Antworten 43–49
WAS IST CHOREOGRAPHIE #7
– Gerald Siegmund – Jan Lauwers – Alain Platel –
Krõõt Juurak
Warum finde ich diese Frage überhaupt nicht interessant?
Ich betrachte Choreographie hauptsächlich als einen Schatten. Der Schatten wird dem folgen, was bereits geschehen ist. Choreographie ist das, was die Zusammenfassung oder eine Verallgemeinerung dessen sein wird, was jetzt ist.
Wir können nur unsere Vergangenheit einfangen: So werden gewisse Dinge als Choreographie angesprochen werden, über alles wird es Übereinkünfte geben.
Aber Choreographie existiert nicht in dem Moment, in dem wir etwas sehen. Alles, was jetzt geschieht, ist etwas Namenloses und sollte es auch sein. Und die Namenlosigkeit ist faszinierend, weil sie uns eine Chance zum Denken lässt - über mehr als Choreographie.
Die Fragen bezüglich Medien, Disziplin, Kategorisierung scheinen keine Macht über die Zukunft zu haben, sie sind nur Schatten in der Vergangenheit, die allzu häufig in die Zukunft projiziert werden. Die Antwort auf die Frage „was ist Choreographie“ wird uns sicher nicht sagen, wo wir sind. Was wird uns dann sagen, wo wir sind? Die Choreographie hinter uns zu lassen, mag zumindest die Zukunft von der Choreographie, wie wir sie uns vorstellen, reinigen.
Deshalb weiß ich nicht, was Choreographie ist, und nehme Abstand von jeglicher Anstrengung, es herauszufinden.
Krõõt Juurak (Choreographin)
Wim Vandekeybus
„,Eine Rückkehr zu etwas Wirklichem in der Bewegung, das andere später Tanz nannten,‘ ist Wim Vandekeybus' knappe und etwas provokative Definition seines eigenen Grundprinzips. Provokativ, weil er das offensichtlichste Wort, um seine Arbeit zu beschreiben, von sich weist. Mehr als einmal hinterfragt er in Interviews Konzepte wie ,Tanz‘ oder ,Choreographie‘ und zieht es vor, Worte zu benutzen, die sich auf das Theater beziehen: Er nennt sich selbst einen ,Regisseur‘ und spricht über seine Performances als ,Stücke‘. In Bezug auf 7 for a Secret never to be told (1997) bemerkte er in einem Interview mit einer deutschen Zeitschrift ‚… dass ich am reinen Tanz nicht so sehr interessiert bin. Mich interessiert die Aussage im Tanz.‘ (…) Der Körper ist eine Plattform für Spannung, Bedrohung, Zufall, Impulsivität, Geschmeidigkeit und Berechnung, alles zugleich. ‚Wir spielen keine Tragödie, sondern reine Bewegung‘, sagt Vandekeybus.“ [Erwin Jans: Wim Vandekeybus. Kritisch Theater Lexicon, Flemish Theatre Institute, 1997, pp.10 & 16] „,Ich glaube, Tanz sollte immer eine theatralischen Ausgangspunkt haben, um existieren zu können.‘“ [Wim Vandekeybus über die Beziehung zwischen Tanz und Theater in Inasmuch as Life is borrowed…, zitiert in Tijd Cultuur, 26/04/00)
Xavier Le Roy
Choreographie ist künstlich inszenierte Handlung(en) und / oder Situation(en).
Irmela Kästner
Choreografie ist die erzeugte Spannung in der Öffnung des Raumes zwischen einem Schritt und dem nächsten, zwischen einer Geste und der nächsten, zwischen einem Blick und dem nächsten. Je alltäglicher die Bewegung, desto deutlicher baut eine festgelegte Abfolge auf die Bewusstheit des Performers, auf dessen Gespür für den Moment. Und auf die Wahrnehmung des Zuschauers. Choreografie oder choreografische Gestaltung ist heute mehr denn je ein Prozess der Kommunikation zwischen Choreograf, Performer und Zuschauer, nach wiederholbarem Muster. Und könnte in diesem Sinne als Einschreibung von Bewegung in einen Zeitraum verstanden werden.
Und während ich diese Zeilen schreibe, muss ich an meine Katze denken. Wie sie tagtäglich die gleichen Wege abgeht. Vom Sessel steigt, sich streckt, in die Küche trabt zum Fressnapf, langsam wieder durch den Flur zurück ins Zimmer schleicht, aufs Fenstersims springt. Die Türen stehen immer offen, so dass ich ihre wiederholten Schleifen durchgehend fasziniert beobachten kann und mich manchmal dabei ertappe, wie ich ohne Absicht die gleichen Wege nachzeichne.
Gerald Siegmund
Choreographie ist eine Struktur, die nicht nur aus der Organisation von Bewegungen in Zeit und Raum hervorgeht. Vielmehr besteht Choreographie aus der Organisation von heterogenen Materialien, aus Bewegung, Körpern, Sprache, Texten, Bildern, Licht, Raum und Objekten. Damit ist Choreographie ein Allgemeines, das den tanzenden Körper aufnimmt. Körper fügen sich in die allgemeine, überindividuelle Struktur ein und werden dadurch zu signifikanten Körpern, mithin zu Subjekten. Choreographie unterwirft. Man muss ihren Regeln folgen und seinen individuellen Ansprüchen abschwören. Choreographie bringt aber gleichzeitig hervor, macht sichtbar, sagbar und erfahrbar. Choreographie produziert. Subjekte werden nicht freier, wenn es keine Choreographie mehr gibt. Es gibt immer (eine) Choreographie, solange es Regeln für die Improvisation oder, allgemeiner, die Bewegungsgestaltung gibt. Geben wir die Idee der Choreographie auf, geben wir die Gesellschaft auf. Choreographie ist der Ort der Subjektivation, der symbolischen Kastration und damit der Eingliederung des Einzelnen in die Gesellschaft, die im Theatersaal durch die Anwesenheit des Publikums repräsentiert und ge/teilt produziert wird. Sie ist der Ort, an dem das Individuum mit seinen Wünschen durchgestrichen wird und zugleich der Ort, an dem das Subjekt ein Begehren erhält. Gleichsam ein Trostpflaster, damit wir mit ihm im ge/teilten Theaterraum kommunizieren können. Damit es sich tanzen und sagen kann – als ein fundamental vom Anderen und seiner Antwort abhängiges Subjekt.
Jan Lauwers
Es war John Cage, der gesagt hat, dass man für gutes Theater 5 verschiedene Energiequellen gleichzeitig benötigt.
In meiner Arbeit versuche ich die Vorstellung des konventionellen Theaters vom Zentrum zu zerstören. Meine Bühnenarbeit setzt immer mehrere „off-centres“ zur gleichen Zeit ein.
Kunst ist Energie. Theater ist synergetisch. Meine Arbeit wird oft als Tanz angesehen, ist es aber nicht. Ich bin kein Choreograph. Ich bin kein Repertoire-Regisseur. Aber ich bin ein Künstler, der mit mehreren Medien zugleich arbeitet. Tanz ist also eine energetische Form der Kommunikation, und er ist eines (oder mehrere) der „off-centres“, aber zur gleichen Zeit hält es die individuellen „off-centres“ zusammen. Daher ist die Choreographie in meiner Arbeit (das Haus des Tanzes) auch in dramaturgischer Hinsicht sehr wichtig, da sie großen Einfluss auf die Psychologie des Geschichtenerzählens hat. Und das bin ich: ein Geschichtenerzähler.
Alain Platel
„Choreographie“ ist ein hässliches Wort.
Manche Worte sind einfach hässlich,
wie „Choreographie“.
Aber… es kommt von „chorea“,
und das ist der Name einer Krankheit,
die das Nervensystem angreift.
Die Symptome sind:
plötzliche, schnelle,
unkontrollierte, hysterische
Bewegungen des Körpers.
Seltsam zu bemerken,
dass ich in meiner Arbeit
das Herz und den tiefen Sinn
dieses Wortes mehr und mehr
zu berühren scheine.
Also doch:
Ich glaube,
es ist ein sehr schönes Wort.