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Ξ: “Parade” von Friktionen

CHOREOGRAPHISCHE KONZEPTE IN DER ZUSAMMENARBEIT VON JEAN COCTEAU, PABLO PICASSO UND LÉONIDE MASSINE

Von Nicole Haitzinger

[Dieser Text ist Teil von Projekt Ξ: corpus reaktiviert Beiträge aus

seinem Archiv 2006-2017; wiederveröffentlicht am 20. Februar 2019]

 

Wenn man über die historischen Avantgarden nachdenkt, fällt einem Parade (1917), eine kollektive Inszenierung von Jean Cocteau, Pablo Picasso, Erik Satie und Leonide Massine, aufgeführt inmitten der Wirren des Ersten Weltkriegs unter Diaghilevs Ägide, nicht als erstes ein. Ein Versehen der Geschichtsschreibung? Unzweifelhaft handelt es sich bei „Parade" um eine höchst widersprüchliche Kunstproduktion, um eine Ausstellung, eine Zur-Schau-Stellung von Friktionen, deren „Relikte" wir heute noch in Form von Picassos Skizzen, Cocteaus Libretto, Saties Partitur und diversen Notizen, Briefen, Fotos bewundern können. Diese theatralen Archivalien sind – vor allem wegen des Starkults um Pablo Picasso – im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts hoch bewertete Kunstprodukte geworden. Für den Kontext des Labors „Versehen" ist von Interesse, welche choreografischen Konzepte in diesen Dokumenten, die heute der Bildenden Kunst oder der Literatur zugeschrieben werden, archiviert sind.[1]

 

Parade leitet eine neue, modernistische Phase der Ballets Russes ein, in der Topoi und Motive der westeuropäischen Kulturen aufgegriffen werden. Die Künstlertruppe um Serge Diaghilev beginnt sich der westlichen Kulturindustrie, den neuen Künsten (Film, Fotografie), dem Profanen und Populären zu öffnen.[2] Vor allem Jean Cocteau und Pablo Picasso interessieren sich für ein Zeigen der „aufdringlichen, vulgären und vitalen" Seite des modernen Lebens. In Parade werden kulturelle Zeichen und Codes der modernen Welt in verschiedenen Figuren verdichtet und demonstriert. Cocteau schreibt 1916 an seinen Freund Guillaume Apollinaire: „Ich glaube, dass Sie Parade lieben werden. Diag. beginnt zu ahnen, dass er dort ‚Bild-Fehler' [fautes de dessin] in einem ,modernen‘ Œuvre haben könnte und dass man die Welt transfigurieren könnte, indem man sie peinlich genau kopiert [en le copiant scrupuleusement]."[3]

 

Gleichzeitig – und das ist vielleicht weniger bekannt – ist die kollektive Arbeit an Parade von einer besonderen Commedia dell'Arte- wie auch Antikenrezeption (der Ruinen, des Zerfalls, des Niedergangs einer alten Kultur) durchdrungen. Sowohl Cocteau, Massine als auch Picasso beziehen sich in ihren Notizen und Skizzen auf die Typentradierungen des italienischen Theaters wie auch auf die Ausgrabungsstätten der (vor allem römischen) Antike als Bezugssystem für Parade.

Einige Intellektuelle und Kunstgrößen der historischen Avantgarde nehmen Parade begeistert auf und halten es für einen Aufbruch in eine neue Zeit. Apollinaire schreibt im Programmzettel (1917) voller Enthusiasmus:

„Der kubistische Maler und der kühnste der heutigen Choreografen, Léonide Massine, haben zum ersten Mal vollkommen jene Allianz zwischen Malerei und Tanz, zwischen den bildenden und den mimetischen Künsten erreicht, welche der Bote einer kommenden, vollständigeren Kunst ist. Daran ist überhaupt nichts Paradoxes! [...]

Diese neue Verbindung – ich sage neu, weil bisher Bühnenbild und Künste nur von sehr künstlichen Fäden verbunden waren – hat in ,Parade‘ zu einer Art Sur-Realismus geführt, den ich für den Ausgangspunkt einer ganzen Serie von Manifestationen des Neuen Geistes halte, der sich heute bemerkbar macht und der sicher unsere Eliten anziehen wird."[4]

Zum ersten Mal wird von Apollinaire – noch Jahre vor Bretons Manifesten – der Begriff „Surrealismus" verwendet und in den Kunstdiskurs eingeführt, allerdings noch undoktrinär und ohne inhaltliche Konzeption. Das Publikum in Paris ist weniger begeistert und lehnt Parade großteils ab. Es provoziert keinen so großes Skandal wie Nijinskys Sacre (1913), das auch heute noch als Emblem der Moderne gilt, auch wenn Cocteau sich das insgeheim gewünscht hat. Die Gründe der Ablehnung sind simpler: „Bei Parade hielt das Publikum die Transposition der Music-Hall für schlechte Music-Hall."[5]

 

Im Folgenden versuche ich, kurz zu skizzieren, welche Rolle Picasso, Cocteau und Massine in der Gestaltung dieses widersprüchlichen „Ballet réaliste" spielten und welche dramaturgischen, choreografischen und inszenatorischen Funktionen diese Künstler jenseits von Genrezuschreibungen übernahmen[6]. Im Labor selbst schließlich soll – nach Vorstellung der Materialien, gemeinsamer Diskussion und dem Vergleich mit anderen Projekten, Dokumenten – die Frage diskutiert werden: Ist Parade ein avantgardistischer Coup de Théâtre oder handelt es sich bei dieser Inszenierung eher um ein modernistisches Kunststück?

 

Entwürfe und Proben

 

Seit den ersten Saisonen der Ballets Russes in Paris versucht der Franzose Jean Cocteau, Serge Diaghilev zu einer künstlerischen Zusammenarbeit zu überreden. Unermüdlich arbeitet er auf dessen Antwort und Forderung „Étonne-moi!" („Erstaune mich!“) hin. Seine ersten Arbeiten in den 1910er Jahren für die Ballets Russes sind u.a. Posterdesigns, cartoonartige Skizzen, Lobesartikel über Nijinsky, ein Szenario für das schlecht aufgenommene Stück Dieu Bleu (1912) und ein Entwurf für Five Grimaces for a Midsummer Night's Dream, das wegen der Kriegswirren nie zur Aufführung kam.

 

Oft wird die Bedeutung dieser – nicht nur bei den Ballets Russes – doppelgesichtigen und zwiespältig wahrgenommenen Persona für Parade unterschätzt. Und doch ist es Cocteau, der Satie wie auch Picasso für die Produktion auswählte, der das Szenario schreibt und für den Gesamteindruck verantwortlich ist. Schon der erste Entwurf für Parade (1915), noch mit „David" betitelt, als Komponist war Stravinsky vorgesehen, weist wesentliche Elemente der späteren Inszenierung auf.[7]

 

1916 schreibt Cocteau die folgende Definition aus dem Dictionnaire Larousse auf sein Notizbuch: „Parade: Eine burleske Szene, gespielt vor einer Side-Show-Schaubude, um Zuschauer anzulocken."[8] Er notiert Megaphondialoge und profiliert drei Typen: Chinesischer Zauberer, Amerikanisches Mädchen und Akrobat. Den Entwurf, der verschiedene Aktionen beschreibt und Attribute und Charakteristika der drei listet, schickt er Eric Satie, der auf dessen Grundlage die Partitur erstellt.

 

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  Cocteaus Notate zur Figur des Chinesischen Zauberers für Erik Saties Partitur. Aus: „Picasso's Parade", 77.

 

Das Ambiente und die Typen gehen auf Cocteaus zeitgeistiges Interesse an Unterhaltungskunst (Zirkus, Varieté, Film) zurück. Picasso, der zuvor weder bei einer Aufführung der Ballets Russes war noch Bühnenbild oder Kostüme für Ballett gestaltet hat, trifft im Sommer 1916 auf Cocteaus besonderen Wunsch hin und Diaghilevs Anfrage die Entscheidung, an Parade mitzuwirken. Die Kunstszene in Paris ist zu dieser Zeit in zwei Lager geteilt, wie auch Cocteau aus seiner, bestimmt egozentrischen, Sicht beschreibt:

„I understood that there existed in Paris an artistic right and an artistic left, which where ignorant or disdainful of each other for no valid reason and which was perfectly possible to bring together. It was a question of converting Diaghilev to modern painting, and converting the modern painters, especially Picasso, to the sumptuous, decorative aesthetic of ballet: of coaxing the Cubists out of their isolation, persuading them to abandon their hermetic Montmartre folklore of pipes, packages, tobacco, guitars and old newspaper; ... The discovery of a middle-of-the-road solution attuned to the taste for luxury and pleasure, to the revived cult of ‘French clarity' that was the springing up in Paris even before the end of the war – such was the history of Parade."[9]

Die Gründe für die Mitwirkung Picassos an Parade mögen vielfältiger sein. Interessant ist dennoch, dass der Kubismus und die Moderne Kunst, zu deren Pionieren er ja zählt, zu dieser patriotischen Zeit in Paris als „boche" (eine pejorative Form für deutsch) eingestuft wird, vor allem deutsche Galeristen wie Kahnweiler stellen Moderne Kunst aus. Die Pariser Linke bewertet den Kubismus zu der Zeit als „unfranzösisch, unpatriotisch und fremdartig". Picasso selbst lehnt sich gegen solche Klassifizierungen in seinem Œuvre auf.[10]

 

Die tatsächliche inszenatorische Zusammenarbeit von Cocteau, Picasso und Massine für Parade beginnt im Februar 1917 in Rom, wo sich Diaghilev mit der Truppe der Ballets Russes aufhält. Satie hat bereits die Partitur für Parade erstellt, er bleibt in Paris. Picasso macht sich am Beginn der Romzeit während diverser Proben der Ballets Russes mit Theatertechnik und Szenographie vertraut, skizziert Tänzer und erhält – und das ist besonders bemerkenswert – Unterstützung von den ausgewiesenen Ballets Russes-Szenographen Léon Bakst und Michel Larionov.[11] Von Beginn an arbeiten Picasso, Massine und Cocteau im Team am Szenario weiter, wobei Picassos Gestaltungsphantasie sich ab diesem Zeitpunkt voll entfalten kann:

„We decided [...] incorporating jazz and cinematograph techniques in balletic form. Picasso was delighted by the whole concept, and suggested that the costumes should be executed in cubist style – cubism at its height – and he quickly produced some rough sketches, the most striking for the French and American managers, whom Picasso visualized as animated billboards suggesting the vulgarity of certain types of show-business promoters."[12]

Massines Memoiren dokumentieren den Gestaltungsprozess nur sehr ungenau, dennoch zeigen sie, dass Picassos künstlerische Relevanz für die Inszenierung eine immer größere Bedeutung bekommt. Picasso verwendet in Rom einen kleinen Karton, in dem er Cocteaus Mise en scène (Zirkusplatz, Schaubuden) in Miniatur baut. Er entwirft Kostümskizzen für die drei Typen und arbeitet an seiner eigenen Idee der „Hommes-Décors", der späteren Manager weiter.

 

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    Picasso, Studie für die Figur des Amerikanischen Mädchens
    in seinem Notizbuch, 1917. Aus: „Picasso's Parade", 115.

 

In Gesellschaft von Diaghilev und Cocteau trifft er sich zu dieser Zeit mit den italienischen Futuristen Giacomo Balla und Fortunato Depero.[13] Gemeinsam reisen Diaghilev, Cocteau, Picasso und Bakst nach Neapel, Herculaneum und Pompeji. Sowohl die antiken Ruinen wie auch die lebendige neapolitanische Commedia dell'Arte-Tradition mit ihrem antihierarchischen und obszönen Gestus und ihrer nicht-literarischen Qualität haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den künstlerischen Gestaltungsprozess von Parade.

 

„Soyons vulgaires" lautet Cocteaus Motto in Italien. Er lässt sich vor allem von der Straßenkunst und vom erotischen Treiben in den Rotlichtmilieus infizieren und affizieren. Skizzen von ihm belegen kopulierende Parade-Manager, diverse Phallussymbole etc... Picasso studiert die italienische Malerei (von der Renaissance zur Moderne), beschäftigt sich mit antiken Ausgrabungsstätten und ihrer Architektonik des Zerfalls.

 

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Picassos Studie für das Bühnenbild, 1917. Aus: „Picasso's Parade", 191.

 

Wie schon zuvor in seinem Œuvre setzt er sich auch in Italien intensiv mit Zirkus, Harlekinen und der Volkstheaterkultur auseinander. Massine studiert ebenfalls die Typen der Commedia dell'Arte, wobei ihm vor allem die pantomimische Qualität und die Plastizität des Körpers in ihrem Spiel mit Masken als Inspiration für Choreografie und Tanz dienen.[14]

 

Nach der Italienreise gabelt sich der inszenatorische Weg bis zur Zusammenführung in der Probenendphase: Die Endfertigung des Bühnenbildes und der Hommes-Décors (Manager) erfolgt von Picasso, die Choreographie für den chinesischen Zauberer, das amerikanische Mädchen und die Akrobaten wird von Cocteau und Massine gemeinsam entwickelt. Das spiegelt sich auch in der zweiteiligen dramaturgischen Collage-Struktur von Parade: Der situative Schauplatz ist eine Straße in Paris an einem Sonntag. Die zuvor genannten Music Hall-Künstler zeigen im Ablauf von drei gesonderten Auftritten vor ihren Schaubuden kurze Kunststückchen, mit denen sie das Publikum in ihre Shows zu locken versuchen. Sie werden jeweils von den „Managern" – überdimensional große Mensch-Objekt-Konstruktionen – mit Nummerntafeln angekündigt. Parade endet nach 20 Minuten mit einem Finale, in dem alle Figuren gemeinsam auf der Bühne erscheinen.

 

Choreographie der Figuren: Cocteau und Massine

 

Die choreographische Gestaltung der Figuren-Akte von Parade erfolgt in enger Zusammenarbeit von Cocteau und Massine. Massine, der 1914 aus Russland nach Paris kommt, ist wenig mit Music Hall und noch weniger mit der westlichen Kulturindustrie vertraut. Bevor er die Schritte choreographiert, demonstriert ihm – wie Notizen und Briefe belegen – Cocteau das für die Unterhaltungskunst der Zeit typische Bewegungs- und Gestenvokabular.

 

Aus einem Brief von Cocteau an seine Mutter: „You would love to see the dancer I have become. Massine wants me to show him every slightest detail, and I invent the roles, which he then immediately transforms into choreography."[15] Für den Auftritt des Chinesischen Zauberers existiert eine Ablaufskizze von Cocteau aus seinem römischen Notizbuch.

 

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Ablaufskizze für den Chinesischen Zauberer von Jean Cocteau aus seinem Römischen Notizbuch. Aus: „Picasso's Parade", 93.

 

Wie Deborah Menaker Rothschild in Picasso's Parade recht eindeutig nachweist, ist die Figur des Chinesischen Zauberers eine Parodie auf die oft pseudo-orientialischen Unterhaltungskünstler, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in Paris en vogue waren.[16] Cocteau und Massine modellieren das pantomimische Bewegungsrepertoire des Zauberers nach Chung Ling Soo, einem der berühmtesten Unterhaltungskünstler dieser Zeit. Auch Picassos Kostümskizzen und Make-up-Studien zeigen große Ähnlichkeiten mit Photographien und Plakaten, auf denen Soo abgebildet ist. 

„Dressed in a mandarine jacket and floppy trousers, I marched stiffly round the stage [...] I was at first unable to decide what sort of tricks this type of performer would do, but when I had demonstrated the opening phase of my dance to Cocteau, he suggested that I should go through the motions of a swallowing egg. [...] My entire performance, with its exaggerated movements, broad miming, and oriental mask-like make-up, was designed to present an enigmatic figure who would intrigue to the fairground public and make them want to see more of him."[17]

Die Figur des amerikanischen Mädchens basiert auf den damals aktuellen Kinoheldinnen Pearl White und Mary Pickford. „Das kleine Mädchen setzt sich in Bewegung, fährt mit dem Fahrrad spazieren, es wirkt wie eine abrupte Bildfolge in einem Film, es ahmt Charlie nach, verfolgt einen Dieb mit einem Revolver, boxt, tanzt einen Ragtime, schläft ein, erleidet Schiffbruch, wälzt sich an einem Aprilmorgen im Gras, ergreift einen Fotoapparat, und so weiter...", schreibt Cocteau in einem Brief an Paul Dermée, den Direktor der Zeitschrift Nord-Sud im Jahr 1917.[18]

 

Fast jede ihrer Aktionen, die aus atemberaubend schnellen, sprunghaften Bewegungsabfolgen und pantomimischen Sequenzen zu Saties Ragtime bestehen, sind entweder der Serie „Pauline" oder einem Pickford-Film entlehnt ( – mit Ausnahmen wie der Kopie des typischen Chaplin-Gangs). Die Ballerina Marie Chablenksa, Originalbesetzung des amerikanischen Mädchens, dokumentiert die große Herausforderung, die die Choreographie an die Tänzerin stellt: „[...] her entrance and exit were extremely difficult. These consisted of 16 bars of music; and with each bar she had to jump with both feet straight out together in the front and almost touch her toes with her outstretched arms. This is hard enough to do on the spot, but when it was a question of moving around a vast stage at full speed it was no mean feat."[19] Der Einfluss des Films ist nicht nur auf Inhaltliches, sondern auch auf die Choreographie zu beobachten: das schnelle Überblenden und Nebeneinander vieler Szenen verweist auf filmische Montagetechniken.

 

Der dritte Figurenauftritt der Akrobaten lässt sich als eine Parodie auf den klassischen Pas de deux ohne innere Motivation in einem Zirkusambiente lesen. Cocteau stellte sich in seinen ersten Entwürfen – recht unspezifisch – einen Akrobaten vor, der nahe den Sternen ist; später gibt er die Anweisung, dass Massine eine klassische Music Hall-Szene eines Akrobaten imitieren sollte. Massine choreographiert für Lydia Lopokova und Nicholas Zverev eine Reihe von Pirouetten und Arabesken in der Tradition des klassischen Balletts und lässt durch bestimmte Bewegungsphrasen die Illusion entstehen, als würden die beiden Figuren auf einem Seil tanzen.

 

Choreographie der Hommes-Décors: Picasso und Massine

 

Picasso arbeitet im Frühjahr 1917 in Paris auf Grundlage seiner Rom-Skizzen intensiv an der Gestaltung der Hommes-Décors weiter. Seine über 40 Skizzen geben einen faszinierenden Einblick in den Prozess der detaillierten Ausgestaltung dieser Körper-Objekt-Konstruktionen.

 

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Picassos Studie für den Manager auf dem Pferd. Aus: „Picasso's Parade", 22.

 

Für die überdimensional großen Manager verwendet er schließlich in der Realisierung Wellpappe, Tücher, Metall und Schrott, den er im und nahe dem Châtelet-Theater findet. Diese dreidimensionalen Konstrukte sind jeweils spezifisch charakterisiert. Der amerikanische Manager setzt sich aus Elementen wie Cowboy-Outfit, Lasso, Wolkenkratzer mit rauchendem Kamin, überdimensionaler Pistolenhalterweste, einer Reklametafel mit der Inschrift PA/RA/DE und einem überdimensionalem Megaphon zusammen. Picasso verbindet Stereotypen des ländlichen und des großstädtischen Amerika und adaptiert einige der von Cocteau erdachten Images und Typisierungen. Im französischen Manager ist die Figur des kosmopolitischen Dandys durch Attribute wie Pfeife, französischer Boulevard, Frack, Schnurrbart verdichtet.

 

Das kubistische Gesicht verbindet realistische und abstrakte Aspekte wie auch Frontal- und Seitenprofil. Dieser Manager ist in Erscheinung und Gestus Diaghilev selbst ähnlich, der die Ballets Russes als „ungewöhnlich enthusiastischer Scharlatan"[20] leitet. Anfänglich sollte der dritte Manager ein „Negro-Minstrel", ein als Schwarzer geschminkter Varietésänger auf einem Pferd sein. Während einer Endprobe im Paris fiel dieser Manager jedoch von seinem Gaul. Alle Anwesenden brachen in Gelächter aus. Picasso behält schließlich nur das – von zwei Tänzern in Bewegung versetzten – Pferd bei, für das Massine eigens eine musiklose Kurzchoreographie gestaltet.

 

Picassos meterhohe Manager, die über die Bühne marschieren sollten wie lebendige Reklameschilder, sind eine choreographische Herausforderung für den jungen Massine. Ihr Bewegungsduktus ist auf stampfende und langsame, eckige Bewegungen reduziert. Cocteau notiert in sein Notizbuch: „Picasso's managers by their size and their weight have obliged the choreographer to leave behind old formulae."[21] Die Auftritte der überdimensionalen Hommes-Décors sind nicht improvisiert, sondern werden von Massine in Zusammenarbeit mit Picasso genau choreographiert. Nichts bleibt dem Zufall überlassen.

 

Faszinierend ist, dass gerade Léon Bakst, der Szenograph für die noch eng mit russischen künstlerischen Tradierungen in Verbindung stehenden Produktionen der Ballets Russes, in seinem Artikel „Chorégraphie et Décors des Nouveau Ballets Russes" im Programmheft zu Parade (1917) in dieser Manager-Choreographie „neue" Zeiten für das Ballett heraufziehen sieht: „Und ich bestehe darauf, die [Choreographie der] Schritte für die Manager und für das Pferd – das ist es, was die neue Choreographie so atemberaubend gemacht hat."[22]

 

Cocteau selbst favorisiert die Choreographie der drei Schaustücke, die er gemeinsam mit Massine gestaltet hat: „Im Gegensatz zur Auffassung des Publikums unterstreichen jene Figuren die kubistische Schule mehr als unsere Manager. Die Manager sind Dekoration, sich bewegende Picasso-Portraits, und gerade ihre Struktur zwingt sie zu einer gewissen choreographischen Mode. Bei den vier Helden hingegen handelt es sich darum, von einer Abfolge realer Bewegungen auszugehen und sie in Tanz zu verwandeln, ohne dass sie dadurch ihre realistische Kraft verlieren."[23]

 

Die Transformation von „realen", d.h. populären Gesten und Alltagsbewegungen in den Bühnentanz ist nach Cocteau die größte Herausforderung für das Ballett seiner Zeit. Dennoch, in den Kurzchoreographien für den Chinesischen Zauberer, für das Amerikanische Mädchen und für die Akrobaten sind – historiographisch betrachtet – weder neue Bewegungsfindungen noch avantgardistische Tanzkonzepte zu entdecken. Die drei Kunststückchen werden über eine choreographische Struktur vermittelt, die ausschließlich auf ein tradiertes Formelvokabular (pantomimischer Gestus, klassischer Pas de deux...) zurückgreift. Dafür treten die bildhaften Erscheinungsformen der Figuren, die dem Typentheater, dem Stummfilm, dem Varieté, der Music Hall, dem Zirkus, dem klassischen Ballett entlehnt sind, in den Vordergrund.

 

Finale. 

 

Widersprüchliches wird im frühen 20. Jahrhundert oft im Sinne einer kollektiven Ästhetik der Künste zusammen gezeigt. Das modernistische Gesamtkunststück setzt sich aus rohen und sublimen, populären und hochkulturellen, realistischen und abstrakten Elementen zusammen, die erst durch den Kontext (Aufführung, Ausstellung) ihre gemeinsame Wirkung als „neue" Kunst entfalten. Lassen wir noch einmal Apollinaire sprechen, der dieses Konzept schon 1917 am Beispiel der Inszenierung von Parade kunstanalytisch zu erläutern versucht: „Das Motiv wird jedoch nicht reproduziert, sondern repräsentiert. Genauer gesagt, ist es auch nicht dargestellt, sondern eher mit den Mitteln einer analytischen Synthese angedeutet, die alle sichtbaren Elemente eines Gegenstandes erfasst und, falls nötig, noch etwas anderes: eine integrale Schematisierung, die darauf zielt, Widersprüche zu vereinen, indem jeder Versuch unterdrückt wurde, die unmittelbare Erscheinung des Gegenstandes wiederzugeben."[24]

 

Im Finale von Parade treten die vier Figuren und Picassos Hommes-Décors noch einmal gemeinsam auf. Massine zeigt in einer choreographierten Collage alle mit ihrem jeweils typischen Bewegungs- und Gestenvokabular gleichzeitig auf der Bühne: 

„For the final I devised a rapid ragtime dance in which the whole cast made a last desperate attempt to lure the audience in to see their show. The managers shouted through their megaphones, the horse clumped round the stage, the acrobats performed amazing leaps, the American girl cavorted, the conjurer smiled and bowed. But the public remained indifferent, and when it became evident that the whole Parade had been a failure, the horse collapsed in the ground, the girl and the managers dropped. Only the conjurer retained his oriental calm.[25]

Parade endet tragisch. Die modernen Helden der Unterhaltungskunst scheitern in ihren Versuchen, die Publikumsgunst zu gewinnen. Das Lachen bleibt im Halse stecken, wenn die Doppelbödigkeit von (Unterhaltungs-)Kunst am Ende, als Ende noch einmal in Szene gesetzt wird. Paris 1917, die Resignation über den Verlust der „alten" Welt durchdringt auch Parade. Picasso, Cocteau und Massine stellen die moderne Welt mit alten wie neuen theatralen Mitteln aus, wie sie ist. Nicht wie sie sein könnte.

 

Fußnoten:

  [1] Das Verhältnis von Choreographie und Komposition wird bei dieser Fragestellung zum Großteil ausgeklammert. Vgl. aber dazu u.a.: Monika Woitas, Leonide Massine – Choreograph zwischen Tradition und Avantgarde, Tübingen, 1996, 175-199. Weiters auch: Deborah Menaker Rothschild, Picasso's Parade, London, 1991, 86-99.

[2] Vgl. Lynn Garafola, Diaghilev's Ballets Russes, New York, 1989, 99-107. Oder auch Claudia Jeschke/Nicole Haitzinger, „Unterwegs. Von den Metropolen Europas zum Highway 101. Topographische Konzepte im Tanz des 20. Jahrhunderts“, in: Annäherungen, Festschrift für Jürg Stenzl zum 65. Geburtstag, Ulrich Mosch, Matthias Schmidt und Silvia Wälli (Hg.), Saarbrücken, 2007, 141-159.

[3] Je pense que vous aimerez „Parade". Diag. commence a entrevoir qu'il peut y avoir des „fautes de dessin" dans une oeuvre « moderne » et qu'on peut transfigurer le monde en le copiant scrupuleusement. In: Correspondance, Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau, Pierre Caizergues/Michel Décaudin (Hg.), Paris, 1991, 24.

[4] Programmzettel „Parade", 18. Mai 1907, In: Apollinaire zur Kunst, Texte und Kritiken 1905-1918, Hajo Hüchting (Hg.), Köln, Dumont, 1989, 277.

[5] In: Jean Cocteau, Hahn und Harlekin, Aphorismen und Notate, Bonn, 1991, 59.

[6] Vgl. Programmzettel zu Parade (1917) mit folgenden Angaben: Ballet réaliste, avec collaboration de Picasso pour les décors et costumes et de Erik Satie pour la musique. Répresenté au théâtre du Châtelet en 1917 par la Compagnie des Balles russes de Serge Diaghilew, Chorégraphie de Léonide Massine d'après les indications plastiques de l'auteur.

[7] On a stage, in front of a booth at a fair, an acrobat would be doing a come-on for DAVID, a spectacle intended to be given inside the booth. A clown who is later transformed into a boy (theatrical pastiche of the phonograph played at the fairs – modern form of the ancient mask), was to celebrate David's exploits through a loudspeaker and urge the public to enter the booth and see the show. In a way this was the first sketch for „PARADE", but unnecessarily complicated by biblical references and a text. Zit. n. Picasso's Parade, 44.

[8] Siehe Cocteaus Notizbuch in der Dance Collection der New York Public Library, zit. n. Picasso's Parade, 46.

[9] Zit. n. Picasso's Parade, 46.

[10] Vgl. Picasso's Parade, 47.

[11] Zu dieser Zeit verliebt sich Pablo Picasso in die Ballets Russes-Tänzerin Olga Koklova, die er 1918 heiratet. In diesen Jahren entstehen einige der schönsten Ballettskizzen von Picasso.

[12] Léonide Massine, My Life in Ballet, London, 1968, 102.

[13] Eine handschriftliche Notiz von Depero aus dem Jahr 1917 besagt sogar: „But in compensation Diaghilev provided me to construct three costumes for 400 [lire] for Picasso's Dance." Dieses Angebot wurde aber nicht realisiert. Zit. n. Picasso's Parade, 51.

[14] „At the Royal Palace Library in Naples I began to do some extensive research into the commedia dell'arte, for I had an instinctive feeling that this Italian type of folk-theatre, with its emphasis on mime and its use of extempore acting, based only on a scenario [...] my interest was caught by his [Gherardi's] description of each of the stock character, and by his insistence on the importance of the expressive plasticity of the body, rendered imperative by the habitual use of the mask." Massine, My Life in Ballet, 145.

[15] Zit. n. Picasso's Parade, 90.

[16] Picasso's Parade, 91.

[17] Massine, My Life in Ballet, 104.

[18] In: Cocteau, Hahn und Harlekin, 109.

[19] Zit. n. Picasso's Parade, 95.

[20] Selbstaussage von Diaghilev, zit. n. Picasso's Parade, 171.

[21] Zit. n. Picasso's Parade, 90.

[22] Vgl. die hier als letzter Satz zitierte Aussage der insgesamt höchst interessanten Bemerkungen von Léon Bakst aus Chorégraphie et Decors des Nouveaux Ballets Russes, im Programmheft zu Parade (1917). „Voici la Parade, ballet cubiste, paradoxal peut-être pour les myopes – vrai pour moi. Picasso nous donne une vision à lui d'un tréteau de foire, où les acrobates, chinois et managers se meuvent dans un kaléidoscope, à la fois réel et fantastique. Un grand rideau « passéiste » à dessein, tranche entre ces fleurs de vingtième siècle et le spectateur intrigue. Les personnages sont revêtus de deux aspects opposés ; les uns, constructions ambulants, amas de trouvailles cubiques des plus spirituelles ; les autres, acrobates typiques d'un cirque d'aujourd'hui. La chorégraphie les assimile et rend « réalistes » ces deux espèces ; les unes, copies fidèles, les autres, nées dans le cerveau de Picasso. [...] Et j'y insiste : le pas des « managers » et du « cheval » – est ce que la chorégraphie nouvelle a fait de plus saisissant.“

[23] Cocteau, Hahn und Harlekin, 108.

[24] Apollinaire, Programmzettel Parade, 18. Mai 1907, In: Apollinaire zur Kunst, 277.

[25] Massine, My Life in Ballet, 105.

 

(29.2.2008)