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Politische Kunst als Herausforderung

“Empire” von Milo Rau beim Steirischen Herbst 2016

Von Lina Paulitsch
Empire, das neue Stück von Milo Rau, beginnt zögernd. Die Zuschauerınnen verharren wartend vor gehobenem Vorhang und schauen. Ihr Blick ist zwingend perspektivisch: Die Bühne zeigt ein halb zerstörtes Haus, einen abgebrannten Balkon. Ein bisschen Schutt und Asche, aber das mondäne Geländer erinnert vielleicht doch an Verona. Vier Personen erscheinen. Sie drehen das Bühnenbild so lange, bis sich das Außen zu einem Innen verkehrt und eine kleine Wohnküche mit Tisch sichtbar wird. Eine große Leinwand schließt unmittelbar an die Zimmerdecke an und eröffnet den Raum hell und bespielbar nach oben.

Im Rahmen des Steirischen Herbst 2016 bildete die österreichische Erstaufführung von Empire den Abschluss einer Trilogie des Schweizer Theatermachers Milo Rau. Gemeinsame Basis der drei Produktionen ist der Kontinent Europa und das Befragen der europäischen Selbstverständlichkeiten zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung. Der erste Teil, The Civil Wars (2014), handelt von der Radikalisierung europäischer Jugendlicher, und Teil zwei, The Dark Ages (2015), von Kriegen und Vertreibung in Ex-Jugoslawien, Russland und Deutschland zwischen 1945 und 1995. Will man die Stücke brachial nach Bewegungsgesetzen beschreiben, geht es in The Civil Wars um das „von innen nach außen“, in The Dark Ages dagegen um ein „von innen nach innen“. Die finale dritte Arbeit widmet sich dementsprechend der medial hochaktuellen Konstellation „von außen nach innen“: In Empire kommen vier Schauspieler mit Fluchterfahrung zu Wort.

Die Inszenierung des Realen

Das Oben wird in Empire zur Plattform, von der aus die Protagonisten dem Blick des Publikums ausgesetzt sind. Als erster betritt der Kurde Ramo Ali die Bühne und erscheint zugleich auf der Leinwand. Er stellt den Raum als die Küche seiner Wohnung in Syrien vor. Ein Kameramann filmt ihn live mit dem Rücken zum Publikum und verstellt so die freie Sicht auf den Erzähler, sodass dieser nur über die Projektion zu beobachten ist. Später tauschen die beiden ihre Positionen. Ali beginnt zu filmen und der Grieche Akillas Karazissis beschreibt mit charmantem Humor seine weite Reise von Thessaloniki nach Heidelberg.

Als einzige Frau betritt Maia Morgenstern die Bühne. Sie erzählt ihre Geschichte als Jüdin im Rumänien unter Ceauşescu. Sie wird als einzige nie hinter die Kamera treten. Der vierte und letzte der Runde: Rami Khalaf, syrischer Kurde. Er berichtet von Demonstrationen gegen das Assad-Regime. In ihren jeweiligen Muttersprachen erzählen die vier Schauspieler aus ihren Leben, einmal anhand von humoristischen Anekdoten, später in tragischem Ernst. Auch Empire ist dokumentarisches Theater.

Mit der Methode des Reenactment, die sich als roter Faden durch sein Werk zieht, erlangte Milo Rau internationale Reputation. Im Jahr 2007 gründete er eine eigene Produktionsstätte, das Institute of Political Murder, für die Inszenierung politischer Kunst. Seine Performances sind Neuinszenierungen von realgeschichtlichen beziehungsweise politischen Ereignissen, wie etwa die Gerichtsverhandlung gegen Pussy Riot (Die Moskauer Prozesse, 2013) oder die Erschießung des Diktatorenpaars Ceauşescu (Die letzten Tage der Ceauşescus, 2009/10).

Artivismus und die Tücken der Subversion

Die Inszenierungen dieses Regisseurs gehören zu einer Tendenz ins Politische, von der ein großer Teil der Gegenwartskunst erfasst zu sein scheint. Dass Kunst nicht mehr als Selbstzweck genügen soll, ist grundsätzlich nichts Neues – spätestens seit den Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts ist die Überführung von Kunst in Lebenspraxis ein bewusst gestellter Anspruch. Was sich heute als neue Qualität herausstellt und einiges an Widersprüchen mit sich bringt, ist der Kontext der neoliberalen Ideologisierung.

Der Kunstpublizist Hanno Rauterberg beschreibt in einem Artikel für Die Zeit [1] die zeitgenössische politische Kunst mit dem Begriff des „Artivismus“, dessen pejorative Konnotation er mit mehreren Problemstellen assoziiert. Das Vorhaben, in unseren schrecklichen Zeiten aufklärerischen künstlerischen Aktivismus zu betreiben, habe so einige Tücken, die eher mit dem Fazit „gut gemeint“ denn „gut“ zu betiteln sind.

Erster Punkt Rauterbergs: Je mehr die Deutungslogik und Ambivalenz des Ästhetischen in den Hintergrund rückt, desto eher kann der Artivismus in eine Art Belehrung bzw. Bekehrung übergehen und damit seine Wirkung auf das Publikum verlieren. Auf Bedrängung folgt bekanntlich der emotionale Rückzug. Ein zweites und wesentlicheres Problem scheint jedoch die enge Bindung der Kunst an ihr mediales Echo, das auf die erwähnte Einbettung des Artivismus in den Kapitalismus verweist.

Da politische Kunst auch wirksam werden möchte, ist sie auf eine mediale Öffentlichkeit angewiesen, die ihr Nützlichkeitsdenken auch auf die Kunst überträgt. Schnelligkeit, Effekthascherei – wenn man so will: ästhetische Elemente – werden eher zum Maßstab der Wahrnehmung. Wenn im Artivismus beispielsweise marginalisierte Gruppen repräsentiert werden, entsteht unweigerlich der Eindruck, dass Individuen „vorgeführt“, das heißt zu einem reißerischen profitablen Zweck missbraucht werden. Damit einhergehend muss Kritik, wenn sie so klares Ziel der Kunst sein soll, in ihrer Komplexität reduziert werden – ansonsten kein mediales Echo.

Zuletzt beschreibt Rauterberg sogar ein gegenteiliges Ergebnis des artivistischen Strebens: Da politische Kunst in einen Raum der Vergleichbarkeit hinsichtlich politischer Ergebnisse gestellt wird, folgen auch reale Ansprüche, wie etwa finanzielle Subventionen, dieser Linie. Soll heißen: Ein Kriterium, wer, wie und in welchem Maße gefördert wird, ist der sozioökonomische Erfolg des Kunstwerks. Eine Einreichung mit eminent politischem Charakter hat ja auch für den Staat einen durchaus rationalen Zweck: Man „setzt ein Zeichen“, zeigt sich tolerant und aufgeschlossen. Problematisch ist dies insofern, als dass staatliche Subventionen im Kunstsektor allgemein reduziert werden – legitimiert durch die vereinfachte Nützlichkeitsrhetorik der Politik. Wenn Kunst nach politischen Kriterien bewertet wird, verschwindet möglicherweise subtil Subversives zur Gänze.

Schlussendlich sei zu beobachten, dass kritische Kunst zu einer Art Statussymbol geworden ist. Es ist geradezu „in“, politische Stellungnahmen ästhetisch zu verpacken – man denke dabei auch an Soziale Medien, wo sich Individuen über einen Klick zum politischen Subjekt stilisieren. Dann stellt sich aber die Frage: Wenn Subversion zum Mainstream geworden ist – was heißt dann subversiv?

Unkritik: die „critique automatique“

Auch der potentielle „Artivist“ Milo Rau hat sich mit der Frage der affirmativen Kritik auseinandergesetzt. In seinem Essay Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft entwickelt er dazu den Begriff der „critique automatique“ und die dazugehörige Kurzformel: Revision statt Revolution.

Für die politisch linke Gesinnung im Ganzen konstatiert Rau eine Art Scheinhaftigkeit, ein Als-ob der postmodernen Kritik: „Sie tun so, als würde tatsächlich noch jemand glauben, dass die Dinge grosso modo okay laufen und man nur ein bisschen am Schräubchen drehen muss, damit alles schön in Ordnung bleibt, als ob es überhaupt noch jemanden gäbe, der nicht bereits mitspielt, der die rules of the game nicht längst verständen hätte und der deshalb an die Hand genommen und aufgeklärt werden müsste.“ [2] Wenn also Kunstproduktionen ihre „radikale Körperpolitik“ oder die eigene „Interkulturalität“ betonen, dann leisten sie sich den performativen Mangel der politischen Linken: Verweise auf einen allgemeinen Missstand, der aber im Grunde bereits bekannt ist, sich als revolutionärer Aufschrei gebärdet und doch keine Alternativen bieten kann.

Der Begriff der „critique automatique“ ist damit – wie im Zitat oben ersichtlich – eher publikumszentriert: Kritik wird hier zum Instrument der Immanenz. Indem die Kritik so explizit ausgedrückt wird, erschöpft sich die kritische Betrachtung in kritischer Betrachtung. Es geht also um individuelle Selbstbestätigung, an der sich politische Kunst beteiligen kann, indem sie einen Zuschauer entlässt, der sich in seinem politischen Aktivismus legitimiert fühlt. Man hat sich bewusst mit den Problemlagen der furchterregenden Welt des 21. Jahrhunderts konfrontiert, kann sich nun wohlig in die Dachgeschosswohnung mit Terrasse zurückziehen und sich anderen Dingen zuwenden. Kultur hat in dieser Betrachtung mit Marcuse gar „affirmativen Charakter“ – und deutet erneut auf deren kapitalistische Verflechtung hin.

Empire ist kein Service

Wendet man die Kritik der postmodernen Vernunft auf Empire an, stellt sich die Frage des „Wie“ von politischem Theater nicht anhand der inzenatorischen Methode, sondern über die Art der Publikumsrezeption, die es hervorruft. Warum man das Stück also nicht ebenfalls als „critique automatique“ abqualifizieren kann und wie es sich in Relation zum Artivismus verhält, soll zum Schluss geklärt werden.

Auf den ersten Blick besteht nämlich durchaus Anlass, Empire als pseudoaufklärerisch zu verstehen. So viel Pathos in den Worten der Schauspieler, Folterbilder, gar kitschige Mitleidsstimmung scheint aufzukommen. Und sind es nicht wieder nur die „guten Flüchtlinge“, die gescheiten, noch dazu künstlerisch tätigen Personen, deren Leid der linksintellektuelle Zuschauer des Steirischen Herbst so eindrucksvoll nachempfinden kann?

Diese Frage ist aber an eine weitere geknüpft, die das Reenactment erst interessant macht: Wer tritt hier auf? Sind es „arme Flüchtlinge“ oder nicht auch tatsächlich Schauspieler? Soll dem Zuschauer hier tatsächliche Realität präsentiert werden, aufbereitet als immanente Kritik – oder wird mit der verwischten Grenze von Wahrheit und Fiktion nicht eher an die Reflexionskraft appelliert?

Eine grundlegende Erwartungshaltung des Publikums bricht mit dieser Differenzierung: Hier wird niemand vorgeführt, hier führt man sich selbst vor. Wenn sich die vier Protagonistınnen gegenseitig filmen und einander das Wort abschneiden, als würden sie um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen, entsteht kein Eindruck eines moralisierend erhobenen Zeigefingers. Es ist nicht das eurozentristisch erblickte Objekt, dass sich hier in einem Akt der Selbstbestimmung subjektiviert – diese Rechnung schiene mit Raus Kritik der „critique automatique“ zu einfach aufzugehen. Die Personen, die hier auf der Bühne stehen, sind bereits Subjekte: Sie erzählen ihre persönlichen Geschichten als Symbolfiguren, verkörpern das Individuelle wie auch das Universale. Und dabei ist ihrem Beruf als Schauspieler ebenso Tribut zu zollen wie ihrer kulturellen Verortung: Pathos darf trotz der realen politischen Lebensgeschichten Eingang in die Inszenierung finden.

Vielleicht muss sich die politische Kunst auf dieses eigentliche Potential rückbesinnen: aus dem individuell Erzählten ein Allgemeines ableiten zu können. Denn diese Ableitungskompetenz wird wiederum vom Publikum eingefordert. Milo Rau gibt in seiner Produktion keine Antworten, er stellt nicht einmal aufdringliche Fragen. Hier greift die Forderung an die Zuschauer, eigenständig Fragen aus dem eben Gesehenen zu generieren, ohne ein kritisches Statement aufbereitet zu bekommen. Wie das Verhältnis von Realität und Inszenierung, von Politik und Ästhetik, im Reenactment aussieht – diese Entscheidung liegt bei den Betrachterınnen.


Fußnoten:
[1] Rauterbeg, Hanno: „In den Fallen der Freiheit“. In: Die Zeit 27/2015, 2. Juli 2015; Zeit Online: http://www.zeit.de/2015/27/politik-kunst-zentrum-fuer-politische-schoenheit
[2] Rau, Milo: Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft. Zürich: Kein & Aber 2013, S. 53.


(29.10.2016)