Doodoo Capitalism
Ann Liv Young tut nicht nur ihrem Publikum etwas Gutes, sondern auch der Gegenwartschoreografie insgesamt. Und das, obwohl sie ihre BesucherInnen ab und zu düpiert, indem sie versucht, diese dort zu ertappen, wo sie sich allzu sicher wähnen, und obwohl sie ihre Machtposition auf der Bühne bis zu einer bestimmten Schmerzgrenze ausnutzt, die das Performance-Erlebnis auch als Risiko erfahrbar macht.
Das Werk der Amerikanerin positioniert sich herausfordernd neben jener Kunst, deren betonte Gastfreundschaft zum einen sicherlich oft politischem Idealismus entspringt, zum anderen aber bereits zu einer institutionellen Forderung zu werden beginnt. Viele KünstlerInnen erfahren gerade, daß ihr Bewegungsspielraum in einer immer mehr geregelten Gesellschaft schrumpft. Und hier trifft Young einen wunden Punkt in einer Gesellschaft, deren nun zunehmend thematisierte Verbotskultur geradewegs in eine neue Form von Totalitarimus führt, die sukzessive alle Lebensbereiche erfaßt.
Cinderella heißt Youngs neue One-Woman-Show mit queerem Double (Michael Guerrero), und sie hat in ihrer Wiener Premiere im brut Konzerthaus-Keller gleich ins Schwarze getroffen. Nämlich in die allmächtige Präsenz der Theaterpolizei, der Vertreterin der Staatsbürokratie, die sich hinter den Kulissen wie ein Zensor gebärdet. Das war im brut zuletzt vergangenen März bei der choreografischen Installation Dancer #2 des Belgiers Kris Verdonck aufgefallen, die aus einem Motor besteht, dessen Inbetriebnahme von Amts wegen zu verhindern versucht wurde.
Polizei-Eingriff in die laufende Aufführung
Diesmal bestand der Eingriff der Obrigkeit bei laufender Performance in der diskreten Aufforderung, die Lautstärke zurückzudrehen und die durch die Scheinwerfer erzeugte Wärme im Raum zu reduzieren. Dem Publikum wird also nicht zugestanden, daß es sich, wenn es zu laut wird, selbst die Ohren zuhalten kann, und wenn es zu heiß wird, sich Luft zuzufächeln oder einen Pullover auszuziehen vermag. „Ich spüre negative Energie im Publikum sofort“, hat Ann Liv Young einmal gesagt, und tatsächlich sprach sie die Theaterpolizistin sofort an: „Ma’am, are you okay?“ und begann, allerlei Fragen zu stellen, bis sich die als normale Zuschauerin getarnte Exekutive weigerte, weiter zu antworten.
Eine von Ann Liv Youngs Strategien – die sie nicht erst bei Cinderella angewandt hat – besteht darin, in der Aufführung Störungen zuzulassen. Sie unterbricht die Performance, beschwert sich etwa darüber, daß ein technisches Element nicht funktioniert, und fängt noch einmal an. Und schon ist der selige Fiktionsraum gesprengt, bricht die Wirklichkeit in die Illusion dramaturgischer Reibungslosigkeit ein. Youngs Coup ist, daß sie ihre Cinderella als der fiktive Performerinnen-Charakter Sherry vorführt, den sie bereits vor einem Jahr im brut-Projekt X Wohnungen vorgestellt hat. Sherry agiert als Stellvertreterin der Künstlerin in der Repräsentation derselben.
Ein scheinbar paradoxes künstlerisches Mittel, das die WienerInnen bereits von Barbara Kraus und ihren fiktiven Figuren wie Johnny Player Spezial kennen. Wer Kraus’ Arbeit verfolgt hat, weiß, daß hier ein Mechanismus funktioniert, der das Empfinden von Authentizität subvertiert: das vermeintlich Echte ist eine Fiktionalisierung, die nicht geschauspielert wird. Der aufklärerische Aspekt zielt darauf ab, das eigene Glauben in Zweifel ziehen zu helfen, was in der Allgegenwart vorgegaukelter Echtheit in den immer raffinierteren Inszenierungen von Politik und Medien so wichtig geworden ist wie die Luft fürs Atmen.
Wer wurde schon einmal vergewaltigt?
Kann dem eigenen Dafürhalten geglaubt werden? Und wie sehr bringt ein Glaubensverhalten ein Dafür- oder Dagegenhalten hervor? Oder: Wie sehr sind doch selbst die Abgebrühtesten unter uns determiniert von faulen Kompromissen und absichernden Verhaltensmustern. „Wer im Publikum ist schon einmal vergewaltigt worden?“, fragt Ann Liv Young als Sherry, die ihre Cinderella-Erzählung unterbrochen hat. Vielleicht mußte es gerade Magdalena Chowaniec im Publikum sein, die auf diese Frage offen antwortete. Eine aus Polen stammende Tänzerin und Choreografin, die zu den prononciertesten Nachwuchskünstlerinnen der Wiener Szene zählt und darin zu den Protagonistinnen des sozialkritischen Bereichs.
Chowaniec’ offene Antwort und der daran anschließende Dialog mit Young rührte an einer Hemmschwelle im Publikum, das bei allem Mißtrauen das Gefühl bekam, in Young eine strenge und draufgängerische Komplizin gefunden zu haben. Eine, die sich mit Ausreden nicht zufrieden gibt und deren Cinderella dazu da ist, die Erziehung durch das Entertainment und biederliche Kulturservices zu subvertieren.
„This is your Disneyland storyteller. And I am going to tell you the famous story of Cinderella“, hat Sherry zu Beginn gesagt und dann nach wildem Donnergrollen ihre Cinderella-Geschichte vorzulesen begonnen: „My Name is Ella, but my family calls me Cinderella, because I’m always covered with cinder.“ Cinder, die Asche. Die Einsamkeit, die Lieblosigkeit, das schlechte Leben. Der Glaube daran, daß die Zukunft besser sein könnte. Sherry sitzt in einem Herz aus kalt silbern schimmerndem Glitter, das von allerlei Messern und Hacken eingefaßt ist. Sie trägt eine blonde Perücke und ein hellblaues Kleidchen. Eine Märchenfigur wie aus Barbieland. Über ihren Computer steuert sie den Ablauf, den Text liest sie von bedruckten Papierblättern.
Es folgt Bonny Tylers Hit Making love out of nothing at all, über dessen Aufnahme Young mit kräftiger Stimme singt. Um sich dann als Sherry vorzustellen und zu fragen, ob dem Publikum bisher alles klar in der Geschichte sei. Oder ob jemand eine Frage habe. Nein? Wieder liest sie ein Stück ihres Texts. Singt zu einem verfremdeten Cover von Britney Spears’ Hit me baby one more time und fragt wieder, ob die Geschichte verstanden wurde, insbesondere den zweiten Monolog (der schwer mitzubekommen war). Das Publikum versucht, sich durch die Situation zu schwindeln, denn sicher haben nicht alle den relativ leise vorgetragenen Text verstanden.
Die schmutzige Wahrheit
Nach Cryin von Aerosmith meint Sherry, sie habe einen Teil des Stücks vergessen und setzt ihr Wechselspiel von leise gelesenem Text, lauter Musik und Dialog mit dem Publikum trotzdem fort. Von einer Zuschauerin ist zu erfahren, wie oft in der Woche sie Sex hat und daß sie keine Verhütungsmittel benutzt, obwohl sie schon einmal eine Abtreibung hatte. Sherry erweist sich als Meisterin im Ausfragen, singt einen Song für Magdalena Chowaniec, trinkt viel Wasser. In dieser Geschichte versinkt Cinderella im Schmutz, wendet sich ihren Ausscheidungen zu, im Glauben an eine Zukunft. Und Sherry erleichtert ihre Blase in eine Schüssel. Ihren Stuhl (zärtlich „Doodoo“ genannt) hat sie schon vorbereitet und läßt ihn sich von ihrem Alter Ego zurück in den After stopfen.
Eine diskretere Handhabe der Szene übrigens als bei der Uraufführung in Schweden, wo Ann Liv Young wesentlich ein direkteres, offensiveres Bild entwickelte als in Wien. Zum Abschluß wurde das Publikum hier wie da eingeladen, ein bißchen von dem übrig gebliebenen Doodoo zusammen mit ein wenig Glitter für zwei Euro zu erwerben. Entschiedenes Zögern im Publikum. Was von Sherry mit der Frage quittiert wurde, ob man denn sonst nie Scheiße kaufe, zum Beispiel chinesische Billigwaren und dergleichen. Von denen man ja weiß, unter welchen Bedingungen sie hergestellt werden.
Aus den extremen politischen Verhältnissen in den USA kommend, die sukzessive nach Europa übergreifen, ist Young die zur Zeit sicherlich mutigste und wichtigste amerikanische Choreografin. Sie macht etwas Gutes und Wahres und in diesem Sinn auch Schönes. Auch wenn eine kathartische Erfahrung macht, wer immer von ihr in ihren Performances angesprochen wird. Und der Schlußakt mit seinem klaren Verweis auf die Segnungen des Kapitalismus ist immer noch bei weitem appetitlicher als die Ausscheidungen der Entertainment- und Konsumindustrie, die den Planeten konsequent in eine politische und materielle Latrine verwandeln. Täglich. 24 Stunden lang. Und mit Erfolg.
Weitere Aufführungen:
Stockholm, University of Circus and Dance: 25.11.2010
Amsterdam, Melkweg: 23.+24. Januar 2011
Berlin, HAU: 27.+28. Januar 2011
(12.11.2010)