Nationalsozialismus 
 
Eine traumatisierende Erfahrung für Timo Krstin: „Vielleicht ist das die Erbschuld, mit der man leben muss.“ Der Enkel distanziert sich vom Großvater, aber er gesteht ihm auch zu: „Ein Mensch kann sich um 180 Grad drehen.“ Hat sich Ebrecht in der zweiten Hälfte der 1950-er Jahre sozusagen vom Saulus zum Paulus bekehrt, ohne je die Verantwortung für seine Verbrechen zu übernehmen? Diese Frage steht in Zusammenhang mit einer größeren: Ist die Nachkriegszeit von 1945 bis 1975 bereits aufgearbeitet? Zumindest Letzteres lässt sich heute eindeutig mit Nein beantworten.
 
Weil das nicht geschehen ist, konnten die Ideologien von Faschismus und Nationalsozialismus in Europa und den USA „überwintern“. Jetzt erleben sie gerade den Beginn eines Tauwetters. Timo Krstin berichtet von jenem Freund, mit dem er in beider Jugendzeit am Bodensee friedensaktivistisch unterwegs war. Im Protestcamp von Stuttgart 21 [5] hat er ihn 2010 wiedergetroffen. Er erfährt, dass der Freund mit seinen Dreadlocks und der umgehängten Sisaltasche irgendwie nach rechts abgerutscht ist. Und als Krstin, der bereits auf einem Podest steht, um im Camp eine Rede zu halten, in die erwartungsvollen Gesichter der Leute blickt, glaubt er zu erkennen: „Die Leute benutzen den Bahnhof, um sich ereifern zu können.“
 
Also beschließt er, diese Rede nicht zu halten. Das Podest von dort hat er allerdings auf der Bühne der Leopardenmorde nachgebaut. Darauf inszeniert er nun wie zur Abschreckung eine letzte Ereiferung – wider das Wutbürgerverhalten von heute, auch das linke, und gegen die so angemaßte wie gefühlte Opferrolle, in die so gern geschlüpft wird, um gegen irgendetwas „rumzukotzen“.

Selbstgerechtigkeit und Missbrauch politischer Agenda 
 
Die Bilanz dieser Arbeit ist nicht leicht zu verdauen. Denn es geht um Hybris und erratisches Verhalten in der Performanz von linkem und rechtem Protest und ebenso gegen Selbstgerechtigkeit und Missbrauch politischer Agenda. Krstin erkennt in den Augen der Protestcamp-Leute Parallelen zu jenem Publikum, das den Reden des Großvaters folge – eines, das gierig auf den Sound der Propaganda ist. In diesen Augen schimmert etwas atavistisch Monströses, ein geisterhafter „Fluss aus purem Hass“, wie er sich hinter jeder politischen Couleur verbergen kann. Genau auf diesen wunden Punkt zielt das Stück Leopardenmorde der Gruppe K.U.R.S.K., mit Wucht im Sound und mit grellen Lichtattacken.
 
Die Zensur des Stücks seitens der Sophiensæle, die nicht nur von der taz, sondern auch von der Berliner Zeitung (23. 11. 2016) und in Social-Media-Einträgen [6] verurteilt wurde, könnte – obwohl das in der schriftlichen Begründung des Hauses nicht erwähnt wird – auch mit dieser Kritik zusammenhängen. Angesichts der inhaltlichen Komplexität von Leopardenmorde, wie sie sich in der Wiener Aufführung zeigte, erscheint die Begründung für die Absage der zweiten Vorstellung als fadenscheinig. Sie ist offenbar von genau jener superreinweißen Wutbürgerlichkeit (für die etwa das Wort „Neger“ auch im Zitat nicht vorkommen darf) getragen, die K.U.R.S.K. aufzeigt. Als besonders traurig erweist sich, dass die Sophiensæle einem Teil ihres Publikums die Möglichkeit genommen haben, sich selbst ein Bild von dieser Arbeit zu machen.
 
Fußnoten:
[1] Zitat aus der Begründung, hier der vollständige Text: http://www.sophiensaele.com/aktuell.php?IDakt=295&hl=de
[3] Zu den Gründungsmitgliedern der DFU gehörte auch Renate Riemeck, Vorsitzende der IDK (Internationale der Kriegsdienstgegner), deren Lebensgefährtin Ingeborg Meinhof war, die Mutter von Ulrike Meinhof. Nach Ingeborg Meinhofs Tod 1949 übernahm Riemeck die Vormundschaft von Ulrike und deren Schwester.
[4] Zitat aus Wikipedia: „ Ebrecht wurde 1935 Mitglied der SS (Mitgliedsnr. 268.990). Er war Gründungsmitglied des Vereins „Deutsches Ahnenerbe“ am 1. Juli 1935. Von Mai 1935 bis 30. Juli 1938 war Ebrecht im Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) tätig, zunächst als Stabsführer des Rasseamtes und von Anfang April 1937 bis Ende Juli 1938 als Stabsführer des RuSHA. Er war aufsichtsführender Vorstand für „Weltanschauliche Führung“ beim Lebensborn e.V.“ (zuletzt eingesehen 10. 12. 2016).
[5] Gemeint sind hier die Proteste gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs ab 2009.
[6] Exemplarisch dafür drei kritische Stellungnahmen (es gibt auch einige wenige affirmative unter den insgesamt 13 Kommentaren bis zum 10.12.2016) vom Facebook-Profil der Sofiensæle:
(18.11.2016:) „Ich habe die Performance der Gruppe K.U.R.S.K. auch gesehen und empfand diese wie oben beschrieben als anti-rassistisch, kritisch und sowohl die koloniale als auch nationalsozialistische Vergangenheit hinterfragend. Nun erscheint mir leider die Argumentation der Sophiensaele ziemlich schwach (und das nicht, weil die betroffenen Künstler_innen meine Freunde sind und ich mich deshalb mit diesen solidarisiere). Das Statement zeigt mir das Desinteresse der Theaterleitung eben genau diesen sensiblen, reflektierten und diskursiven Rahmen zu schaffen und eine Auseinandersetzung mit der Problematik zu ermöglichen. Eine solche Handhabung von künstlerischer Arbeit ist für mich Zensur und eine Bevormundung des Publikums.“
(20.11.2016:) „Ich habe die Vorstellung am Dienstag besucht und kann die Entscheidung nicht nachvollziehen. Gerade das Vorlesen der Originaltexte dient doch der kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus.“
(23.11.2016:) „Prinzipiell hat eine künstlerische Leitung das Recht, die Linie des Hauses zu bestimmen. Wichtig bleibt aber in diesem Fall festzuhalten, dass aus meiner Sicht die Leitung einen gravierenden Fehler gemacht hat, ein Stück, das sie bereits gesehen hat und im eigenen Haus einmal spielen liess, abzusagen. Das macht diesen Vorgang zur Zensur.“


(11.12.2016)