History I (1): "wieder und wider" Appropriated
Die Schattenmuster der Gegenwart
[Continuous Project, Reflexion 1.1.:] Selten war es so erhellend deutlich wie bei „Continuous Project #9“, der Reanimation eines Ereignisses im Jahr 1990, dass die Schatten aus der Vergangenheit das Muster entwerfen, mit dem wir durch das Heute navigieren. Eine Vermessung. Die Gruppe Continuous Project „re-stagede" ein Symposion aus dem Jahr 1990. Wir sind dabei gewesen. Wir waren dabei. Wir sind.
Es ist der 12. November 2006. Es war der 10. November 1990. Dazwischen 16 Jahre. Dazwischen eine Transkription. Der Ort ist das Dia Center for the Arts in New York. Der Ort ist das Museum moderner Kunst (Mumok) in Wien. Der Originalsprechtext des Symposions „Politics of Images", das das Dia Center for the Arts veranstaltet hatte, wurde transkribiert und verlesen. Die entscheidenden Figuren sind vorab jene, derer wir nie gedenken. Ein Audiotechniker hat 1990 am Mischpult gesessen und mitgeschnitten. Auch 2006 ist wieder einer dabei, der ein Tondokument für das Archiv erzeugt. Continuous Project ist ein seit 2003 von New York aus agierendes Kollektiv von Persönlichkeiten, die aus verschiedensten Disziplinen wie Kunst, Text, Design, kommen. Bettina Funcke, Wade Guyton, Joseph Logan, Seth Price haben die jüngste Vergangenheit im Visier. Die ephemeren Seiten dieser Vergangenheit, die flüchtigen, weil am Rande des Vergessens dieser Vergangenheit situierten Publikationen oder Erscheinungen. Diese bringen sie herüber in die Gegenwart, als Kopie.
Einen professionellen TV-Transcriber engagierte Continuous Project, der die Aufgabe erteilt bekam, das stundenlange Sprechen des Symposions im Dia Center for the Arts Satz für Satz aufzuzeichnen. Zum Stapel gebündelt, gefasst in breite, orange Gummibänder, wie sie bei Marmeladeeinweckgläsern zum Einsatz kommen, liegen die Texte an die Wand der Mumok factory gelehnt. Unter dem aufs Vielfache vergrößerten Symposionsablauf im November 1990. Sie sind zur freien Entnahme bestimmt, für das Publikum, das gekommen ist, um zuzuhören, für das Publikum, das mitlesen darf. Der TV-Transcriber erweist sich als Landvermesser der symbolischen Terra (in)cognita. Das Gesprochene ist ihm vertraut. Die verbindenden symbolischen Markierungen, die klingende Münze barer Theorie jedoch nicht. So wurde aus Saussure ein Herr Socier. Das gibt dem Auge zu denken. Das Ohr hat es längst getan. Wir hören die Sprechenden sprechen. Sie sind beschriftet, mit den symposionsüblichen gefalteten weißen Karten, auf denen die bezeichnenden Namen zu lesen sind. Und sie sind alle gekommen, die angekündigt waren: Charlie Wright, Bruce Ferguson, Dick Hebdige, Sandy Nairne, Jan Hoet, Brian Wallis, Guillermo Gomez-Pena und Stan Douglas, Arthur Kroker und Jeff Koons, Nelly Richard und Guy Brett, Jana Sterbak und Chris Burden. Wir erleben das Entstehen von Gedanken in der Echtzeit des Sprechens, das eine Lesung ist.
Selten hat sich so klar markiert, dass die Zusammenkunft bei einem Symposion, einer intellektuellen Territorialisierung der denkenden Versprechen einer Gegenwart, ein Hier und ein Jetzt erzeugt. Wird man durch die Zeit transponiert und dies fast aufs Datum genau, wie in diesem Fall des Re-Symposions von „The Politics of Images: Issues in the Presentation of Contemporary Art“, was der Reauthentifizierung fast schon beklemmende Züge verleiht, dann ist die Resonanz gewaltig. Wir lesen das Symposion aus der Distanz, aus zeitlicher und räumlicher Differenz. Wir lesen und hören zwischen den Zeilen. Der institutionskritische Gestus des Re-Staging liegt in der Eins-zu-Eins-Wiederholung des damals Gesagten. Das Lachen hat sich verändert. Selbst wenn die damaligen Lacher oder Wortmeldungen in der Mitschrift festgehalten sind, an diese halten wir uns heute nicht. Sie wurde nicht zur Vorschrift. Wir lachen entlarvend an anderer Stelle über den Extremsubjektivismus eines Jan Hoet, über die Verweigerung, Verbindungen herzustellen zwischen den Feldern, zwischen der Kunst und allem anderen, zwischen allem anderen und der Kunst.
Zwischenruf eines Ermittlers:
„Geschichte - gebt mir eine Geschichte. Gebt mir ein Schicksal. Damit ich dagegen oder dafür sein kann und daher sein kann. Mit diesem unbehaglichen Evergreen im Ohr betritt die Person am 08.11. 2006 um 17 Uhr die MUMOK Factory. Sie ist Ermittler. Sie hat einen Auftrag zu erfüllen. Der Ausdruck - erledigen - behagt ihr nicht. Nach Plan verteilt sie sich. Hier und an den folgenden Tagen. Hier. Notiz: weisser Fabriksraum - wirkt wie eine Schwelle: eine übriggebliebene Ausstellung und eine zu erwartende Aufstellung.
Weiters: Im hinteren Drittel bauen konzentriert zwei Mumok-Mitarbeiter für Nominally an installation, a performance, or an event, 2006 von Gerard Byrne eine Skulptur des amerikanischen Minimalisten Donald Judd auf.
Einschub: Jedoch ist es ein Skulpturdummy, wie sich später während eines Gesprächs zwischen dem Künstler und der Tate-Kuratorin Catherine Wood herausstellt. Doch Halt. Eine Skulptur ist eine Skulptur. Egal ob Donald Judd oder Donald Judd by Gerard Byrne.
Und Sprung. Während die Grenze eine klare Trennung vornimmt, stellt die Schwelle einen Ort der Ermöglichung, Ermächtigung, Verwandlung dar.
Landung. Bei dieser Kooperation zwischen Mumok und Tanzquartier Wien mit dem Titel „wieder und wider - Performative Aneignung in Tanz und bildender Kunst" spielt die aufgeführte Zeit eine wesentliche Rolle und zeigt: wie aus (Performance-)Spuren (Kunst-)Objekte geformt werden. Da die Dauer als Material aufgefasst wird, kann damit so gespielt werden wie mit herkömmlichen Materialien bisher.
So ergeben sich weitere Möglichkeiten für performative Kunst und diese öffnen damit einen Bau jenseits/abseits von Rekonstruktion: Hommage, Mimesis und z.B. die Möglichkeit, eine parodistische Absicht zu verdeutlichen, wie in der Performance „Dan, Martha, Trisha, Frans & Robert“ von Frans Poelstra und Robert Steijn am 9. 11. 2006 im Tanzquartier/Halle G um 19 Uhr: die Schwelle, die das Heilige vom Profanen, die Liebe von der Sexualität, das Sublime vom Trivialen trennt, zu verwischen und dauerhaft ununterscheidbar zu machen.
Und bei einer mehrstündigen Wiederaufführung des Symposiums Politics of Images aus dem Jahr 1990 als „Continuous Project #9“, 2006 in der Mumok factory am 12. 11. 2006 um 18 Uhr befindet sich die als Ermittler vorgestellte Person sowohl hier in Wien 2006 als auch dort in New York 1990 - und gleichzeitig ist sie sich dieser Vorstellung als Vorstellung bewusst und wird von ihrem dummen Evergreen im Ohr befreit."
Wir sitzen an der Quelle
[Continuous Project, Reflexion 1.2.:] Die Stimmen aus der Vergangenheit, sie tragen. Wir sitzen an der Quelle. Ein Verstehen klingt an aus diesem Riss der Zeit für die Denkgewohnheiten unserer Gegenwart, für deren Gewordensein. Die Wegweisungen waren gestellt, aber die Richtungen noch nicht ganz klar. Sie konnten sich noch drehen. Die Spirale von Globalisierung und Glaubensverlust, von Angstzunahme und Kritikzweifel hat sich weiter und weiter gedreht, aber vieles klingt bereits an. Im Akt der Beschwörung liegt der Geruch der Verschiebung. Wir sind Teil einer Transposition. Geschichte ist ein Ort, an dem wir nicht waren. Und das ist gut so. Denn die Geschichte ist das Vergangene.
Die Geschichte ist ein Objekt, sagt der Kurator der Dokumenta 11, Okuwi Enzewor. Geschichte ist genauso ein Prozeß, denken wir, die wir im Sammeln des Vergangenen über das Ephemere stolpern. Gerade die Entreißung des Ephemeren in der Figur des Re-Staging lässt das Rohmaterial funkeln und widersprechen, bedrängen und wieder sprechen. In der Pause tritt man an den Tisch mit den vorbereiteten Snacks. Die Authentizität ist verblüffend. Sind wir PerformancebesucherInnen, die einem Symposion beiwohnen? Sind wir SymposionsbesucherInnen, die einer Performance beiwohnen? Die Schnitten und Kekse, der tropfende Thermos Coffee Server mit dem niederzudrückenden Selbstbedienungsdeckel und dem Schnabel, unter den man die weiße Tasse stellen kann, sind auf jeden Fall echt. Bald werden sie verschwunden sein. Wir wissen nicht, wer wem welche Stimme geliehen hat? Wir wissen nicht, wer wessen Körper repräsentierte auf den Sesseln, die hinter die bezeichnenden Namenskärtchen gestellt waren. Aber das macht keinen Unterschied, denn wir haben sie sprechen gehört und gesehen.
„Nominally a symposium, a performance or an event": Die Lust am Tun/Schauen geht mit dem Versagen des Imitierens einher.
[Continuous Project, Rezeption 2.1.] Jan Hoet: „So, a written text is always from distance. It takes distance from yourself and distance from the artwork. So I try always to speak and to keep, meanwhile, a flexibility, because the artwork and our ideas about art are always changes. I´m a man from changements, and liking changements also in the ideas about art. I´m supposed also to speak [to] you...And also, when I’m writing a text, it´s more difficult to understand what I am saying, because I don’t speak so very well English. [...] And therefore, I prefer to say it. It makes it easier, I think."
Als in der letzten Stunde der insgesamt sechsstündigen Wiederaufführung des Symposiums „Politics of Images" (2006: Wien/Samstag/23.30 - 1990: New York/Sonntag/16.30) schon vieles gesagt worden ist und zwei Zuschauer- bzw. hörerinnen übriggeblieben sind, bekommt das Symposium einen legeren, oder besser: einen noch legereren Charakter als zu Beginn. „Do you want to read Chris Burden?“, werde ich gefragt. Im Vergleich zum Beginn des Re-Symposiums, an dem man gebeten wurde, das Mineralwasser nicht zum Platz mitzunehmen, sitzen um 23.00 die Verbliebenen mit Bierflaschen im Auditorium bzw. auf dem Rednerpodest, die beiden anwesenden Techniker sind in das Skript vertieft und wenn dieses [applause] vorgibt, wird lautstark geklatscht - als würde das den einen oder anderen wieder munter machen.
Jede(r) freut sich, dass weitere 50 Seiten / 2 Stunden / 1 Bier geschafft waren. Der Applaus der ca. 10 Verbliebenen ist lauter als jener der ca. 40 ZuschauerInnen, die am Beginn des aufgeführten Symposiums anwesend waren. Die Publikumseinwürfe, die das Skript vorsieht, werden nicht mehr vor dem Mikrophon gelesen, sondern tatsächlich aus den Publikumsreihen gerufen, und den so Rufenden kommt immer häufiger ein Schmunzeln über ihr eigenes Zitieren bzw. das von ihnen Zitierte über die Lippen. Am Ende hat man das Gefühl, man hat gemeinsam einen Lese-Marathon zurückgelegt. (Erstaunlich, wie schnell Dauer, Erschöpfung und Ermüdung ein Gruppengefühl produzieren.) Die ZuhörerInnen sind genauso Teil des Skripts und performativer Bestandteil der Aufführung wie die Sprecher, die die Meinungsverschiedenheiten, die sie reproduzieren, noch nie zuvor gelesen haben. Und eigentlich würde der Titel von Gerard Byrne - in umgewandelter Form - perfekt für diesen Abend passen: „Nominally a symposium, a performance or an event."
Amüsant sind in dieser diskurslastigen und lustigen Nacht aber nicht nur die Rekontextualisierung einer 16 Jahre zurückliegenden Diskussion im Mumok und die transgender-bedachte Neu"besetzung" der DiskutantInnen. Die Lust, diesen Akt des Wiedersprechens alter Diskussionen mitzuverfolgen, kommt vor allem dann auf, wenn Versprecher auftauchen, wenn die Sprecher von damals (Jan Hoet, Brian Wallis, Jeff Koons, Jana Sterbark u.a.) sich verhaspeln und diese - nun im Skript verschriftlichten - Unfälle und Zufälle der freien Rede (zum Teil mit Schwierigkeiten) reproduziert werden: [laughing], [applause] oder „For example, in the exhibition... [inaudible. laughter]. Eh?.. That´s kind of - I don´t know why they do that, but....[laughter]... But it has one favour. It was one of the great exhibitions...“ Und im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht das, was [inaudible] ist, sich unserem Verständnis endgültig entzogen hat, weil es sich vom Tonband nicht konservieren bzw. vom Transkriptor nicht entschlüsseln ließ. Schade übrigens, dass die performativen Möglichkeiten, die in diesem Skript stecken, nicht noch mehr ausgeschöpft wurden.
Randbemerkung: Die Performance als Objekt
In ihrer Einführung zu „wieder und wider" meinte Mumok-Kuratorin Barbara Clausen: „Die Lektüre der Performance eher als Objekt denn als Prozeß hat das Verhältnis zur Performance verändert." Damit ist nicht nur ein Paradigmenwechsel angesprochen, sondern eine Eigenschaft der Performance, die lange Zeit verdrängt wurde. Als Gegenstand einer Rahmung (durch den Begriff Kunstwerk) und Ankündigung (als rezipierbares Kunstereignis) ist die Performance immer auch Objekt gewesen. Schon in dem Moment, in dem ein Prozeß als Setzung konzipiert ist, wird er auch als Objekt festgeschrieben. Die Eigenschaft des Ephemeren widerspricht der Vergegenständlichung eines Ereignisses nicht, denn als Gegenstand von Produktion und Rezeption nimmt das Ereignis am Diskurs teil.
Wird ein Prozeß zum Inhalt anderer, etwa von Planung oder Reflexion, integriert er sich nicht als ein Ablauf in einen weiteren, sondern erscheint als projektive oder archivierte Struktur - als Objekt. Über den Prozeß der Wahrnehmung speichern sich selektiv erfaßte Prozesse als subjektiv erodierte „MemObjekte" im Gedächtnis ab.
Um die Erinnerung zu präzisieren, können Abläufe wiederholt verfolgt werden. Unter der Bedingung allerdings, daß einmal vergangene Verhältnisse nicht mehr wiederherstellbar sind. Der Begriff der Wiederholung beruht daher auf einem grundlegenden Kompromiß, der sich auf „möglichst" getreue Rekonstruktion beruft. Alle beobachtbaren Prozesse sind von anderen unterscheidbar und können so „identifiziert" werden. Dennoch bleiben sie in andere Prozesse eingebunden, in meta-, co- oder subprozessuale Kontexte. Eine getreue Rekonstruktion muß auch die Kontexte miteinbeziehen. Geschieht das nicht, so wird lediglich die dramaturgische Struktur eines Prozesses isoliert, aus der ein zum ursprünglichen paralleles Objekt hervorgeht.
[Poelstra/Steijn, Reflexion 1.1.:] Frans Poelstra und Robert Steijn zeigen der Perfektion die kalte Schulter und der Halle G des Tanzquartier Wien den Wollschlauch, den Papierstreifenhut und den Luftballontanz: Dem semiotischen Theaterkasten wird mit surrealen Objekten und Gesängen begegnet.
Der Vorhang ist aufgegangen, Robert Steijn sitzt auf der Bühne und strickt.
Eine Stunde später stehen Robert Steijn und Frans Poelstra, in Umhänge gehüllt und von Trockeneis eingenebelt, an der Rampe. Aus einem großteils unverständlichen Sprechgesang, der sich über die elektronische Musik aufbäumt, entwickelt sich eine monotone Rezitation, ein ausgelassenes Schreien: „Go, woman, go! Go, woman, go! Go, woman, go!..."
Während Steijn wie eine Leiche auf dem Boden liegt, schweben ein Hut aus Papierstreifen und eine Schere an zwei Nylonschnüren vom Schnürboden herab. Eingebettet in die Klangebenen von Martin Siewert findet in aller Ruhe und Präzision ein absurdes Totenritual statt: Poelstra stülpt einen weißen Papierstreifenhut über sein Gesicht, stellt sich auf einen Stuhl und schneidet mit der Schere die Papierstreifenhaare ab, die wie eine konfettihafte Grabbeigabe auf den bewegungslos liegenden Körper rieseln. Sodann befreit Frans Roberts Körper, der zugleich Marthas, Trishas und Dans ist, von den Papierstreifen, indem er diese mit einem Klebeband aufsammelt. Roberts Kopf reckt sich lachend in Richtung Publikum. Wie aus einem verwunderlichen, grotesken Traum erwacht (oder in diesen zurückgekehrt): die wirren Haare und das lachende, lebendige Totengesicht.
Poelstra und Stein sind in „Dan, Martha, Trisha, Frans & Robert“ nicht an einem Re-Enactment der Performances der beiden Tanzpionierinnen Martha Graham und Trisha Brown interessiert. Rekonstruiert wird eine Installation von Dan Graham, einem Vorreiter der Performancekunst im Amerika der 70er Jahre, der eine Spiegelwand auf die Bühne stellte, um folglich vor dem Spiegelbild des Publikums zu agieren.
„We are moving. No big deal.“
[Poelstra/Steijn, Reflexion 2.:] Die Idee einer fiktiven Frauengestalt beschäftigte die beiden Performance- und Improvisationskünstler Frans Poelstra und Robert Steijn schon, bevor mit „wieder und wider" das Thema Rekonstruktion aufgebracht wurde. Die Meister der spontanen Assoziation und des fantasievollen Einbeziehens von gefundenen Objekten konnten auch aus diesem gefundenen Gedanken etwas weiterspinnen (oder besser gesagt weiterstricken, denn ein dicker, gestrickter Wurm ist zum prägnanten Teil der Aufführung geworden).
„Dan, Martha, Trisha, Frans & Robert“ heißt ganz richtig ihr Stück. Richtig, weil es so persönlich, privat und informell zugeht, dass die intime Anredeform per Vornamen adäquat erscheint. Informierte können sich einen Reim darauf machen, warum die beiden sich in großen Spiegeln anblicken, statt sich dem Publikum zuzuwenden, weil sie um das Spiel von Subjektivität und Objektivität des US-Künstlers Dan Graham wissen. Zu sehen ist eine lustige Tanzstunde, in der zwei Männer probieren, sich in Frauen hineinzuversetzen und daran - selbstverständlich - kläglich scheitern. Dass diese beiden vorgestellen Frauen Martha Graham und Trisha Brown sind, erklären vor allem der Titel und das Programmheft. Autobiografische Zitate geben einen kleinen Einblick in das Innenleben dieser Tanzikonen des 20. Jahrhunderts.
„Dan, Martha, Trisha, Frans & Robert“ markiert einen extremen Pol im Spektrum der Rekonstruktion - das genaue Gegenteil einer detailgetreuen Wiederaufführung. Eindeutig ist hier die Frage der Autorschaft geklärt: wer sich äußert und ausdrückt, das sind Poelstra und Steijn, oder, um der scheinbaren Privatheit der Aufführung gerecht zu werden, Frans und Robert. Interessant und bezeichnend verlief das von Guillaume Désanges aus dem Planschbecken (sic!) heraus moderierte Publikumsgespräch, in dem fast ausschließlich persönliche Befindlichkeiten ausgetauscht wurden. Erinnerte man sich an die straffe Diskussion zur Eröffnung von „wieder und wider", wurde auch hier die Breite einer möglichen Skala deutlich.
Die beiden Künstler erklärten, dass sie sich im Probenprozess gegenseitig kaum kritisieren oder gestalterisch in das vom jeweils anderen vorgeschlagene Material eingreifen. „We are moving. No big deal“ - diese als höchst ironisch auffassbare Aussage aus dem Stück wurde durch solche Statements während des Gesprächs relativiert. Im Planschbecken der Gefälligkeiten vergeht jedoch viel Zeit mit lustigem, aber gehaltlosem Herumspritzen.
Mehr wider als wieder
[Poelstra/Steijn, Reflexion 1.2.:] In Bezug auf Martha Graham und Trisha Brown spinnen Frans Poelstra und Robert Steijn ein dichtes Referenzspiel, das angenehmerweise nie die Kenntnis der Bezugsfiguren voraussetzt. Über zwei am linken und rechten Bühnenrand platzierte Mikros, die ins Off weisen, wird in einen fiktiven Dialog mit den beiden verstorbenen Tänzerinnen und Choreographinnen getreten. „You have to practice dancing every day, you said. You have to make everything a dance-practice. So I ask you: Did you also practice dancing in your bed, while having sex?“ Das befragte Offstage schweigt.
Geht es hier um eine kritisch kommentierte Aneignung oder vielmehr um ein behutsam verspieltes Loslassen, ein Über-Bord-Werfen historischer Spielregeln, ein Distanzieren von Disziplin und Bedeutungsballast? „Dan, Martha, Trisha, Frans & Robert“ ist eine Einladung an und eine Verabschiedung von den beiden historischen Ikonen der Tanzgeschichte zugleich. Insofern kann das absurde Todesritual paradigmatischerweise auch als Geburtszeremonie gesehen werden. Die Differenzen und Divergenzen zwischen Dan, Martha, Trisha, Frans & Robert sind stärker spürbar als ein (möglicherweise kaum existenter) „common ground": Trisha und Martha scheinen eher als zwei Folien zu fungieren, vor deren Hintergrund, deren referentieller Präsenz, die Eigenheiten Frans und Robert´s stärker hervortreten können. „If you dedicated your whole life to dance how could you fall in love? How could you connect dancing and falling?“
(Un)erträgliche Leichtigkeit des Tanzens
Anstatt standardisierte Bewegungsabläufe zu reproduzieren, so wie sie es vom Ballett gelernt hatte, versuchte Martha Graham, Gefühl und Selbsterforschung zu den treibenden Kräften tänzerischer und choreographischer Praxis zu machen. Paradoxerweise führten diese Bemühungen der oft so genannten „Erfinderin des Ausdruckstanzes“ letztendlich zur Entwicklung einer stark standardisierten „Graham-Technik”, die, wie der Name nahe legt, für den Körper Martha Grahams geschaffen war. Diese Technik wollte man folglich in zahlreichen Ausbildungsstätten mehreren TänzerInnengenerationen mit schweißtreibenden Methoden lehren und oktroyieren.
Dem gegenüber steht die Leichtigkeit des ganz und gar unvirtuosen Tanzens bei Frans Poelstra und Robert Steijn, die in Boxershorts und Stiefeletten ihre bewegten Körper im Spiegel begutachten und sich über jedes technische Diktat und idealtypische Körperbild mit schwerelosen Armbewegungen hinwegtanzen. Diese Leichtigkeit wird in manchen Momenten beinahe unerträglich: wenn dem narzisstischen Spiegeltanz gar zu exzessiv gehuldigt wird (Jacques Lacan hätte sicher mit den Augen gezwinkert, „weil sich das Subjekt nicht ohne die narzisstische Vermittlung durch das Medium des Spiegels und der Sprache wahrnehmen kann“) und das eigene Tun selbsterklärend kommentiert wird. („Yes, we are dancing. Because we are moving our bodies. It's so simple. And even if I love another person and Frans loves another person since a long time, we are still dancing together. We are dancing because we have fun.“)
Das Schöne daran: Wenn sich der Vorhang am vermeintlichen Ende des Stücks schließt, ist es noch lange nicht vorbei. Erst dann wird das Theater von Poelstra und Steijn wirklich auf allen Ebenen besetzt. Saßen bislang die ZuschauerInnen - aufgrund der Spiegel - auch auf der Bühne, so befinden sich die beiden Performer jetzt im Publikum. Während Robert Steijn ins Mikrophon imaginiert, was in den Köpfen der Zuschauer vorgeht, bläst Frans Poelstra alle Stirnfalten mit Seifenblasen davon.
Lust auf WI/E/DER? Zur Rückkehr im Aufbruch.
Was kann man rekonstruieren? Ein Haus? Ziemlich sicher. Eine Installation? Ja. Ein Stück? Einen Gedanken? Ein Bild? Eine Bewegung? Da wird es schwierig. Wie etwas rekonstruieren, wovon es keinen Plan gibt, keine Anleitung, keine Baumaterialien, die sich kaum verändern und überall erhältlich sind, keine Modelle, kaum Dokumente, Bilder, Aufzeichnungen, Konventionen...
Aber darum geht es hier eigentlich gar nicht. Die Frage ist viel eher: Warum rekonstruieren wir etwas? Und warum rekonstruieren wir etwas absichtlich falsch (sprich: anders)? Und: Warum bezeichnen wir etwas als Rekonstruktion, was nicht um der Wiederholung Willen passiert? Und: Worin liegt der Reiz des Wiederaufgreifens?
Bedeutet kollektives Arbeiten heute nicht unbedingt, dass sich eine mehrköpfige Gruppe von Leuten in regelmäßigen Abständen trifft, sondern dass man sich vergangener Arbeiten „bedient“, dass man mit verstorbenen, vergessenen und vergangenen Personen, Ideen, Bildern und Produkten kooperiert? Dan, Martha, Trisha, Frans & Robert - ist das ein virtuelles Kollektiv?
[Emil Hrvatin, Reflexion 1.:] Während Frans Poelstra und Robert Steijn sich primär mit „ChoreographInnen“ oder „AutorInnen“ der Vergangenheit beschäftigen, und sich dabei vor allem mit dem psychologischen Hintergrund der Frauen bzw. deren Persönlichkeit, ihren Statements, Ambitionen und Visionen, auseinandersetzen, operieren Jennifer Lacey, Gerard Byrne und Continous Project auf der Ebene der „Produkte". Bei Emil Hrvatin lässt sich diese Unterscheidung nicht so einfach ausmachen. In „Pupilja, papa Pupilo pa pupilcki, rekonstrukcija" sind beide Ebenen präsent: Sowohl diejenige der „Autoren“ oder des „Kollektivs“ (über Videoeinspielungen, Interviews, Statements), als auch das Re-Enactment der Szenen des Stücks. Bei Continous Project handelt es sich um eine Ausnahmesituation: Das Symposium, das von ihnen wiederaufgeführt wird, kann per se keinem Autor zugeordnet werden, kann also in die Falle einer psychologischen Wiedererforschung eines „Autors“ gar nicht tappen.
Die Hürden einer Verlegung
[Emil Hrvatin, Reflexion 2.:] Ein Paradestück der Rekonstruktion brachte der slowenische Tanztheoretiker Emil Hrvatin in die „wieder und wider"-Reihe ein. In „Pupilija, papa Pupilo pa pupilcki, rekonstrukcija“ treffen drei Ebenen aufeinander: einerseits wird die slowenische Kultproduktion von 1969, die (osteuropäische) Theatergeschichte schrieb, mit ihren zwanzig Szenen wieder erlebbar gemacht. Alle immanenten Hürden so einer Verlegung in eine neue Zeit und einen neuen Kontext werden dabei nicht nur nicht negiert, sondern akzeptiert und verstärkt durch den spielerischen Umgang mit dieser Ebene der Rekonstruktion als Technik.
So versuchen beispielsweise zwei Performer, simultan eine Szene nachzuspielen, während das Original als TV-Dokument sichtbar ist. Das Paar wendet sich immer wieder zum Bildschirm, die eigene Darstellung mit dem zu Sehenden abgleichend. Natürlich ist diese scheinbare Spontaneität der Nachahmung nur eine Nachgeahmte, denn die Szene ist wie alle anderen gut geprobt. Ein besonderer Coup in Hrvatins Methode, die Rekonstruktion als solche sichtbar zu halten, ist die Produktion eigener „Dokumente“, wo das historische Bild fehlt. Denn das staatliche Fernsehen nahm damals, 1969, nur gut zwei Drittel der originalen Show (noch dazu nachgestellt in einem Studio) auf. Der Rest musste aus Zuschauerberichten, Kritiken, Fotos und natürlich mit der Kreativität der heutigen Truppe zusammengesetzt werden. Trotzdem findet auch hier ein Video Verwendung: eine Nacktszene wird von einer Off-Stimme beschrieben, ist zugleich als solche auf einer Projektion sichtbar und wird von den selben Leuten simultan, aber ohne Verwendung von Requisiten und ohne sich wirklich zu entkleiden, mitgespielt.
Die dritte, stets präsente Ebene ist die der Erinnerung. Die damals Beteiligten kommen in Interviews zu Wort, liefern wertvolle Augenzeugenberichte und repräsentieren dabei stets auch den Zeitsprung, die unüberwindbare Kluft zwischen damals und heute. Im Publikumsgespräch lässt Hrvatin noch wissen, dass die Aufrührer von damals (denn „Pupilija" wurde sehr kontrovers diskutiert) heute fast alle äußert erfolgreich und im Kunst- und Theaterbetrieb arriviert sind. Aber es geht natürlich nicht nur um die Erinnerungen der Beteiligten. Die Performance selber ist der beste Beweis für die Theorie, dass Erinnerung (und die damit einhergehende Identifikation) Produkt einer Konstruktion ist, die ein Mensch im Moment des Erinnerns vornimmt. Vergangenes wird nie als objektiv wiedergegeben, sondern der Akt des Erinnerns schließt immer auch eine Vermengung mit dem seither Geschehenen ein. (Womit ja auch der Dreischritt von Gerard Byrnes Film „1984 and beyond“ arbeitet, der 2005 zurückblickt auf ein Gespräch von 1963, in dem über die Zukunft am Zeitpunkt 1984 spekuliert wird).
Die Gegenwart der Gegenwärtigkeit
[Jennifer Lacey, Reflexion 1.:] Eine Choreographie von Trisha Brown in verbale choreographische Handlungsanweisungen zu übersetzen und diese als Live-Audioinstallation einem - mit geschlossenen Augen am Boden liegenden Publikum - zugänglich zu machen? Jennifer Lacey lässt gleich mehrere theatrale Konventionen links liegen: a) Im Theater/Museum gibt es etwas zu sehen. b) Der Zuseher kann dem (von anderen) Dargebotenen zusehen. c) Getanzt wird, wenn, dann von seiten der KünstlerInnen.
In „Robin Hood, the Tour“ eröffnet sich die Möglichkeit, Bewegung als eine Form der Entspannung zu verstehen (bzw. auszuprobieren bzw. zu imaginieren). Lacey nimmt sich als Garderobiere und Sprecherin aus dem Mittelpunkt, sie schafft die Rahmenbedingungen für das eigene Nachvollziehen physischer oder imaginativer Bewegungen. Auf grauem Tanzteppich auf dem Boden liegend, sieht man zunächst nichts bis auf das, was einem die eigene Imagination einflüstert: die Bewegungen, die uns die meditative Stimme Laceys beschreibt (oder vielleicht auch ganz andere). „Move your right arm perpendicular up and down, bend your left arm 90 degrees, put your hands back on the floor, roll your palms outside and inside, so that the palms are facing the floor, turn your skull to the right until the cheek touches the floor and with breathing out...“
Die Anweisungen kommen zu schnell und zu komplex, um tatsächlich ausgeführt werden zu können. Und außerdem ist alles zu bequem eingerichtet, um sich für diese Stimme zu verausgaben. „Lift the right elbow 90 degrees until your hand touches your hair in a slightly forgetful manner...“ Jennifer Laceys angenehm monotone Stimme und Florian Heckers Dolby-surround-Echos haben eine beinahe hypnotisierende Wirkung, die schwirrende Gedanken langsam in träge, minimale Kreis-Bewegungen versetzt: Hat Rekonstruktion etwas mit Entspannung zu tun? Wissen mit Vergessen? Der rechte Arm mit der linken Schulter? Die Selbsterkennung mit der Selbstverkennung? Robin Hood mit mir und Jennifer Lacey mit Karl Lagerfeld? Der Tanzboden mit dem Museum? Die Erinnerung mit der Zukunft? Die Rekonstruktion mit der linken Schulter? Die Entspannung mit der Selbstverkennung? Der Tanzboden mit Robin Hood? Die Zukunft mit Karl Lagerfeld? Der rechte Arm mit der Erinnerung... until your hand touches your hair in a slightly forgetful manner...
Rekonstruktion, Simulation, Modell - ein Service
1. Rekonstruktion: „Die Tatrekonstruktion ist ein unerläßliches Hilfsmittel bei der Aufklärung von Straftaten (...). In der Praxis sind Rekonstruktionen vor allem in Verkehrsstrafsachen und bei Kapitalverbrechen erforderlich. [Sie ermöglichen,] Informationen über den zu lösenden Fall zu erhalten, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, um dann ein sachgerechtes Ergebnis zu erzielen.“ Eine Tatrekonstruktion ist die „Feststellung des Tatgeschehens durch praktisch-technisches Nachvollziehen“. Aus einer Darstellung von: Alexander Büring, Tatrekonstruktion (...), 1992.
Bei der Rekonstruktion eines Tathergangs in der Kriminalistik schließt sich jede exakte Wiederholung des kompletten Geschehens ganz selbstverständlich aus. Ein Mordopfer kann nicht noch einmal getötet werden, ein Einbruch nicht noch einmal gemacht, ein Täter nicht in derselben Situation noch einmal überrascht werden. Tathergangsrekonstruktionen werden (etwa mit Hilfe von Dummies am Originalschauplatz) inszeniert, um den zu untersuchenden Ablauf performativ zu konkretisieren und dabei Elemente zu erfassen, die in einer abstrakten Rekonstruktion möglicherweise übersehen würden. Die approximative Tatrekonstruktion in ihrer Übersetzung in Literatur, Film und TV-Serien ist eine der populärsten Appropriationen des Rekonstruierens von Prozessen durch das Entertainment.
2. Simulation: „Simulations are often used in the military and other performance-critical fields (e.g., law enforcement, aviation, emergency management) to assess readiness, to support training, management, and decision making and to conduct mission rehearsal. This volume documents the state of the art and presents a state of the possible in individual and small unit human performance research and simulation.“ Zitat aus der Synopsis von James W. Ness/Victoria Tepe/Darren R. Ritzer (Ed.), The Science and Simulation of Human Performance (Advances in Human Performance and Cognitive Engineering Research), Oxford 2005, auf: www.amazon.de.
Auch die vorwegnehmende Konstruktion möglicher Abläufe muß ungenau bleiben und mit dem Prinzip der Annäherung arbeiten. In der Simulation und der Rekonstruktion von Prozessen wird gleichermaßen mit Vorstellungen von „Ähnlichkeit" operiert und versucht, die jeweiligen Zielobjekte als Modelle (in Entwurf oder Wiederherstellung) zu vergegenwärtigen. In der Beschreibung von Prozessen wird sinnvollerweise mit Modellen gearbeitet. Ein Modell ist kontextflexibel denkbar oder verlangt die Mitkonstruktion eines angedeuteten und ebenfalls modellhaften Umraums. Der Flugsimulator etwa, in dem nicht nur bestimmte Situationen, sondern vor allem längere Ereignisketten hergestellt werden können, ist eine sehr effiziente Modellmaschine, in der die Aktivitäten von Piloten im Cockpit in Bezug auf das Verhalten eines Flugzeugs durchgespielt werden können. Eine auf ein Gestell montierte geschlossene Box mit allen Einrichtungen wie in einer richtigen Pilotenkanzel.
3. Modelle: Das Arbeiten mit Modellen ist in der bildenden Kunst, in der Architektur und auch in der Literatur üblich. Die alte Beziehung zwischen Maler, Fotograf oder Bildhauer und Modell projiziert den Modellbegriff auf den Live-Darsteller einer Mediatisierung durch künstlerische Prozesse. Wobei auch hier Marshall McLuhans einst vielzitierter Satz vom Medium als Botschaft seiner selbst gilt. Das Modell wird erst in seiner medialen Übersetzung zu einem solchen und verschwindet entweder dahinter oder wird durch sie überhöht. Wobei die Überhöhung immer auf ihre Mittler - Autoren und ihre Medien - verweist.
In der darstellenden Kunst gewinnen die Modelle als Darsteller selbst medialen Charakter. Das Herstellen von strukturellen Modellen wiederum ist aufwendig. Durchläufe und Generalproben sind Beispiele für solche prozeßhaften Modelle. In der Konstruktion, also etwa einer Choreografie, die schlußendlich aus zahlreichen Einzelprozessen zusammengesetzt sein kann, ist die Simulation von zahlreichen nicht antizipierbaren Parametern beeinflußt, vor allem, weil in den Generalproben oft noch kaum Publikum anwesend ist, und weil es unter den Einzelprozessen innerhalb der Arbeit nicht nur geschlossene, sondern auch offen bleibende gibt. Dazu kommt, daß etwa Tänzerinnen und Tänzer an sich offene Prozesse repräsentieren. Diese die Vorausberechnung des Ergebnisses erschwerende Offenheit ist auch gewünscht.
Anwendungen: Byrne, Continuous Project und Lacey revisited
[Gerard Byrne, Reflexion 2.:] Byrnes „Nominally an installation, a performance, or an event, 2006“ ist als Installation ein Tatort. Zeugen des Tathergangs, die diesen als Performance lesen konnten, sahen, daß zwei Museumsangestellte am 8. November 2006 im Raum Mumok factory, im Beisein mehrerer Zeugen und beobachtet von einer Videokamera, aus verpackten Holzplatten eine Skulptur „Ohne Titel" zusammenbauten. Laut Byrnes späterer Aussage war diese Skulptur ein „Dummy", also die Simulation eines Originals. Die Performance bestand aus dem Zusammenbau dieses eine Arbeit von Donald Judd vortäuschenden Simulakrums, das heißt, aus der Rekonstruktion einer Aktivität, wie sie beim Zusammenbau der echten Skulptur erfolgt wäre, am Modell. Die Choreografie der Arbeit am Modell als Kunstwerk an einem Kunstort weist auf das „Original" der Arbeit an der Bereitstellung von Kunstwerken zur Rezeption hin, eine Arbeit, die generell hinter jener der Produktion eines Kunstwerks verborgen wird. In der Teminologie der Kriminalistik: diese Choreografie war die „Feststellung des Tatgeschehens durch praktisch-technisches Nachvollziehen“.
[Continuous Project, Reflexion 3.:] Das Symposium der amerikanischen Gruppe Continuous Project stellte ebenfalls eine Methode der Tatrekonstruktion vor. Die Reproduktion eines Geschehens auf Basis eines Transkripts. Ein Podium mit den Vortragenden, ein Auditorium. Das Transkript stand beiden Seiten zur Verfügung. Der gesamte Sprachinhalt wurde, inklusive der Rollenverteilung und der Anmerkungen des Transkribierenden wiedergegeben, wobei „schauspielerische Qualität“ kein Kriterium darstellte. Es lasen sowohl Mitglieder der Gruppe als auch der veranstaltenden Institution. Auf die Simulation von während des ursprünglichen Symposiums benutzten Bild- und Tonmaterialien wurde verzichtet. So standen der verfügbare Text und die Struktur des Symposiums im Vordergrund. Dieses war am 10. und 11. November 1990 im New Yorker Dia Center for the Arts veranstaltet worden und trug den Titel „The Politics of Images: Issues in the Presentation of Contemporary Art“. Der Programmzettel, der in stark vergrößerter Reproduktion am Aufführungsort der Performance an die Wand gehängt war, informierte auch darüber: „A parallel symposium of the same structure and themes was held in the Tate Gallery, London, October 19 and 20, 1990“. Das heißt, die New Yorker Veranstaltung war bereits in gewisser Hinsicht ein Duplikat, das nun, 16 Jahre später, als Textmodell in voller Länge wiederbelebt wurde, nun allerdings in Form einer „Aufführung“.
Sowohl Byrne als auch Continuous Project zeigten „Arbeit am Modell“ - dem Dummy, dem Transkript. In beiden Arbeiten wurden Prozesse so simuliert, daß sie einen Tathergang wahrnehmbar machten. Die Performance, als Objekt betrachtet, ist das Metamodell, an dem sich eine Vergegenwärtigung erproben läßt, deren Eigenwertigkeit ein anderes Terrain besetzt als das „Original“.
[Jennifer Lacey, Reflexion 2.:] Wenn die Choreografin Jennifer Lacey mit Florian Hecker in „Robin Hood, the Tour“ über das Transkript der Videoaufnahme eines Stücks von Trisha Brown ihr Publikum choreografiert, schließt sie an diese Prozesse an und führt sie um einen Schritt weiter. Die Zeugen, das Auditorium werden mit Laceys Lektüre des Videos geimpft. Sie spricht ihr Transkript als Fluß von Handlungsanweisungen, und ein Soundsystem erzeugt eine akustische Architektur, innerhalb derer das mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegende Publikum sich imaginär oder tatsächlich den Anweisungen folgend zu bewegen beginnt. Lacey überträgt ein System der visuellen Rezeption (des Stücks von Brown) in ein anderes (der akustischen Rezeption ihrer Anweisungen), hebt den passiven Zuschauer aus dem steifen Sessel und legt ihn, mit der Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, bequem auf den (weichen!) Tanzboden. Sie transferiert die Aktivität vom Performer auf das Publikum.
Zu Beginn und am Ende leistet sie als Garderobiere Dienste im Performanceraum: der Konsument übergibt der Choreografin, die ohne Tänzer arbeitet, den Mantel seiner Rezeptionsgewohnheiten. Hier wird Trisha Browns Tat zum Vorwand für eine neue, in jedem Fall schlimmere. Denn deren Stück für fünf Tänzer, „Group Primary Accumulation“ (1970) wird zum Objekt (!) einer Aneignung (Appropriation) mit partizipativem Charakter für das Publikum. Das Stück baut sich so in den Körpern seiner Rezipienten neu auf.
(16.11.2006)