Antworten 01–07
WAS IST CHOREOGRAPHIE #1
– Tim Etchells – Michael Stolhofer – Jack Hauser – João Fiadeiro –
– Jeroen Peeters – Simone Aughterlony – Peter M Boenisch –
Tim Etchells
definition of choreography |
Michael Stolhofer
9. september 2007
choreo was?
choreographie!
ich blicke gerade auf das flugfeld des philadelphia airports und bewundere die flug- und fahrzeug-choreographien …
ich bin der corpus redaktion einen gedanken oder zwei schuldig!
was ist choreographie?
– die gestaltung von bewegung im raum
also waren die piloten vom 11. september choreographen?
oder:
– die gesamtverantwortung für ein tanzwerk
das ist aber choreoregie oder choreo was?
Jack Hauser
Choreographie ist eine Gebrauchsanleitung für die Möglichkeit, von Welt durchdrungen zu werden. Autsch.
João Fiadeiro
Zuerst bin ich versucht, wie David Tudor zu antworten: „Wenn ihr es nicht wisst, warum fragt ihr?“ Aber weil dieser erste Satz nur 98 Buchstaben hat, versuche ich es ein zweites Mal: Choreographie ist, was immer wir uns entscheiden, Choreographie zu nennen. Aber auch, wenn ich so etwas Radikales sage, habe ich immer noch bloß 257 Buchstaben. Ich weiß, dass ihr mehr von mir erwartet, also strenge ich mich noch mehr an. Ich denke, das ist eine rückbezügliche Frage, von einem System formuliert, das „Unterschied“ und „Eigenart“ nicht als Überlebensbedingungen für Disziplinen akzeptieren kann. Wenn wir als Künstler in diese Falle gehen und die Dinge aus der Perspektive (und Expektative) des Publikums und des Marktes betrachten, fördern wir nur die generelle Angst der Menschen davor, dass etwas Neues auf sie zukommen könnte. Das ist der halbe Weg zu Paranoia, Segregation und Zensur - Ingredienzen, mit denen sich zeitgenössische Kunst nicht abfinden kann. Dann würde ich zu diesem Thema gerne noch (mit den 0 mir verbleibenden Buchstaben) André Lepecki zitieren. Er sagt: „(…) der Tanz, sobald er dem mächtigen Festsetzungsapparat namens ,Choreographie’ zum Opfer fällt, verliert viele seiner Möglichkeiten des Werdens.“ (in: TDR/The Drama Review, 2007, 51:2 T194)
Jeroen Peeters
Was ist Choreographie? Ich habe nie über diese Frage nachgedacht. Den Begriff zu definieren, eine Taxonomie zu erstellen, ihn in eine epistemologische Zone umzuwandeln – das scheint mir alles absolut impertinent zu sein. Aber doch taucht diese Frage in meiner Mailbox auf, während ich Enrique Vila-Matas' ausgezeichneten Roman Montano's Malady lese, der mich dazu anregt, es zu überdenken. Vila-Matas' Protagonist ist ein Schriftsteller, der sprichwörtlich krank vor Literatur ist: seine ganze Wirklichkeit besteht aus Büchern, Zitaten und Phrasen, er träumt von Schriftstellern, und sogar der Sex mit seiner Frau droht intertextuell motiviert zu sein. An das Ende der Welt zu reisen hilft ihm nicht wirklich, seinem Zustand zu entkommen, und schließlich versucht er sein Leben zurück zu erhalten, indem er selbst Literatur wird und damit verhindert, dass die Literatur an Krankheit oder Verfall zugrunde geht. Eine wunderbar widersetzliche humanistische Verpflichtung.
Stellen Sie sich nun vor, Sie wären umgeben vom „ständig sich ausweitenden Gebiet des Tanzes“. Stellen Sie sich vor, die Choreographie mache Sie krank, Sie wüßten nur zu gut, was sie ist, wären ihre Inkarnation, würden Choreographie - und komplett verrückt. Stellen Sie sich vor, dass Sie keine Fleischklöße in Tomatensauce essen könnten, ohne an Le Sacre du printemps zu denken. Stellen Sie sich vor, Sie würden urplötzlich vom Ministry of Silly Walks heimgesucht, wenn Sie die Zeitung kaufen gingen. Stellen Sie sich vor, dass Sie immer der Überzeugung entsprächen, die Show müsse weiter gehen. Stellen Sie sich vor, sie wären gezwungen, sehr, sehr lange Zeit still zu stehen – jedes Mal, wenn Sie im Fernsehen Actionfilme anschauen oder Ihre Kinder in die Schule bringen sollten. Stellen Sie sich vor, Sie erhielten Einladungen von Beraterfirmen, als Mobilitäts- und Zirkulationsexperte zu arbeiten. Stellen Sie sich vor, dass Sie bei jedem Kaffee stark zitterten und begännen, diesen Umstand als Alibi für Ihr eigenartiges Benehmen vorzuschieben. Stellen Sie sich vor, Sie bombardierten corpus mit Eingaben betreffs Ihres unablässigen Gedankenstroms und Ihrer Abenteuer, ohne den ganzen Mist rauszuschneiden, so dass Sie das Magazin schließlich in eine Selbsthilfegruppe für Choreomanen verwandelten. Stellen Sie sich vor, die Choreographie wäre sowohl Ihr Schutzengel als auch Ihr schlimmster Alptraum.
Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich in einem Theater oder auf der Couch eines Psychiaters besser aufgehoben fühlen würden. Ich will es nicht wirklich wissen. Also lese ich weiter Vila-Matas' Roman und blättere noch durch Witold Gombrowicz' Ferdydurke: „Aber erst, als ich selbst zu tanzen begann, nahmen meine Gedanken Form an und verwandelten sich in Handlung, sie schmähten und spotteten über meine Umgebung und arbeiteten den schlechten Geschmack heraus. Ich tanzte, und mein Tanz, partnerlos und in Stille und Einsamkeit, wurde so hirnverbrannt, dass ich mich ängstigte.“
Simone Aughterlony
Lieber Corpus,
In vieler Hinsicht fühlt es sich an, als würde die Choreographie fortfahren, die selben kathartischen Prozesse zu verwenden, die sie notwendig immer genützt hat. Wie in allen Kunstformen heißt dies, Erfahrungen aufzurufen, gleich ob der Stimulus ein altes Thema ist, das verarbeitet werden will, oder eine inspirierende Handlung, deren Zeuge man gestern auf der Straße war. Ungeachtet der Nähe ist und kann Choreographie nur eine gedankenvolle Abreaktion sein in dem Sinn, dass wir getrieben sind, die unseren Körper und seinen kulturellen Kontext in raum-zeitlicher Beziehung umgebenden Themen zu erforschen und auszusenden. Das Wieder(er)leben, Überarbeiten und Wiederkäuen der Bewegungen. Der Trick dabei ist, den Bewegungen dieser Welt und aller Individuen gegenüber, die sie beeinflussen und von ihr beeinflusst werden, offen zu sein und sie zu erkennen. Alles Wissen, das durch unsere Bewegungen entsteht, zu assimilieren und zu synthetisieren, und dadurch eine Art Graphen herzustellen - nicht zum Zweck reiner statistischer Auswertung, sondern zum Erlernen und Erproben künftiger Möglichkeiten. Zumindest fühle ich mich im Augenblick so, wenn ich über Choreographie nachdenke.
Alles Gute.
Simone
Peter M Boenisch
Choreografie - im Wort steckt die verflixte „(Be-)Schreibung“, aus der zeitgenössischer Tanz Kapital zieht: (be)schreiben die Körper im Tanz, werden sie beschrieben? Choreografie heute meint zum einen solche (philosophisch gut untermauerte) performative Stellungnahmen zur (Re)Präsentationsdebatte. Doch überdies ist da auch noch der „Chor“: jene Körper nicht nur innerhalb der auf der Bühne vorgestellten „Tanz-Be-Schreibung", sondern auch im Publikum. Choreografie heute setzt in Tanz, Theater und Performance auf rhythmische, räumliche, akustische, andere sinnliche wie mediale und narrative Dynamiken, die die Zuschauer nicht mehr einfach schauen und staunen, mitleiden und identifizieren lassen. Selbst auf dem gewohnten Stuhl im dunklen Saal wird das Publikum berührt (manchmal buchstäblich) und, ähnlich dem antiken Chor, Zeuge und Teilnehmer eines gemeinsamen, zuweilen kathartischen Erlebnisses. Forsythe hat's getroffen: Die spannendsten Choreografien heute sind „atmosphärische Studien“.