Antworten 08–14
WAS IST CHOREOGRAPHIE #2
– Raimund Hoghe – Nikolaus Müller-Schöll – Yasmine Hugonnet –
Pirkko Husemann
William Forsythe bezeichnete das Choreographieren einmal als „scratching of resources“. Er vergleicht es also mit der Tätigkeit eines Discjockeys, der mit Schallplatten scratcht. Vergleichbar mit einem HipHop-DJ, der die laufende Platte mit der Hand auf dem Plattenteller vor und zurück dreht, so dass sie statt der darauf geprägten Melodie verzerrte, aber rhythmische Geräusche hervorbringt, unterzieht also der Choreograph seine Ressourcen einer improvisierenden, aber technisch versierten Handhabung. Der rotierenden Vinylplatte des DJs entsprechen in der Choreographie die Körper in Bewegung durch Raum und Zeit. Durch den unüblichen Gebrauch dieses Materials kommt statt einer harmonischen Komposition eine andere Art der Musik oder des Tanzes zustande. Diese ist für Ohren bzw. Augen zunächst dissonant. Nimmt der Rezipient aber von alten Hör- oder Sehgewohnheiten Abstand, kann er sie als etwas in sich Konsistentes erkennen: der DJ produziert einen akustischen Rhythmus, der Choreograph eine szenische Situation.
Stefan Kaegi
Gestern im Hamburger Bahnhof schaute mich eine Skulptur an und fragte: "Was meinen Sie?“
Die Skulptur war ein Mann in meinem Alter, er trug schlaksige Hosen und eine Hornbrille wie ich. Wären wir uns bei einem Latte Macchiato begegnet, hätte ich schnell einen klugen Satz geantwortet. Aber der Mann war choreografiert von Tino Sehgal.
Ich stand am Eingang eines weissen Raumes. Unten hatte ich 10 Euro bezahlt, um Kunstwerke zu sehen: Dinge mit Beschriftung und Witz oder Schönheit, vor die ich mich stelle, um über sie nachzudenken. – Nun standen da aber plötzlich Dinge vor mir und dachten über mich nach. Und sie waren mehr als ich. Im Raum fläzten sich fünf weitere Jungphilosophen in geschmeidigen Kleidern. Ein Salon ohne Tisch und Samowar, dachte ich, während sie ihre Unterhaltung über Zeichen und Zeitgeist fortsetzten. Dazu bewegten sich die Schöngeiste langsam, sehr langsam, ausser wenn jemand von ihnen lachen musste. Lachen geht nicht langsam.
Statt etwas über Zeichen und Zeitgeist zu antworten, wollte ich fragen: Warum bewegt ihr euch so langsam? Und herausfinden, ob das Regelspiel nach den Regeln zu befragen, gegen die Regeln verstösst. Aber das traute ich mich nicht.
Das Langsamsein war nicht die eigentliche Choreographie hier. Auch nicht, dass immer wenn jemand neues den Kopf in den Raum steckte, alle sechs sangen: "Wwwwelcome to this situation!", um dann ein paar Meter rückwärts zu gehen.
Nein, die Choreographie war das, was jeder zusätzliche Mensch im Raum tat: Einige blieben an der Tür stehen und tuschelten „Theater!“, weil sie das prätentiöse Sprechen als gestelzt empfanden, andere gingen zügig zur anderen Tür hinaus, wie man aus einem Hörsaal rennt, um einen Telefonanruf entgegenzunehmen. Als einer vom Kreis der eleganten Philosophen fragte: „Can you unlearn how to do something?“, tapste wie aufs Stichwort ein Kleinkind durch die Tür - und wurde flugs von den Eltern zurückgezogen, um nicht zu stören.
Denn das brisant Unangenehme an diesem Raum war für alle sofort spürbar: Hier schaute uns die Kunst beim Zuschauen zu. Als ob wir nicht Herr über das waren, wofür wir 10 Euro Eintritt bezahlt hatten. Als müssten wir uns vor diesen Kunstwerken rechtfertigen dafür, selbst ein Kunstwerk zu sein.
Erst als ich wieder draussen auf der Invalidenstrasse stand, fühlte ich mich davor in Sicherheit. Ich schaute mich auf dem Bürgersteig nach authentischen Gesten um und dachte: Gottseidank. Auch Choreografie ist alles, was ich dazu erkläre.
Chris Haring
Choreografieren kann jeder, wann, wie und so oft er will, ich habe choreografiert, da konnte ich noch nicht mal gehen schon gar nicht tanzen, manchmal choreografiere ich vor mich hin und überlege mir, wie genussvoll es wäre, das soeben choreografierte jemandem zu zeigen, manchmal hoffe ich, dass es niemand gesehen hat, manchmal sehe ich es selbst nicht, sondern höre es nur, dann wundere ich mich darüber und staune, denn kunst entsteht ja bekanntlich von selbst, man will nur den richtigen rahmen geben, auch wenn's ein dünner ist aus weißem tanzboden, denn choreografieren ist die möglichkeit, aus dem nichts ein etwas zu machen, manchmal synchron und laut, dann ist man besonders aufmerksam, fadisiert sich aber auch schnell, ich denk dann kaum darüber nach, denn synchronität funktioniert immer, vor allem, wenn sie gut gemacht ist, lieber denke ich über die möglichkeit nach, etwas unanständiges im raum zu verstecken, da es sowieso gleich wieder weg ist und man trotzdem über das unanständige nachdenken muss, denn choreografie sind bilder, die im nachhinein entstehen, weil man sie vorher nicht begreift oder weil es einfach schlecht oder gar nicht choreografiert ist, deshalb gibt es choreografen und -innen, die sich darum kümmern, dass viele bewegungen nicht verloren gehen, verlorene jäger eines schatzes, der unser körper ist, denn gejagt wird immer etwas, meistens bewegung, die verlischt, sobald man sie findet, aber es hält sowieso nichts ewig und schon gar keine choreografie, allein schon, weil die tänzer irgendwann abhaun und mit ihnen die choreografie …
was haben die neuen medien nur aus uns gemacht ?
Es ist einfach zu sagen, dass alles Tanz ist, doch wahrscheinlich ist es wirklich so, und ich denke, Choreografie ist die Bewusstmachung dieses Phänomens.
Erst aus der Choreografie des Alltags kann die Künstlichkeit eines (Bühnen-)Tanzes entstehen.
Dort, wo die Logik sich verabschiedet, beginnt der Tanz.
Man denke dabei an „Playtime“ von Jacques Tati. Der Film erzählt keine lineare Geschichte, sondern ist vielmehr eine Choreografie von Charakteren und architektonischen Elementen. Tati konstruierte hier ein ultramodernes Paris mit Häusern, die sich bewegen ließen und immer neue Kameraperspektiven ermöglichten. „Playtime“ entstand aus der Beobachtung alltäglicher Dinge und ihrer Zusammenstellung in einer neuen Form. Diese künstliche Trabantenstadt mit Fassaden aus Glas und Spiegeln, die das Leben wie in einem Schaufenster zeigten, nannte er Tativille.
Choreografie kann aber auch einfach nur, ähnlich wie in Anime-Filmen, eine Reihe von Bildern sein, die sich von einem Bild zum nächsten immer nur ein wenig verändern, wobei nicht immer linear in einer Zeitebene erzählt werden muss.
Interessant finde ich in diesem Zusammenhang auch die Arbeiten des US-amerikanischen Künstlers Matthew Barney. Er baut in seinen metaphorischen Zyklen wie dem Cremaster Cycle ein in sich geschlossenes System, in dem ein Ereignis das andere ergibt und alles in seinem ästhetischen Universum sich aufeinander bezieht.
Überhaupt können wir einiges von der bildenden Kunst und dem dort praktizierten Umgang mit Körperkontexten lernen.
So gesehen ist Choreografie das Spielfeld, die Schablone, ein Raster, um den Prozess sichtbar zu machen. Sie erlaubt uns, das Thema abwechselnd durch Bewegung, Bild, Raum, Stimme usw. zu vermitteln und nach Bedarf die Erzählstruktur zu wechseln.
Choreografie bedeutet Konzentration auf das Eigentliche und Umsetzung des Unmöglichen, sie ist Verherrlichung des Künstlichen, hält aber die Liebe zum Natürlichen hoch.
Choreografie ist somit immer absurd.
Die Auseinandersetzung mit der tanzenden Person und die Aufgabe, künstlerisch Essenzielles aus diesem sich aufführenden Wesen herauszukratzen, das ist Choreografie.
Der Choreograf ist somit die Putzfrau, der Straßenkehrer, der Goldschmied, die Wahrsagerin, der Therapeut, der Gärtner unter den darstellenden Künstlern.
Choreografieren ist ein Sezieren. Loslösen der einzelnen Segmente, Zerlegung in Einzelteile und Trennen der verschiedenen, die Persönlichkeit ausmachenden Parameter.
Ein von mir gerne benutztes Verfahren ist das Aufzeichnen, Speichern und das künstliche, zum Teil verfremdete Wiedergeben der losgelösten Stimme, um danach in Zusammenhang mit Synchronisationstechniken körperliche Wahrnehmung neu zu erfahren. Vorzugsweise aber auch, um den Blick (und das Gehör) auf den Körper zu schärfen und notfalls zu ändern und damit seinen Bezug zu der von moderner Technik durchzogenen Welt immer wieder zu hinterfragen.
Goodman ist der Meinung, dass wir bei allem, was beschrieben wird, auf Beschreibungsweisen beschränkt sind. Unser Universum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten. Damit wären wir letztendlich an einem Punkt angelangt, an dem wir vermuten könnten, daß alle Welten Spielarten oder Varianten der einen essentiellen Welt sind. Interessant finde ich den körperlichen Diskurs vor allem in Zusammenhang mit virtuellen Welten. Denn wenn der menschliche Körper als zukünftiges Interface zwischen realen und virtuellen Zuständen gedacht wird, erreicht auch choreografische Auseinandersetzung eine neue Ebene.
Wird körperliche Anwesenheit tatsächlich durch visuelle, akustische oder motorische Repräsentationen ersetzt, werden wir ohnehin theatrale Grundkonstellationen in Frage stellen müssen. Choreografie kann hierbei Vermittler sein und wird sich hauptsächlich mit der Aufgabe beschäftigen müssen, den Körperbezug in telematischen Arbeiten herzustellen.
Eine mögliche körperliche Abwesenheit soll dann aber nicht Leere vermitteln, sondern ähnlich der Pause in der Musik, als Erinnerung und als Reflexionsmoment dienen.
Das Spannende ist dabei, die Choreografie im Kopf des Betrachters, des Zuhörers, entstehen zu lassen.
Ich sehe das als eine Herausforderung, der ich mich gerne stellen möchte, auch wenn ich selbst als Choreograf noch weit von diesem Ziel entfernt bin.
Jedenfalls wird es schwer fallen, den Körper hinter uns zu lassen.
„Ich hasse die Wirklichkeit, bin mir aber im Klaren darüber, dass sie immer noch der einzige Ort ist, an dem man ein anständiges Steak bekommt.“ Woody Allen
Milli Bitterli
Es gibt zahlreiche Tanzstücke, die zwar von ChoreografInnen gemacht werden, aber trotzdem findet man in den Credits zu ihren Stücken nur die Begriffe wie „Regie“ oder „Konzept“. Oder „Künstlerische Leitung“. Oder nur - „von“. ChoreografInnen müssen anscheinend nicht choreografieren, um ein Tanzstück zu erarbeiten. Das heißt dann aber nicht, dass in diesen Stücken nicht auch, oder sogar ausschließlich, getanzt wird. Tanz kommt anscheinend ohne Choreografie aus, aber meist nicht ohne ChoreografInnen.
„Was ist Choreografie heute?“ Es ist laut Enzyklopädie kein schriftliches Festhalten von Bewegungen, sondern ein Einschreiben in den Körper. Wenn Bewegungen aber rein konzeptuell verstanden werden, oder NichttänzerInnen auf der Bühne stehen, oder Personen choreografieren, die NichttänzerInnen sind, findet dann noch der Prozess des Einschreibens in den Körper statt? Braucht es den Prozess des Einschreibens in den Körper, um eine Choreografie zu entwickeln?
Ich denke, eine Choreografie ist das Ergebnis eines Prozesses, der sich mit Fragen der Bewegung oder des Körpers in Raum und Zeit auseinander gesetzt und zu einer eigenständigen, schlüssigen Sprache gefunden hat. Die Choreografie nimmt eine Haltung in Bezug auf Bewegung oder Körper an. Sie kommt ohne Einschreiben in den Körper aus und kann sogar in der Abwesenheit eines Körpers stattfinden. Eine Choreografie wird von ForscherInnen kreiert und eröffnet „neue“ Blickwinkel auf die Verfasstheit des Körpers (in Bewegung).
Raimund Hoghe
Choreografie ist für mich Schreiben mit dem Körper.
Nikolaus Müller-Schöll
Choreographie begreife ich als eine von mehreren Varianten des Versuchs, eine Bewegungsschrift zu finden - Choreographie bezeichnet ja, nimmt man nur die griechischen Wörter, aus denen sich der Begriff zusammensetzt, zunächst nichts anderes als das Aufschreiben von Bewegung. Sie ist dem Tanz nahe, ohne in ihm aufzugehen, liefert eine Idee oder Struktur, die aber, nimmt man den Bezug auf die Schrift ernst, einer supplementären Ergänzung bedarf, um zu erscheinen. Eben weil sie als Schrift in Zeit und Raum aber den oder die Ausführende(n) braucht, dessen einzelne Bewegungen sich potentiell von ihr unterscheiden, muß Choreographie auch als eine sich selbst beständig entziehende Regel begriffen werden, der ein Tänzer (bzw. ein Akteur gleich welcher Art, der sie auszuführen hat) niemals ganz zu entsprechen vermag, woraus sich seine Erfahrung der Freiheit, sein Denken in Bewegung im Zustand des Tanzes oder des Agierens speist. In jeder Choreographie muß ihr Schriftlichkeitscharakter als das gedacht werden, was sich der Formalisierung entzieht. Und der Zustand des Tanzens wäre dann die Erfahrung eben dieser Grenze jeder Formalisierung.
Yasmine Hugonnet
Choreographie konstruiert nicht nur Bewegungssequenzen, sondern sie artikuliert vielmehr eine innere und äußere Struktur in und zwischen Körpern. Sie entwirft einen Weg, mit einer besonderen Präsenz im Raum und im Selbst zu sein. Jedes choreographische Stück erfindet oder rekonstituiert einen KÖRPER und einen BLICK.
Choreographie heißt, einen Tanz innerhalb der Wahrnehmung des Zuschauers zu komponieren. Sie regt eine Bewegung der Gedanken an, ein Schlittern und Abprallen zwischen Körper, Bild, Empfindung, Zeichen, Aktion und Emotion … Ein reflexiver und sensitiver Diskurs, der tanzt.
"Eine einzelne Choreographie hat mehrere Choreographen, manche belebt, manche unbelebt …" (Astad Deboo, 2001). Ich las diesen Satz vor einem Monat, und er hörte nicht auf, sich in meinem Kopf zu bewegen. Choreographie kommt nicht nur aus einem Geist und einem Körper. Choreographie resultiert aus einem Netz von Beziehungen und Erfahrungen. Sie ist lebendig und unabhängig, sie besteht zum Teil aus Ererbtem und zum Teil aus Magie.