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History IV: Skené und Kinesis

Die ephemere, kinetische, dynamische Kunst des Tanzes war für die Avantgarde ein fruchtbares und begehrtes Terrain. In Russland und Italien wurde der Tanz während der 1910er und -20er Jahre nicht gerade selten thematisiert; dort wurde er einerseits theoretisiert, zum anderen als stark stereotypes Schriftsystem erforscht, in Signifikat und Signifikant dekonstruiert. […]

Im historisch wichtigen Jahr 1917 veröffentlicht Filippo Tommaso Marinetti das Manifesto della danza futurista, dessen sicherlich innovative theoretische Postulate in den drei darin angeführten Beispielen allerdings bloß farblose und widersprüchliche Gegenstücke finden: den Tanz der Landmine, den Tanz des Maschinengewehrs und den Tanz der Pilotin. „Künstlerisch ist das Russische Ballett von Diaghilev sehr interessant", schreibt Marinetti, „weil es die russischen Volkstänze über eine wundervolle Verschmelzung von Musik und Tanz modernisiert. Sie durchdringen einander, und der Zuseher erhält einen perfekten und originären Eindruck von der essentiellen Kraft der Abstammung." [i]

Die Hommage an die Ballets [Russes, d.Ü.] kommt eher banal daher und schafft es nicht, deren weniger vergänglichen Aspekt, den charakteristischen Zug ihrer Ästhetik zu erfassen: einen hoch formalisierten Kode, bestehend aus sich aufeinander beziehenden szenischen Symbolen, die im Zusammenspiel von plastischen, chromatischen und musikalischen Werten positioniert wurden. Es handelt sich also nicht mehr um ein malerisches Theater, sondern um ein Theater der Malerei. Diese Veränderung geschah unter anderem auch durch die Einkehr des Lichts in die Bühne, das dort wie ein richtiger Pinsel eingesetzt wird. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde noch mit Öl beleuchtet. Später mit Petroleum und Gas, schließlich triumphierte die Elektrizität: „Warum leugnen, dass sich eine von Öl beleuchtete Szene von einer elektrisch beleuchteten unterscheidet? (…) Tatsächlich muss sich die nach Kriterien eines minuziösen Realismus gemalte Szene in einer tonalen Einheit präsentieren, in der Farbunterbrechungen nur sehr vereinzelt auftreten dürfen, wenn der Bühnenbildner sie nicht ausdrücklich mit harten Farbkontrasten oder mit der Projektion von kolorierten Lichtern realisieren will. Aber letztere waren knapp und ausschließlich auf das Rampenlicht, also die vertikal angeordneten Lampen, die sich auf den Balken hinter den Kulissen befanden, oder auf die am Stoffrand horizontal angeordneten Lampen beschränkt (…)". [ii] Lichter übrigens, die rein in ihrer Anordnung veränderbar und farblich nicht abgestuft waren. Ein Licht, das erlaubt zu pinseln und die Bühne so zu färben, als ob sie eine Malerleinwand wäre. Es gestattet dem Maler die Ankunft im Theater; sein Spiel mit den Tiefen überlässt dem Auge des Zuschauers das Vergnügen, nach eigener Fantasie zu komplettieren, zu rekonstruieren und neu anzuordnen. Diese Funktion ist von der reinen Malerei abgeleitet.

Marinettis Hommage an die Ballets Russes wirkt blaß und stützt sich anscheinend auf Erinnerungen an die Polowetzer Tänze, die während der ersten Tournee am Teatro Costanzi in Rom gezeigt werden. Anlass dafür ist damals die Weltausstellung von 1911, die zum 50. Jahrestag der Proklamation des italienischen Königreichs stattfindet. Die Tournee wird von den wenig weitblickenden römischen Kritikern regelrecht zerrissen: „Während der Pausen bestätigte sich das Publikum unter diskretem Gezische den Misserfolg und fragte, warum das Organisationskomitee der Musikausstellung entschieden hatte, diese Tänze in das Programm aufzunehmen. Diese Ballette, die gestern Abend von Herrn Fokine dargeboten wurden, können nicht einmal als künstlerischer Ausdruck bezeichnet werden. (…) Wenn man dem Publikum um jeden Preis eine kurze Reihe von spektakulären Tänzen präsentieren wollte, wieso hatte man nicht daran gedacht, einen großartigen italienischen Tanz vorzubereiten: den Brahma oder den Excelsior, den Amor oder den Sport, die wesentlich mehr Gefallen beim Publikum finden würden? Die Zuseher hätten sich amüsiert, und mehr noch, das Komitee hätte Kosten gespart. (…) Die Inhalte sind hinfällig, belanglos und nicht wert, im Gedächtnis zu bleiben. Man sagte, dass sich diese Tänze von den unseren unterscheiden würden (…), weil die Handlung jeden Moment unterbrochen wird, um einer abgenutzten Konventionalität von Bewegungen, Schritten, Balletten entgegenzutreten. Man sagte, dass in Fokines neuer Konzeption Musik und Tanz zu einer bemerkenswerten Einheit verschmelze, und der Handlung so ein lebendiger und plastischer Ausdruck verliehen würde. Jetzt muss man sagen, dass davon in Wahrheit gestern Abend nichts zu bemerken war. Das einzige, was zu spüren war, war Langeweile (…)." [iii]

Von der zweiten Tournee, die 1917 erfolgt, bleibt nur wenig in Erinnerung: „In einem futuristischen Rahmen aus schreiend roten, den Blick mit brutaler Arglist auf sich ziehenden Sonnen und vor dem Hintergrund einer blauen Dunkelheit erzielten das Rot und das Gold der Kostüme eine prächtige farbliche Intensität (…). [Michail Fjodorowitsch, d.Ü.] Larionow hat gezeigt, wie sich die neue russische Theaterkunst gewisser Entdeckungen der rebellischen Impressionisten und der kämpferischen Futuristen – Picasso, Balla, Depero – bedient (…)." [iv] Es erscheint sicher seltsam, dass sich der komödiantische Marinetti eine solche Gelegenheit zur selbstglorifizierenden Unterstreichung der Abhängigkeit des russischen vom italienischen Futurismus entgehen lässt. Marinetti glaubte eine Unterbewertung der Kongruenz seines Vergleichsschemas zu erkennen, in dem die Kunst der Duncan im malerischen Impressionismus positioniert wird und Nijinskys Choreografien in einer isomorphen Beziehung zu den „Konstruktionen" im Werk von Cézanne stehen.

Die italienische Herkunft des russischen Futurismus war ein hartnäckig wiederholtes Thema, das beispielsweise Anton Giulio Bragaglia in einem 1925 verfassten Artikel aufgriff: „Das Werk ,Das entfesselte Theater‘ von Alexander Tairow und die Theaterausstellung im russischen Pavillon auf der XIV. Weltausstellung in Venedig [1924] dürften für F. T. Marinetti und die italienischen Modernisten eine Genugtuung darstellen. Es ist auch für uns ein spürbarer Beweis für die große Einflusspotential, das unserer radikalen Kunst durch ihren Erfolg im Ausland verliehen wurde. Das, was sich unsere Kritiker hartnäckig geweigert haben anzuerkennen, ist nun die Ursache für das europäische Interesse am italienischen Futurismus (…). Die Theorien der Futuristen zu den verschiedenen Künste sind, dank Marinettis eigener Propaganda [1914] sowie ihrer gigantischen Verbreitung durch die Presse auch in Russland bekannt. Es ist auch bekannt, dass die Russen viel reisen und sich assimilieren. Sie haben sich so gut assimiliert und sind so viel gereist, dass sie mit einem Theater, das unserem Geschmack entspricht, zu uns zurückgekehrt sind. Sie haben damit in ganz Europa großen Erfolg erzielt. (…) Die Genialität der russischen Bühnenmeister ist berühmt und wird bewundert und anerkannt. Es ist nur zu wahr, dass – wie schon Jahrhunderte zuvor – wieder einmal die italienische Kunst auf der ganzen Welt Schule gemacht hat (…)." [v]

Für uns von Bedeutung – vor allem, weil sich das gerade im sowjetischen Russland in höchst spektakulären Formen herauskristallisiert – ist die überschwängliche Präsenz einer mechanistischen Mythopoiesis im Manifest, die als ein neues chorisches Ereignis zu verstehen ist. Dalcrozes Eurythmie, die mythische Orchestik, die freie, von der Musik geleitete Improvisation waren nicht nur drastisch unterbewertet, sondern wurden auf eine Art Logotechnik reduziert, deren Wert in „der Hygiene der Muskeln und der Beschreibung der ungeschliffenen Werke" lag. „Das Manifest verlangt, dass die Möglichkeiten der Muskulatur neu bewertet werden, und dass der Tanz sich dem Ideal eines von uns lang erträumten, durch den Motor multiplizierten Körpers annähert. Gesten sollen Bewegungen von Maschinen imitieren. Lenkräder, Reifen und Kolben sollen nachdrücklich hofiert werden. So wird die Fusion zwischen Mensch und Maschine vorbereitet, so erreicht der futuristische Tanz den Metallismus." [vi]

In den drei erwähnten Beispielen scheint die Poetik der mechanischen Künstlichkeit unter Vorgabe falscher Tatsachen durch die plastische Bildlichkeit des Wellenflugs ersetzt zu werden. Vielleicht ist das eine späte Inkarnation des romantischen Mythos von der körperlos-sylphiden Ballerina, die Wy Magito und Giannina Censi Anfang der 30er Jahre im Bereich der mimetischen und darstellenden Kunst in einen Lufttanz übersetzten, dem die Einflüsse der Labanschen Syntax nicht fremd waren. Es handelt sich also immer noch um ein isolog-heterogenes System aus literarischer Inspiration, in der die Ausdrucksbedeutung des Kodes weder auf nicht-expressiven noch auf paradigmatischen Denotationen basiert. In Anwendung des Gegensatzes zwischen Metapher und Metonymie wird der Tanz einer nonverbalen Sprache zugeordnet und folgt einer korrekten Vorgangsweise, wie sie von Roman Jakobson, dem Linguisten des Moskauer Kreises, der starken Einfluss auf die historische russisch-sowjetische Avantgarde hatte, postuliert wird. Würden uns ausschließlich die Forschungen von Censi und Magito, die zur metaphorischen oder systemischen Diskursordnung gehören, zur Verfügung stehen, wären wir in der Romantik und im Symbolismus.

Man muss nach Russland reisen und sich mit Nikolai Foreggers Werk auseinandersetzen – in dessen Atelier, was nicht unwichtig ist, Eisenstein als Bühnen- und Kostümbildner debütierte –, um ein in ästhetischer Funktion formalisiertes Zeichensystem zu finden, dessen Konnotation und Denotation gleichermaßen expressiv sind, also einer Metonymieordnung angehören, wie sie für den Film und insbesondere für Griffith und Eisenstein spezifisch ist. Man könnte einwenden, dass Anfang der 20er Jahre mit Ivo Pannaggis Ballo meccanico, der von den Tänzern Ikar und Iwanow im Circolo delle Cronache d'Attualità della Casa d'Arte Bragaglia in der Via degli Avignonesi am Abend des 2. Juni 1922 aufgeführt wurde, die Blütezeit der „Mechanischen Kunst" von Vincio Paladini beginnt: „Die Musik wurde durch eine RHYTHMISCHE POLYPHONIE von MOTOREN zweier orchestrierter Motorräder ersetzt (…). Der von uns vorgeschlagenen Haupthandlung folgend, bewegten sich die zwei Tänzer aus dem Saal zur Galerie und erschienen hinter der Balustrade. Die Tänzer waren in plastischen Dialogen zusammengebracht und wurden von Projektoren begleitet, die sie in weißem Licht oder vielfarbigen Blitzen erstrahlen ließen. Hinter der Balustrade leiteten sie mit Gesten und Bewegungen das Vorspiel ein. Als sie den Saal erreicht hatten, führten sie im Rhythmus der Motoren mimische Aktionen aus, um dann auf der gegenüberliegenden Seite über die Treppe zum Vestibül zu steigen. Sie kehrten in den Saal zurück, um schließlich über die kleine Treppe, die zur Bar führte, zu verschwinden." [vii]

Chronologisch geht der Ballo meccanico den „Mechanischen Tänzen" von Nikolai Foregger nicht voraus. Wenn überhaupt, verlaufen sie parallel, und sollte es einen Vorgänger für die Experimente im russischen Raum geben, dann müsste an dieser Stelle die Betrunkene und verliebte Kriegsmaschine von Valentin Parnach, auch er ein Russe, erwähnt werden. Dieses Stück wurde 1921 in der Casa d'Arte Bragaglia an einem jener zwei stürmischen Abende, die den Bruch zwischen den Dadaisten – Evola, Cantarelli und Fiozzi – und den Futuristen zur Folge hatten, aufgeführt.

Nach seiner Rückkehr gründete Valentin Parnach in Moskau das Expressionistische Theaterlabor (Laboratorija teatra ekspressionizma), in dem – basierend auf „Rhythmus-Dynamik, Taylorismus, Anthropo-Kinetik und Reflexologie" [viii] – nicht nur der kreative Akt analog zum Produktionsprozess, sondern auch der ethische Wert analog zum ästhetischen Wert verlief, wie dies auch in Rudolf von Labans Gemeinde auf dem Monte Verità der Fall war. Außerdem waren einige Schülerinnen des Meisters aus Genf, die nach Zürich gekommen waren, des Öfteren Gäste im dadaistischen Café Voltaire. Parnachs Werk wäre also ausgesprochen interessant, aber da es nicht mehr rekonstruierbar ist, können seine choreografische Sprache sowie auch eventuelle Anleihen nicht mehr dokumentiert werden.

Sicher ist wiederum, dass weder Pannaggi, noch später Depero – wie in Anihccam 3000, das unter der musikalischen Leitung von Casavola am 10. Januar 1924 im Mailänder Trianon uraufgeführt wurde –, noch Fillia ähnlich ergiebige und reich artikulierte Sprachen ausarbeiteten. Natürlich tauchten Probleme mit der chorischen und der choreografischen Sprache auf, die sich entweder in der mimischen Aktion oder – fast wie aus Furcht vor einer Auflösung des isologen Systems – durch das Auswechseln des menschlichen Signifikanten durch sein mechanisches Double lösen: der Hampelmann, die Marionette wie in Deperos plastischem Theater.

Im Unterschied zu den italienischen Futuristen, die für den Tanz die bildenden Künste nutzten, bediente sich Nikolai Foregger – Nikolaj Grejfenturns Autorenname – des Prosatheaters. In seiner Geburtsstadt Moskau gründete er das Atelier Die Vier Masken (Cetyre maski), möglicherweise in Anlehnung an die Commedia dell'Arte, die während der ersten Jahre des Jahrhunderts von den miriskusniki wiederentdeckt und dank Vsevolod Meyerhold sehr populär wurde. Noch vor Alexander Tairow und Evgenij Vachtangov verlieh er dem maskierten Komödianten eine zentrale Position innerhalb seiner Polemik gegen den Kanon des Stanislavskischen Wahrheitsdrangs: „Harlekin ist ein Equilibrist, man könnte sagen, ein Seiltänzer. Seine Sprünge drücken eine Meisterschaft aus, die unglaubwürdig erscheint. Seine Scherze ex improviso treffen den Zuschauer mit ihrer unglaublichen Hyperbolik, von der die Herren der Satire nicht einmal die Ehre gehabt haben zu träumen. Der Schauspieler-Tänzer, zu beidem gleichermaßen fähig, tanzt einmal die graziöse Monferrina und dann die plumpe englische Gigue (…). Auf den Schultern trägt er den dicken Doktor, und zugleich springt er ins Rampenlicht, als ob nichts wäre. Einmal ist er weich, einmal elastisch, einmal starr, einmal tolpatschig (…)", so lobpreist er Meyerhold im Jahr 1914. „Der Schauspieler beherrscht tausend verschiedenste Stimmen (…). Er weiß, wie er auf der Bühne mit seinem Körper geometrische Figuren zu zeichnen hat (…). Über seinem Gesicht trägt er eine tote Maske, aber dank seiner Meisterschaft weiß er sie so aufzusetzen und seinen Körper so zu posieren, dass diese tote Maske lebendig wird (…)." [ix] Ein Schauspieler, „der Gymnastik, Fechtkunst und sogar Akrobatik studiert, der singt, musiziert, vorspielt, tanzt, springt und – wie Anton Giulio Bragaglia 1925 bezüglich der Schauspielschule des Kammertheaters (Kamernyj teatr) beobachtet (immer bereit, die Vorrangstellung der Italiener zu bestätigen) – aus jeglichem komödiantischen, tragischen, lyrischen Schauspiel Kunst macht, ist nichts anderes als ein Stegreifschauspieler wie Scaramouche, Molières Lehrer: Tiberio Fiorilli aus Neapel, fähig, alles mit Grazie und Gewandtheit auszuführen (…)." [x]

Foregger löst sich von der Konvention der Maske, um im Experimentellen Atelier des Satiretheaters (Opytnopokazatelnaja studija teatra satiry) den Weg der Zirkus-Theatralik zu wagen und sich mit Ossip Brik, Vladimir Majakovski und Roman Jakobson zu verbünden. Also mit dem populärsten Protagonisten des russischen Futurismus und mit den zwei Granden unter den Theoretikern der „Formalen Schule", die sich um Opojaz in St. Petersburg gebildet hat (Obscevstvo po izuceniju poeticeskogo jazyka, Verein für das Studium der Poetischen Sprache), Brik und dem linguistischen Zirkel in Moskau (Moskouskij linguisticeskij Kruzok), mit Jakobson. Von all diesen bezieht der größte Teil der russisch-sowjetischen Avantgarde ihre theoretische Nahrung. Es ist nicht unwichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Ossip Brik 1918 in „Iskusstvo Kommuny" (Kunst der Kommune), dem Sprachrohr des IZO [xi] des NARKOMPROS [xii], dem Fahnenträger der Komfut (Futuristische Kommunisten), einen Essay mit dem sonderbaren Titel Drenaz iskusstva (Die Drainage der Kunst) publiziert hat. Darin wurde die Kunst zur Mimesis: „Das Bürgertum verwandelte alles Fleisch in Geist. Es hat die Materie auf einen Gaszustand reduziert. An Stelle fester Körper drängen sich ideologische Werte. Das Proletariat reintegriert das Fleisch, die Materie, die festen Körper, und bringt sie zu ihrem Recht. Für das Proletariat zählt die Idee nichts, solange sie nicht zu Fleisch geworden ist oder dabei ist, Fleisch zu werden (…). Die bürgerlichen Maler malten Bäume, die Sonne, Berge, Meere, sie fabrizierten Menschen und Ideale aus Ton und Marmor. Mit welchem Ziel? All das gibt es bereits, es bewegt sich, lebt und ist tausendmal besser als auf der Leinwand oder in zuckerigem Marmor (…). Wenn ihr Künstler seid und schaffen könnt – suggeriert Brik als Gegenargument – dann kreiert für uns unsere menschliche Natur, unsere menschlichen Objekte. Wenn wir ein Haus bauen: imitieren dabei wir vielleicht die Höhle? Wenn wir Stoffe produzieren: sollen sie vielleicht Feigenblättern ähneln? Das sind alles unsere Dinge, sie sind menschlich, und diese Produkte sind besser und wertvoller als alles, was die Natur jemals hervorgebracht hat (…). Es ist unerlässlich, dass alle Künstler sich sofort von dieser ideologischen Schläfrigkeit befreien, die Augen aufmachen und sich einer tatsächlich kreativen Aktivität widmen. Fabriken, Laboratorien, Werkstätten erwarten die Ankunft der Künstler, die neue vorher noch nie gesehene Objektmodelle anbieten sollen (…). Jeder, der die lebendige Kunst liebt, versteht, dass nicht die Idee, sondern das reale Objekt Zweck der authentischen Schöpfung ist (…)." [xiii]

Der Begriff von Kunst als Poiesis und nicht als Simulation, als Pseudo-Physis, ein Vorzeichen der konstruktivistischen Spaltung innerhalb des INChUK [xiv] und des Produktivismus, beeinflusste Foregger offensichtlich so sehr, dass er das Experimentelle Atelier des Satire-Theaters verließ. Dort favorisierten Arkadij Zonov, Regisseur zwischen 1907 und 1908, und Vera Komissarzevskaja, Muse der psychologisch-dekadenten Bühne, neuerungsfeindliche Neigungen. So wird das Atelier Nr. 2 von GITIS (Gosudarstvennyi institut teatralnogo iskusstva, Staatliches Institut für Theaterkunst) bzw. Mastfor (Masterskaja Foreggera, Atelier Foregger) ins Leben gerufen. Als dessen künstlerischer Leiter agierte Sergei Jutkevic, und als Bühnen- und Kostümbildner Sergei Eisenstein. Vier Jahre lang war es eines der Zentren des Moskauer Kulturgeschehens. 1924 wird es gewaltsam geschlossen.

In einer programmatischen Erklärung, die wie ein richtiges „Manifest" klingt, exponiert Nikolai Foregger 1922 sein ästhetisches Credo: „Das Theaterkabarett hat einen doppelten Zweck: es soll die Gegenwart, ihre Miseren und Bösartigkeiten spiegeln und die Zuseher mit einer theatralen, polymorphen Aktion aufrütteln, sie ‚bearbeiten', psychophysisch auf sie einwirken, unter Anwendung eines ganzen Kaleidoskops von Formen und Geräuschen, die so stark sind, dass alle Alltagsmüdigkeit hinweggefegt wird (…). Das Kabarett vereint alle Theaterstile in sich, vom Grand-Guignol bis zu elementaren Zirkusnummern. Aber die Aufführung muss eine organisch strukturierte und fundierte Theaterlogik haben; einen Zusammenhang, der die einzelnen Formen und Teile zu einem Gesamten vereint, einem ehernen und endgültigen Gerüst aus Attraktionen, das der Aufführung Beweglichkeit und Eleganz verleiht (…). Das spezifisch Theatrale liegt dabei in einem schnellen, überraschenden Wechsel von Worten, Akrobatik, Liedern und Tanz (…). Die Kabarettaufführung ist vor allem dynamisch. Sie ist eine Montage aus Bewegungen von Körpern, Formen, Farben und Licht. Die Regeln dieser Sprache müssen mit klarer und lauter Stimme verkündet werden, bis sie auch für Taube verständlich sind (…) Aus all dem folgt offensichtlich, dass dem Wort hier eine sekundäre Rolle zugeschrieben wird (…)." [xv]

Wenn die Poetik Briks Annahmen bestätigt und ein nicht-mimetisches, rein artifizielles Aufführungs-Objekt hervorbringt, dann sieht es so aus, dass die Techniken der Bösartigkeit, Überraschung, Montage, Collage, auf Dada verweisen, indem sie die Wertlosigkeit eines Subjekts postulieren, das von jeglichem Privileg der Erkenntnis der phänomenischen Welt enthoben ist. Verglichen mit Tristan Tzaras Manifest von 1918 besaß Foreggers Kabarett, obwohl es sich destruktiv und aggressiv gab, nicht diese totale Gleichgültigkeit gegenüber dem Realen. Im Gegenteil: in Umkehrung jenes Satzes, der Logik mit Falschheit gleichsetzt, entdeckt er im „Amüsieren und Malträtieren" die ordnende Funktion.

Es gibt auch Ähnlichkeiten zu Das Varieté, einem von Filippo Tommaso Marinetti am 21. November 1913 in der „Daily Mail" veröffentlichten „Manifest": Schnelligkeit, Dynamik, Stupor, Komik, Lachen, Tanz, Synthese der Formen, Attraktionen, Akrobatik. Aber wenn Marinetti so wie Foregger „die gesamte klassische Kunst auf der Bühne prostituieren" will, will er auch – konträr zum Mastfor-Programm – jegliche Logik zerstören; genau wie die Stileme des Dada.

Woher also kommt dieses Beharren auf den Wert einer organisch strukturierten Syntax und eines semasiologisch motivierten Textes? Eines Textes, der nicht willkürlich ist und in dem die Funktionszeichen sowie der Wortschatz so formalisiert sind, dass man sie sofort zu erkennen und entziffern vermag? Die formale Methode, die cineastischen Experimente, der literarische Transmentalismus, der Konstruktivismus bieten wertvolle Interpretationsschlüssel an. Dass das Kabaretttheater und die „mechanischen Tänze" eine feste Verbindung zur FEKS (Fabrika ekscentriceskogo aktera, Fabrik des exzentrischen Schauspielers) aufweisen, verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Sergej Jutkevic, zusammen mit Georgij Kryzickij und Leonid Trauberg Unterzeichner des Exzentrismus-„Manifests" (Ekscentrizm) künstlerischer Leiter von Mastfor war. Aus diesem Grunde waren es eben die „Exzentriker", die als Vermittler der neophilen Exaltiertheit Marinettis gegenüber der Maschine fungierten (der Name des italienischen Futuristen erscheint bereits im ersten Absatz von Exzentrismus): „Auf die Maschinen! Riemen, Ketten, Reifen, Arme, Beine, Elektrizität, Produktionsrhythmus (…), Fabriken, Werkstätten, Baustellen (…), Jazzbands, sich mechanisch bewegende Schauspieler, nicht schwülstig, sondern glatt, nicht Maske, sondern entzündete Nase (…), wachsende Buckel, sich blähende Bäuche, sich erhebende rote Perücken sind der Beginn eines neuen Bühnenkostüms. Die Basis ist die andauernde Verwandlung. Sirenen, Schüsse, Schreibmaschinen [die Schreibmaschine ist einer der von den Futuristen am meisten verwendeten Topoi – 1914 kreiert Giacomo Balla das Ballett Macchina tipografica: darin führen zwölf personifizierte Tasten mechanische Bewegungen aus], Pfiffe, Sirenen, exzentrische Musik (…), Synthese der Bewegung: des Akrobatischen, des Sportlichen, des Tanzbaren, des Mechanisch-Konstruktiven (…). Die Paradenhalle ist theatraler als die Grimassen des Harlekin (…). Ein Cancan auf dem Hochseil des gesunden Menschenverstands und der Logik (…)." [xvi]

Abgesehen von der übersteigerten Moderneverehrung ist zu beachten, dass das ungewöhnliche Bühnendekorum die „transformatorischen plastischen Kostüme" nach sich zog, die Fortunato Depero für das (nicht verwirklichte) mimisch-magisch-akrobatische Ereignis Mimismagie von 1916 und für Le chant rossignol desselben Jahres entwarf. Die theoretischen Prämissen dafür finden sich im Auftrittsgewand von 1915, das wie folgt konstruiert ist: „Eine Rüstung aus leicht formbarem Metalldraht und transparenten, sehr bunten Stoffen. Die Rüstung wird so hergestellt, dass sie sich öffnen und schließen lässt, also wie ein solide-futuristisches Gewand. Fersenstöße, verschiedene Bewegungen mit den Armen, Beinen, Füssen sind möglich. Bei Anheben des Vorspanns öffnen sich fächerförmige Vorrichtungen etc. (…) gleichzeitig mit gleißenden, explosionsartigen Erscheinungen und Rhythmen lauter Apparate." [xvii]

Sicherlich handelt es sich um keine zufälligen Übereinstimmungen; sie scheinen jedoch eher der expressiven als der substantiellen Ebene anzugehören. Was hier hervorgehoben werden soll ist, dass das Repertoire von Foreggers Kabarett zur Gänze im FEKS-„Manifest" verzeichnet ist; in seinen zirkusartigen und mechanistischen Komponenten von weniger italienisch-futuristischem, sondern eher Nietzscheanischem Ursprung wie auch bei Hillers Neopathetischem Kabarett in Berlin: „Ihr lerntet ob eurer Torheit zu frohlocken – schreibt Nietzsche -, welches war hier auf Erden die größte Sünde? Es war das Wort dessen, der sprach: ,Wehe denen, die hier lachen!‘ Fand er zum Lachen auf dieser Erde keine Gründe? So suchte er nur allzu schlecht (…). Sie haben schwere Füße – sie sind zum Tanz nicht fähig; wie kann die Welt für sie einfach sein! (…) Und wer seinem Ziel näher kommt, der tanzt. (…) Wer leichte Füße hat, läuft über Schlamm noch dahin – und tanzt darauf wie über gefegtes Eis. Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! Höher! Aber vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch, steht auch auf euren Köpfen! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setze mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter (…). Zarathustra, der Tänzer, Zarathustra, der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein göttlich Leichtfertiger (…) Ihr Stärkeren, lernt zu lachen (…)." [xviii]

Sollte dies der Ursprung des Mythos vom „fliegenden Menschen", die letzte Illusion der Avantgarde, bei FEKS und Foregger sein? Sie wird im Letatlin [xix] ihre endgültige Inkarnation finden. Das Schwere bindet den Menschen an das Immanente, und das ist vielleicht auch der Grund, aus dem Majakowski dickleibige Menschen verabscheute – ein ins Physische übersetztes Symbol der Entfremdung. Daher die Liebe zum Zirkus mit seiner waghalsigen Bühnenakrobatik und dem Ausdruck der Leichtigkeit, deren unendliche Kreativität von jeglichem Zwang befreit ist, und schlussendlich für den Taylorismus, der das perfekte System einer kinetischen Parzellierung darstellt mit der Fähigkeit, schwierigste Übungen zuzulassen, die jegliche Bindung an die Erde lösen.

In diesen Jahren hält Vsevolod Meyerhold fest: „Denn es ist die Aufgabe eines Schauspielers, in seinem Bühnenvortrag eine bestimmte Absicht zu verwirklichen. Von ihm wird eine Ökonomie der Ausdrucksmittel verlangt, um die Präzision der Bewegungen zu ermöglichen, die zur schnellsten Ausführung seiner Absicht beitragen. Die Methode des Taylorismus passt sich der Arbeit des Schauspielers an (…)." [xx] Akribisch und eifrig wurde der Taylorismus am Zentralen Institut für die Wissenschaftliche Organisation der Arbeit und der Mechanisierung des Menschen erforscht.

Die Maschine ist – in ihrer Verbindung mit dem Lachenlernen als Widerstand gegen die Verführungen einer trostspendenden Metaphysik und mit einem leichten transzendentalen Flug – befreiend, denn sie löst die in der materiellen Welt enthaltene Spannung und stürzt sich in eine utopische Zukunft. Die Maschine ist ein fröhliches und lebhaftes Spiel, eine verkehrte Welt, die Erziehung zu einem fröhlichen Umgang mit dem Universum der Produktion. Verbunden mit dem tiefen Glauben an die Maxime der organisierten Arbeit, kann dies nur mit der Maxime einer individuellen Befreiung durch über Massenriten zelebrierte Arbeit übereinstimmen. Wir sind also bei den Antipoden der grauenhaften theatralen Metapher angelangt, die Ruggero Vasari 1922 in Das Unbehagen der Maschinen formulierte. Dieses wurde als Teil des Manifests der Mechanischen Kunst von Vinicio Paladini, Ivo Pannaggi und Enrico Prampolini unterzeichnet und enthält einen positiven ideistischen Spiritualismus. Prampolini positionierte sich zusammen mit Anton Giulio Bragaglia näher der mechanistischen Phänomenologie Foreggers. Der italienische Futurismus teilt jedoch auf der Suche nach einer betonteren Dynamik des menschlichen Körpers die choreutischen Experimente von Emile-Jacques Dalcroze und Rudolf von Laban und ihr Abschweifen in ein entgegengesetztes semantisches Feld: der Rhythmus des menschlichen Köpers folgt nicht mehr der Natur, sondern dem Automatismus des industriellen Fortschritts. Derselbe Prampolini tendiert in den Balletten Die metallische Nacht und Die Wiedergeburt des Geistes (1922) – auch diese sind choreografisch nicht mehr zu rekonstruieren – figurativ zu einem puristischen Synkretismus, der Légers ars mechanica mit Lissitzkys konstruktivistischer Linearität vermischt, wenn er sich an Marinettis phantasievolle Moderneverehrung annähert. In den Tänzen für das Theater der Futuristischen Pantomime von Vaslav Veltschek, Wy Magito und Lydia Wisiakova erscheinen – das ist wahr – exzentrische und mechanizistische Wohlklänge, wenn auch gefiltert von der rein italienischen Tradition der Commedia dell'Arte, im folkloristischen Gewand und mit Josephine Bakers Music Hall reinterpretiert. Aber wir befinden uns bereits im Jahre 1927.

Auch Anton Giulio Bragaglias Theater der Unabhängigen beteiligte sich gegen Mitte der 20er Jahre an den choreutischen Neuerungen. Dem Tanz wurde bemerkenswert viel Raum gewidmet: von 1923 bis 1925 entstanden mehr als 30 Titel. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass der Tanz eine eher sekundäre Rolle spielte, und zwar die von „Mimoplastiken", wie Prampolini sie bezeichnete: Es war ein bescheidener Versuch, diese mythisierende Orchestik, diese unauflösbare Vereinigung zwischen Geist und Körper wiederzubeleben, wie sie im griechischen Tanz angenommen wurde und in Wirklichkeit größtenteils nichts anderes war als die Dalcrozesche Eurythmie. Jia Russkaja (Primaballerina und Choreografin bei den Unabhängigen) hatte sie in Genf erlernt, wo sie aus ihrer Heimat, Kerc, hingezogen war, um Medizin zu studieren. Antonio Giulio Bragaglias wunderschöne und raffinierte Fotodynamiken legen wertvolles Zeugnis davon ab. Weitere Tänze, die am Theater der Unabhängigen aufgeführt wurden – Kriegstänze, Indische Pantomime, Japanisches Motiv, In der Steppe – schielten sicherlich nach den hieratisch-orientalisierenden Stilemen von Ruth St. Denis, die zusammen mit Radha zwischen 1907 und 1909 in Wien und in Berlin Triumphe gefeiert hatte. Jene Ruth St. Denis, die mit ihrem fantastischen und magischen Orient selbst Marinetti nicht unberührt gelassen hatte.

Die exquisit lexikale, manchmal mundartliche Eigenart des italienischen futuristischen Tanzes, mit der Neigung, Logotechniken anzunehmen, ohne das diesen Innewohnende wirklich zu verstehen, schienen Taylors (er war das Fundament des Exzentrismus und der „mechanischen Tänze" von Nikolai Foregger) im spielerischen Sinn paraphrasierte Welt zu ignorieren. Der Taylorismus, auserkoren als Trope für eine dynamische Superaktivität, um den plumpen Mechanizismus des Alltags zu überholen. 1928 erklärte der Kritiker Vladimir Nedobrovo: „Die grünen Haare entspringen der Music Hall und dem Variete-Theater. Über Marinetti hinweg. Der Exzentrismus der FEKS (und von Foregger) ist nicht derselbe wie jener der Music hall. Wir müssen sehr darauf achten, dass hier keine Verwechslung passiert. Die FEKS schreibt dem Exzentrismus eine ganz andere Bedeutung zu und sucht ihn nach Möglichkeit für alle zugänglich zu machen (…). Wir sehen nicht mehr die gewohnten Objekte um uns herum. Ausgestattet mit der Fähigkeit zu denken, vollziehen wir unbewusst unsere gewohnten Gesten. Das wiederholte Ansehen eines Objekts in einem bestimmten Kontext automatisiert den Blick. Ich höre auf, die Objekte auf meinem Schreibtisch auseinanderzuhalten und nehme sie als Gesamtbild wahr. Es kann eine ganze Weile dauern, bis ich es bemerke, wenn mir eines dieser Objekte gestohlen wurde. Um die Dinge zu sehen, lohnt es sich, sie aus dem Automatisierungsprozess herauszulösen. Wir werden ein Objekt anders sehen, wenn wir es in Bezug zu den anderen Objekten stellen (…)." [xxi]

Nedobrovos These fügt sich in das Sdvig-Konzept („semantische Verschiebung") ein, das Kern der Forschungen über die poetische Sprache bei OPOJaZ und besonders von Viktor Sklovskijs Theoriegerüst, Kunst als Fortschritt (Iskusstvo kak priem, 1917), war.

Dank Ossip Briks Werk wurde der zwischen dem literarischen Futurismus – Majakovski, Krucenych und Chlebnikov – und OPOJaZ sowie den Bühnen-Experimentatoren angestoßene Dialog überaus dicht. Die Polemik richtete sich ja bereits gegen Belinskijs „Spiegelungs"-Theorie, der zufolge die Poesie bloß eine Reproduktion der Realität als Möglichkeit war. Diese Theorie findet sich auch bei Plechanov wieder, der im Versuch, eine neue ästhetische Theorie der materialistischen Geschichtsauffassung zu begründen, die Kunst mit dem Überbau identifizierte. Was aber zugleich und vor allem auffällt, ist der Symbolismus oder, besser, die Auffassung vom Kunstwerk als philosophische Parabel, wofür die Choreodramen von Michail Fokine deutliche Beispiele sind. Der Ursprung dafür liegt im erneuten Interesse am lauthaften Aspekt der Sprache, der sich dazu eignet, Konventionen zu durchbrechen, deren Normen den emotionalen Ausdruck verhindern.

Es werde also diese neue Form sein, die einen neuen Inhalt generieren wird, schrieb Krucenych. Und hier liegt die Abweichung vom italienischen Futurismus: die neuen Konzepte diktieren die formale Erneuerung – und nicht umgekehrt; das betont bereits Roman Jakobson. Die neuen Formen werden nicht in der Kunst auftauchen, um neue Inhalte auszudrücken, sondern um jene alten zu ersetzen, die den künstlerischen Anforderungen nicht mehr genügen. Deswegen muss – wie Nedobrovo anmerkte – das Objekt, wenn ihm eine ästhetische Funktion zukommen soll, der Lebensrealität und der Abfolge gebräuchlicher Assoziationen entzogen werden und in der Folge der Automatismus der Wahrnehmung aufgehoben werden: durch semantische Verfremdung oder durch ein Verschieben (Sdvig) des Objektes selbst sowie der Figur, des Wortes und – so können wir hinzufügen – der Geste oder des Tanzschrittes, aus seinem gewohnten Kontext, um so eine neue semantische oder semiologische Perzeption zu erreichen. Nur derart kann das immer noch logisch strukturierte und syntagmatisch organisierte Verbrauchte wieder mit besonderer Bedeutung – zu verstehen als signum facere – aufgeladen werden. Das Wort soll also über die Auflösung seiner uralten syntaktischen Zusammenhänge resemantisiert werden. Ein typisch futuristisches Vorgehen, das in ein- und demselben Text heteroklitische Zeichen zusammenfügt oder ihn in seiner Konstruktion bloßlegt, wie es auch in Foreggers Kabarett geschieht. Diese Lehren wären ohne Vygotskis Auffassung von Kunst als Verkörperung des Lebens, von der ihre Substantiierung in eine Verfahrenssumme herkommt und deren Materialien sich dem Formalisierungsprozess gegenüber arbiträr und gleichgültig verhalten, undenkbar: Umso mehr dominiert die Komposition, umso mehr tendiert das thematische oder erzählende Element dazu zu verschwinden. Ossip Brik zog extreme Konsequenzen und konnte behaupten, dass der Poet ein Sprachtechniker und -schöpfer sei.

Es heißt, dem italienischen Futurismus sei die Analyse des spezifisch Choreografischen und des Tänzers als dessen erneuerndes Instrument gleichgültig gewesen. Balla wagt es 1917 [xxii] auf der Bühne des römischen Teatro Costanzi statische, mit reflektierendem oder transparentem Material überzogene feste Körper zu zeigen, deren farbige Beleuchtung kinetische Effekte erzeugt. Prampolini legt in Dynamische Synthesen Bühnenbild und Choreografie zusammen und schafft den Interpreten ab. Dessen Platz nehmen Neonröhren (die gerade erst entwickelt worden sind) ein beziehungsweise „Schauspieler aus Gas" ein: „Farblose, elektromechanische Architekturen, die durch Farblicht belebt werden (…). Flackern und leuchtende Formen (aus elektrischem Strom und koloriertem Gas) durchwinden einander in dynamischen Verzerrungen (…). Denn zischend, rauschend und mit den eigenartigsten Geräuschen geben diese Akteure aus Gas ungewöhnliche theatralische Interpretationen zum besten und drücken pluriforme emotive Tonalitäten viel effizienter aus als irgendein hoch gefeierter Schauspieler (…)." [xxiii]

Vinicio Paladini, Ivo Pannaggi und Fortunato Depero verkleiden den menschlichen Körper mit einer dreidimensionalen, die Bewegungen bestimmenden Panzerrüstung und verdammen ihn so zu einem einwertig elementaren Minimalismus. Tatsächlich gab es auch in Sowjetrussland ein Projekt mit einer elektromechanischen Aufführung: zwischen 1920 und 1921 legt El Lissitzky (Lazar Markovich Lissitzky) in Moskau Sieg über die Sonne (Pobeda nad solncem) neu an (die Aquarelle und die Figurenanordnung werden zwischen 1922 und 1923 in Hannover und Berlin geschaffen), das erste futuristische Stück von Krucenych und Chlebnikov. Es wird unter Matjusins musikalischer Leitung als Massenritual auf einem Platz aufgeführt, auf dem ein riesiges Gerüst errichtet wird, das „den Figuren jeglichen Bewegungsfreiraum ermöglichen muss. Also müssen die Einzelteile verschiebbar, drehbar, verlängerbar etc. sein. Die Figuren rutschen, rollen, erheben sich (…). Alle Teile des Gerüsts und alle Figuren werden über elektromechanische Vorrichtungen in Bewegung gesetzt. Die Kontrolle über die Zentralvorrichtung befindet sich in den Händen einer einzigen Figur (…). Diese lenkt die Bewegungen, die Geräusche und die Beleuchtung (…)." [xxiv]

Auch dies ist eine spannende choreografische Komposition, eine dynamische, vom Suprematismus beeinflusste Synthese, die im Umfeld von Unovis [xxv] in Vitebsk entstand, wo Nina Kogan ein suprematistisches Ballett ausprobiert hatte, das aber einzigartig und fremd in der Erforschung der Sprache sowie als künstlerische Abfolge mit totaler Autonomie ausgestattet war – typisch für die sowjetrussischen Choreografen dieser Jahre.

Weil der Tanz ein ästhetisches Objekt darstellt, wird er auch als linguistische Realisation eines spezifischen, aus expressiven und stilistischen Mitteln komponierten Zeichensystems ausgelotet, dessen interne Struktur beleuchtet wird, ohne der Verführung von psychologischen oder soziologischen Faszinationen zu erliegen, und in dem die Aufmerksamkeit – wie von Viktor Slovskij postuliert – auf die materiellen Besonderheiten gelenkt wird. Dessen erfolgreichen Formel „Literarität und nicht Literatur" folgend, können wir von chorischer Choreografie sprechen oder von dem Willen zur Enthüllung der Bewegungsgesetze, indem wir die Bewegung von jeglicher Referenz loslösen. Kennzeichnend ist, dass das 1923 gegründete Choreologische Labor der RAChN (Russkaja akademija chudozestvennych nauk, Russische Akademie der Kunstwissenschaften) unter anderem zwischen poetisch-verbalen und plastisch-kinetischen Segmenten liegende Isotopismen erforschte.

Die neue Sprache des Tanzes, die wir in einem blasphemischen Akt gegen eine noch nicht untergegangene Religion als „Akademismus des 19. Jahrhunderts" bezeichnen können, hat sich vom normativen Kanon abweichend im Streben nach einer Universalität des Wortes – wie bei Zaum oder bei der transmentalen Sprache – entwickelt. Da der Inhalt gleichgültig wird, kann jedes beliebige Material formalisiert werden: das ist der Grund, aus dem sich in der sowjetrussischen Choreografie der 20er Jahre groteske Deformationen von klassischen Texten (Teolinda von Kasjan Golejzovskij, 1925: eine Parodie auf das romantische Ballet Blanc oder, wenn man will, auf die „Sylphides" von Fokine) sowie Neuentwürfe von populären folkloristischen Tänzen (Hopak, ein ukrainischer Volkstanz, als konstruktivistischer, „russisch-mechanischer Tanz" von Foregger, 1922 bis 1923) und Saaltänzen („exzentrischer Tanz" von Kasjan Golejzovskij, Foxtrott, Twostep, Tango-Shimmy, Cakewalk von Foregger, 1922 bis 1923) wiederfinden. (…)

Die Übereinstimmungen zwischen Foreggers Kabarett und Sergei Eisensteins „Manifest" – Die Montage der Attraktionen (Montaz attrakcionov, 1923) – sind symptomatisch und wenig verwunderlich, wenn man sich an das Debüt des großen Regisseurs als Bühnenbildner bei Mastfor erinnert. Was die beiden verbindet, ist der Begriff der Bildmontage, die auch aus der formalistischen Schule kommt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Montage assoziativ oder die kontrastierend ist. Solange sie nur – choreografisch bei Foregger, filmisch bei Eisenstein – als strukturierende und konstruktive Achse einer Aufführung dient, in der das Fotogramm oder die einzelnen Gesandtschaften als Morpheme zu sehen sind, die das Signifikat ausschließlich paradigmatisch definieren. Morpheme und Glosseme in absentia, die in einer assoziativen Sequenz oder syntagmatischen Kette aufzustellen sind, in welcher sich der Signifikant – in einem isologen System jedoch auch das Signifikat – mit konnotativem Wert aufladen.

Dies ist der Ausgangspunkt Kasjan Golejzovskijs, der ein weiterer großer Reformer der sowjetischen Choreografie der 20er Jahre war und von dem der Futurist Enrico Cavacchioli meinte: „Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was die Geste für den Ausdruck des Kunstwerks bedeuten kann, beachte man nur die herrlichen Ergebnisse, die Golejzovskij, einer der in Moskau meistdiskutierten Choreografen, mit der Erfindung seiner modernen Tänze erzielt hat. Golejzovskij und die Tarnovska, das Delirium auf den Bühnen Moskaus, interpretieren vorzüglich die Musik von Skriabin und Mettner. Sie haben sich auf die Rekonstruktion regionaler Musik zwischen Russland und Spanien spezialisiert und einen leicht zu erklärenden Bereich innerhalb ihrer exquisiten Kunst entdeckt (…)." [xxvi]

„Für uns – so erinnert sich der Tänzer Sergej Cudinov, der Golejzovskij interpretierte – gab es nur ein einziges Gesetz: Die Arabesque ist auf jene Art auszuführen, die Attitude auf diese, und nur auf diese etc. Bei ihm (Golejzovskij) war alles anders. Man war verblüfft, und viele dachten, dass gewisse Schritte unausführbar seien (…)." [xxvii] Der Grund dafür war, dass Bodenschritte in der Luft ausgeführt werden sollten und umgekehrt, Armbewegungen wurden den Beinen zugeordnet, vertikale und horizontale Linien wurden zu diagonalen, die traditionelle Sprachordnung wurde durcheinander gebracht, eine ungewöhnliche Kombinationsfreiheit der Zeichen gestattet, jegliches kristallisierende Syntagma wurde abgeschafft, man konnte eine unbekannte Ausdrucksweise und Funktionalität der Gesten, oder besser, eine totale Ausdrucksweise des menschlichen Körpers erkunden. Aber um die Bewegung dort hervorzuheben, wo die italienischen Futuristen sie verbargen (Vera Idelson, die eine mit der italienischen vergleichbare Erfahrenheit hat, zwingt den Schauspieler in Unbehagen der Maschinen von Ruggero Vasari zu einer ausschließlich mechanischen Armfunktion zur Aktivierung von sich rhythmisch drehenden, frontalen Schirmen), entkleidete Golejzovskij den Tänzer und wurde nicht zufällig wiederholt der Pornographie beschuldigt. Die Kostümierung musste mit der Bewegung übereinstimmen, den Körper dynamisieren und konnte also nur oberflächenhaft sein: auf die Haut gemalt, um den Muskulaturverlauf hervorzuheben, die Körperstruktur zu akzentuieren (Ausdrucksmaterial) und die Schrittmechanik zu offenbaren.

Die Verflechtung mit der konstruktivistischen Poetik wird ab 1922 gut sichtbar und schält sich in diesem Jahr heraus, in dem Golejzovskij zu Skrjabins Musik Le ballet satanique schafft. Das von Alexandra Exter entworfene Bühnenbild oder, um einen typisch konstruktivistischen Ausdruck zu verwenden, der „Bühnenrahmen" wurde nie ausgeführt – der Entwurf war bei der Ausstellung „Die Kunst des Bühnenbilds in Moskau zwischen 1918 und 1923" zu sehen. Er stellt eines der ersten Beispiele für das volumetrische Dekorum dar, das für das Spiel des Akteurs so funktionell war wie das Trapez für den Akrobaten – wie Vsevolod Meyerhold gerne wiederholte – und Vorgänger für sowie bald Begleiter der überaus bekannten konstruktivistischen Bauten für Le cocu magnifique von Ljubov Popova war. Dessen liebste und geschätzteste Freundin war Exner, die ihn deshalb während seiner Aufenthalte in Moskau beherbergte.

Der Konstruktivismus übt starken Einfluss auf den Geist der Erneuerer der sowjetrussischen choreografischen Sprache aus. Dies fällt bei sorgfältiger Betrachtung einer Zeichnung von Boris Erdmann auf, die dieser 1923 für einen „mechanischen Tanz" von Nikolai Foregger anfertigte. Die perfekte Symmetrie ihrer einzelnen Partien scheint von Rodtschenkos Raumkonstruktionen inspiriert worden zu sein, die erst kurz zuvor entstanden und auf einer Gleichwertigkeit der Formen und deren freien Verlauf beruhten. Jenseits dieser verführerischen und trotzdem emblematischen Gemeinsamkeit ist es aber zulässig, die Hypothese aufzustellen, dass der Tanz von dem fruchtbaren Humus des Konstruktivismus, zu dem Golejzovskij in enger Beziehung stand, substantiell profitiert hat. Denn er lehrte an Tairows Kammertheaterschule, wo er erst an der Seite von Exter und dann mit der Gruppe der Brüder Stenberg und Meduneckij (auch „Die Konstruktivisten des Kammertheaters" genannt) arbeitete, deren Arbeiten 1923 im Westen bekannt wurden, als sie in Paris anläßlich einer Theatertournee ausgestellt waren. Tatsächlich richtet sich Golejzovskijs Ästhetik bis 1922, also bis zur choreografischen Fassung von Debussys Faune, nach Kandinskys Lehren auf dem INChUK und nach Jacques Dalcrozes Technik, die nach dem Besuch des Wiener-Genfer Lehrmeisters 1912 in Petersburg und – vor allem nach der Eröffnung [des INChUK, d.Ü.] 1920 – in Petrograd und danach in Moskau von Eurythmie-Instituten propagiert wird. Wie man sich erinnert, ist der Tanz im Curriculum des INChUK obligatorisch verankert. Hier will Kandinsky mit einer neuartigen, in der Tradition des germanischen Gesamtkunstwerks stehenden, mit der Triade Malerei-Musik-Tanz verwurzelten Synästhesie der Künste experimentieren und zugleich eine Wissenschaft erforschen, die sich dazu eignet, die fundamentalen Elemente der einzelnen Künste – mit Rücksicht auf die Besonderheit jeder einzelnen ästhetischen Klasse – wie auch der Kunst allgemein analytisch und synthetisch zu untersuchen. Kandinsky glaubt, sie im Unbewussten oder besser in der Intuition als aktualisiertes Unbewusstsein entdeckt zu haben und führt, um dies zu beweisen, das folgende Experiment durch: „Ein Musiker suchte sich per Zufall eines meiner Aquarelle aus, das ihm von einem musikalischen Standpunkt als am klarsten erschien. In Abwesenheit des Tänzers ‚spielte‘ er das Aquarell vor. Dann kam der Tänzer zu uns, und das Musikstück wurde für ihn gespielt. Der Tänzer interpretierte es und musste schließlich das Aquarell erraten, das er gerade getanzt hatte (…)." [xxviii]

Wir können annehmen, dass Golejzovskij nicht frei von dieser Art spiritualistischer Verwirrung ist, als er für das Bolschoi in Moskau das Ballett Die Maske des roten Todes schafft – eine Bearbeitung der Erzählung von Edgar Allan Poe zur Musik von Nikolai Cerepnin; demselben Cerepnin, der 1909 in Paris mit dem von Fokine choreografierten Le Pavillon d'Armide die Saison von Diaghilevs Kompanie eröffnet hat. Cerepnin erzählt: „In meinem Ballett Le Pavillon d'Armide war die Musik wie die Sonne und voller Lebensfreude, während sie [in Die Maske des roten Todes] düster ist, ich würde sogar sagen, alptraumhaft. Um ihr diese dunklen Klänge zu verleihen, habe ich das Orchester vergrößert, und außerdem musste ich neue Musikinstrumente erfinden (…). Ich werde froh sein, wenn ich mich endlich von dieser bedrückenden Arbeit befreit habe (…)." [xxix] Es ist nicht auszuschließen, dass sich der Komponist auf die III. Stunde bezieht – die Annäherung zwischen der reellen und der Bühnenzeit hat ihren Höhepunkt erreicht, bis hin zu ihrer Übereinstimmung, wenn die lebendigen Träume, die Äußerung der emotiven Sphäre des Individuums, auftauchen – oder auch auf die I. Stunde, die Orgie, die Golejzovskij, wie auch Fuchs und Laban, mit dem dionysischen Zustand identifiziert, während dessen der Tänzer in heidnische Ekstase verfällt und sein tieferliegendes Ich verlässt. Nun wird klar, warum der Kritiker Bezsonov 1918 Golejzovskijs Aufführung Die Evolution des Tanzes (Evoljucija tanca) als „das Delirium eines Dementen" [xxx] beschreibt. Um es mit Roman Jakobson, der sich zu diesem Zeitpunkt noch in Moskau befindet – Kandinsky und Golejzovskij erarbeiten ein gleiches Modell, heterogene nicht-linguistische Diskurse einer nichtverbalen, hauptsächlich metaphorischen Sprache – zu sagen: „Russische Gesänge, Werke der Romantik und des Symbolismus (…) die Freud'schen Traumsymbole (…)." [xxxi]

Das Jahr 1922 markiert die Bindung Golejzovskijs an den Konstruktivismus, in dem er ja sicher nicht Epigone war, sondern allenfalls, im Bereich des Theaters, eine zentrale Figur, wenn nicht ein Verkünder.

Der Konstruktivismus – ein kurzer historischer excursus kann hier nicht schaden – formierte sich im März 1921 unter der Obhut des INChUK als Arbeitsgruppe, wenn auch bereits im Jahr davor während Rodtschenkos Leitung starke Gegensätze zwischen Kandinskys Programm, das die Wechselbeziehung zwischen Malerei, Musik und Tanz bevorzugte, und den Verfechtern einer „objektiven" Kunstanalyse, der zufolge Architektur und Malerei im Design zusammenfließen sollten, auftauchten. Das Programm der Gruppe oder die Allgemeine Theorie des Konstruktivismus (Obscaja teorija Konstruktivizma) wurde von Varvara Stepanova verfasst und steht Golejzovskijs Ästhetik nahe, auch darin, wie sie die Überzeugung der Nichtvererbbarkeit der künstlerischen Kultur und damit deren Ungeeignetheit zur Lösung formaler Aufgaben der Modernen Kunst vertritt. Soweit die Stepanova. Im Versuch, die Tänzerin Ljubov Bank vergessen zu lassen, dass sie an einem Hoftheater gedient hatte, behauptete Golejzovskij fast in Übereinstimmung: „Es ist unmöglich, neue Ideen mit Formeln auszudrücken, die für andere Anlässe geschaffen wurden (…)." [xxxii] Und wenn Rodtschenko meinte, dass „man das Leben spüren und den Stil umbringen muss. Stil wird in Museen konserviert (…)" [xxxiii], erwiderte der Choreograf, dass „alter Schmuck, zerbrechliches Porzellan in Museen aufbewahrt werden muss und im heutigen Leben keinen Raum besetzen darf (…)" [xxxiv]. An dieser Stelle zweigt der Weg einer anderen Größe ab: George Balanchine (Georgij Balancivadze), der im Gegensatz dazu die Traditionen der Akademie des 19. Jahrhunderts wiederaufnimmt, die Schritte allerdings von dieser noch schwach vorhandenen Referenzialität in konstanter Begeisterung für technisches Virtuosentum ablöst: choreografische Partituren, isomorph im Vergleich zu den musikalischen, die zwischenzeitlich als „symphonisch" oder „konzertant" bezeichnet werden.

1922 triumphierte das Konstruktivistische Theater: Tairov produziert Racines Phaedra mit Bühneninstallationen von Aleksandr Vesnin. Meyerhold inszeniert zusammen mit der Popova Le cocu magnifique und mit Stepanova Tarelkins Tod (Smert Tarelkina). Golejzovskij inszeniert den Faune von Claude Debussy, für den Boris Erdman einen „Bühnenrahmen" aus begehbaren, rutschenhaften Stufen montierte und „Nicht-Kostüm-Kostüme" aus sich um die Körper der Tänzer wickelnden Seilen entwarf, beinahe als ob ihre Materialität, ihre Körperlichkeit hervorgehoben werden sollte. Eine Materialität, die sich auf die konstruktivistische „Textur" beruft und die 1922 von Aleksej Gan so definiert wird: „Endgültige Bearbeitung des Materials (…) Organischer Zustand des bearbeiteten Materials (…) in dem der Ursprungszustand erkennbar oder das Material bewusst gewählt und funktionell bearbeitetet sein muss, damit die Bewegung der Konstruktion nicht behindert wird (…)." [xxxv] Es ist nicht auszuschließen, dass sich Golejzovskij mit dem Entblößen des Tänzerkörpers, mit dem farbigen Markieren der Muskelverläufe – abgesehen davon, dass er so auch seine Hochachtung für die Körperkultur ausdrückt, die in den deutschsprachigen Ländern sehr verbreitet und mit der Kunst von Rudolf von Laban in der Kolonie auf dem Monte Verità verbunden war, wo der Nudismus, der das 1911 in Petersburg von Igor Mjasoedov publizierte Manifest des Nudismus (Manifest o nagote) nach sich zog, beinahe zum Alltag gehörte – auf ein weiteres Schlüsselkonzept des militanten Konstruktivismus beruft: die „Tektonik". Sollte die Erklärung, die Gan selbst in Unser Konstruktivismus kämpft für die materiell-intellektuelle Produktion der kommunistischen Kultur! (1922) gibt, stimmen, dass die endgültige, zur Rezeption bestimmte Formalisierung von der Beschaffenheit des Materials bei seiner Äußerung abhängt, und wenn die Explosion der organischen Eigenschaften im Material oder in einer bewussten Verwirklichung von Virtualitäten der Tiefenstruktur im Einklang mit den entsprechenden Sprachregeln vorweggenommen war, dann liegt die Bedeutung der Bühnennacktheit in der Enthüllung der mechanischen Gesetze der Bewegung, die – gemäß Golejzovskijs These – in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zum Texturkonzept stehen. Und man sollte wieder an den strukturellen und schöpferischen Wert denken, den Rodtschenko der Linie zuschrieb: „In der Linie findet die neue Vision Ausdruck, die sich über die Essenz aufbaut und sich nicht repräsentiert. Neue rationale Lebensstrukturen werden konstruiert und nicht vom Leben abgeleitet oder ihm entnommen (…). Die Planung von rationalen, ineinanderfließenden Formen; doch jede Form ist autonom und distinkt, schmälert nicht die Aussage der anderen. Alle zusammen stehen in rationaler Konkurrenz zueinander und funktionieren einem einzigen System gemäß. So lösen sie einerseits das Problem des verwendeten Materials und zum anderen das Raumproblem (…)." [xxxvi] Das sind die choreografischen Verfahren, die Kasjan Golejzovskij bei Josef der Schöne (Iosif prekrasnyi, 1924-25) zur Musik von Sergej Vasilenko verwendete. Was hier angesichts der reichen Bilddokumentation auffällt, ist Erdmans konstruktivistischer Bühnenaufbau, auf einem schwarzsamtenen Bühnenhintergrund deutlich umrissen, mit einer ebenso präzisen diagonalen Zeichnung der Bewegung der Tänzer, die sich in einem Lauf von Wellenlinien als continuum windet. Jeder Tänzer erscheint zuweilen als kinetische Figur, deren Instabilität eine Quelle der Bewegung ist. Diese Bewegung wird von chromatisierten, auf die Tänzerkörper gemalten oder geklebten Streifen dynamisiert. Die Bühnenanlage sollte in toto mit einem enormen Raum-„Mobile" auftreten, das dank der autonomen Bewegung der Ausführenden einmal eine Pyramide simulierte – die ewige und unbewegliche Welt des Potiphar –, dann wieder eine umgedrehte Pyramide, ähnlich dem Keil von El Lissitzky, dem Symbol für den Schub, den die Befreiung der Menschheit durch den Umsturz der alten hierarchischen Weltordnung erhalten hatte. Das im Vordergrund stehende Schwarz und Weiß symbolisiert „die Reinheit der Kraft und der Energie" durch die Überwindung des Individualismus. Die Garçon-Frisur und die asymmetrischen Schultern sind eine ironisierende Darstellung der Pariser Mode eines Poiret oder Chanel. Das provozierte jene semantische Verschiebung, das doppeldeutige und elegante Spiel zwischen Realismus und Konvention, zwischen Antike und Moderne, das den geschaffenen Objekten ihre Wahrnehmbarkeit wiedergibt: „Objekte, die sich umdrehen, ihrer alten Namen entledigen und mit neuen Namen versehen, neue Aspekte annehmen (…)." [xxxvii] Deswegen müssen sie neu benannt werden; so wird nicht nur die Ausdrucksweise, sondern auch die Sprache erneuert.

Aber sehr bald werden sich die „Objekte" wieder in die am Beginn des Jahrhunderts abgelegten und verschlissenen Gewänder hüllen. Sie werden sich die verbrauchten und veralteten Namen wieder aneignen. Die urbane Neophilie erschien dem verstädterten Bauern sowie dem bürokratisiertem Arbeiter unverständlich und deswegen auch gefährlich und destabilisierend.

1924 wird bei NARKOMPROS ein spezielles Komitee zur Kontrolle des Repertoires von privaten und öffentlichen Bühnen eingerichtet. Dieses stellt jegliche Subventionierung der privaten Kompanien ein. Zu Beginn der Saison 1925/26 werden einige Gruppen, Studios und Ateliers verstaatlicht, die anderen – fast alle – aufgelöst. Von der Schließung geht man bald in die Repression über.

 


 

Fußnoten:
[i] F. T. Marinetti: Manifesto della danza futurista (Manifest des futuristischen Tanzes), in: Ricostruzione futurista dell'Universo (Futuristische Rekonstruktion des Universums), herausgegeben von E. Crispolti, Ausstellungskatalog, Turin, Juni-Oktober, Seiten 201-202.
[ii] A. De Angelis: Gli scenografi italiani di ieri e di oggi (Italienische Bühnenbildner einst und jetzt), Cremonese libraio editore, Rom, 1938-XVI, Seiten 8-10.
[iii] Gasco: „La Tribuna", 14. Mai 1911.
[iv] V. Frajese: Dal Costanzi all'Opera (Von Costanzi bis zur Oper), II, Edizioni Capitolium, S. 105.
[v] A. G. Bragaglia: Avanguardia italiana e teatro russo (Italienische Avantgarde und russisches Theater), in „Teatro", III, 1925, Nr. 7, S. 30.
[vi] F. T. Marinetti: Manifesto…, op.cit., S. 201.
[vii] I. Pannaggi: galleria SM 13, Rom 20. Januar – 8. Februar 1969.
[viii] Sovetskij Teatr. Dokumenty i materialy (Das sowjetische Theater. Dokumente und Materialien), Iskusstvo Moskwa 1975, S. 355.
[ix] V. E. Meyerhold: Stati, pisma, reci, besedy (Artikel, Briefe, Diskurse, Gespräche), Iskusstvo Moskwa 1968, I, S. 219.
[x] A. G. Bragaglia: Avanguardia italiana e teatro russo (Italienische Avantgarde und russisches Theater), in „Teatro", III, 1925, Nr. 7, S. 31.
[xi] IZO: Otdel izobrazitelnych iskusstv (Abteilung für Bildende Kunst). 1918 bei der NARKOMPROS eingerichtet, zur Verwaltung der Kulturpolitik im Feld der visuellen Künste und bis 1921 von Tatlin (Moskauer Sektion) und Sterenberg (Petrograder Sektion) geleitet.
[xii] NARKOMPROS: Narodnyi komissariat po prosvesceniju (Volkskommissariat für Unterrichtswesen). 1917 beim Rat der Volkskommissariate eingerichtet (SNK) und für die Verwaltung zuständig. Lunacarskij leitete es bis 1929. Er legte das öffentliche Unterrichtswesen und das Unterrichtswesen für Kulturangelegenheiten zusammen. 1936 wurden die zwei Funktionen aufgeteilt. 1949 wurden die Kommissariate aufgelöst und in Ministerien umgewandelt.
[xiii] O. M. Brik: Il drenaggio dell'arte (Drainage der Kunst), in: L'avanguardia dopo la Rivoluzione, herausgegeben von L. Magarotto, Savelli, Rom 1976, Seiten 95-96.
[xiv] INChUK: Institut chozestvennoj kultury (Institut für Künstlerische Kultur). 1920 beim IZO des NARKOMPROS eingerichtet. De facto war Kandinsky der Vorstand – er arbeitete auch das Programm aus, ebenso Rodtschenko, Tarabukin und Stepanova. Die Gruppe der Konstruktivisten formierte sich hier 1921 und wurde von Rodtschenko, Stepanova und Gan gefördert. Das Institut, an dem die theoretisch-ästhetischen Prinzipien des sowjetischen Designs formuliert wurden, wurde 1924 aufgelöst.
[xv] N. M. Foregger: Zapiska o principach raboty malych form (Notizen zu den Funktionsprinzipien des konzisen Theaters), Moskau, Zentrales Staatliches Theatermuseum A. A. Bachrusin, Fondo letterario, Nr. 150.
[xvi] G. M. Kozincev, G. K. Kryzickij, S. I. Jutkevic: Exzentrismus (1922), it. Übers. in: Teoria del cinema rivoluzionario. Gli anni venti in URSS (Theorie des revolutionären Kinos. Die 20er Jahre in der UdSSR), herausgegeben von P. Bertetto, Feltrinelli, Mailand 1975, Seiten 226-227.
[xvii] F. Depero: Teatro magico (Magisches Theater), herausgegeben von G. Belli, N. Boschiero und B. Passamani, Ausstellungskatalog, Electa, Mailand 1989.
[xviii] F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Teil IV.
[xix] Eigentlich „FliegTatlin", Verbindung aus letat und Vladimir Tatlins Vornamen: Apparat für den individuellen Flug, entworfen von Tatlin.
[xx] V. E. Meyerhold: Stati, pisma, reci, besedy (Artikel, Briefe, Diskurse, Gespräche), Iskusstvo Moskwa 1968, I, S. 488.
[xxi] V. Nedobrovo: FEKS: G. Kozincev i L. Trauberg, 1928, in: Cinema e Avanguardia in Unione Sovietica (Kino und Avantgarde in der Sowjetunion), herausgegeben von G. Rapisarda, Officina Edizioni, Rom, S. 46.
[xxii] In Bezug auf Feu d'artifice, eine abstrakte Aufführung mit Farben und Lichtern unter der musikalischen Leitung von Igor Stravinsky für Diaghilevs Ballets Russes, aufgeführt am 12. April 1917 im Teatro Costanzi in Rom. Der Komponist selbst leitete das Orchester. Giacomo Balla, der für die Bühne und die Beleuchtung zuständig war, wurde zusammen mit Diaghilev als Choreograf erwähnt.
[xxiii] E. Prampolini: Scenografia e coreografia futurista (Futuristische Choreografie und futuristisches Bühnenbild), in: „La Balza", 12. Mai 1915, Nr. 3.
[xxiv] El Lissitzky: La configurazione plastica dello spettacolo elettromeccanico „Vittoria sul sole" (1923) (Die plastische Gestaltung der elektro-mechanischen Aufführung „Sieg über die Sonne" (1923)), in: El Lisitzkij, herausgegeben von S. Lissitzky-Küppers, Editori Riuniti, Rom 1967, S. 342.
[xxv] Unovis: Utverditeli novogo iskusstva („Zur Selbstbehauptung einer neuen Kunst"). Eine 1920 nach Chagalls Rücktritt (1919) von Kasimir Malewitsch an der Vitebsker Kunsthochschule formierte Gruppe. Teile von Unovis übersiedelten 1922 nach Petrograd.
[xxvi] E. Cavacchioli: Decorazioni, movimenti e semplificazioni del Teatro Russo (Dekoration, Bewegung und Vereinfachung im Russischen Theater), in: „Comoedia", VI, 1924, Nr. 17, S. 6.
[xxvii] E. Ja. Suric: Choreograficeskoe iskusstvo dvadcatych godov (Choreografie der 20er Jahre), Iskusstvo, Moskau 1979, S. 19.
[xxviii] A. Schönberg, W. Kandinsky: Musica e pittura. Lettere, testi, documenti (Musik und Malerei. Briefe, Texte, Dokumente), herausgegeben von J. Hahl-Koch, Einaudi, Turin 1988, S. 74.
[xxix] E. Ja. Suric: Choreograficeskoe iskusstvo dvadcatych godov (Choreografie der 20er Jahre), Iskusstvo, Moskau 1979, S. 163.
[xxx] S. Bezsonov: Balet (Ballet), in „Velikaja Rossija", 4. Juli 1918, Nr. 26.
[xxxi] R. Jakobson: Deux aspects du langage et deux types d'aphasie, in „Les Temps Modernes", Nr. 188, I, 1962, S. 863.
[xxxii] E. Ja. Suric: Choreograficeskoe iskusstvo dvadcatych godov (Choreografie der 20er Jahre), Iskusstvo, Moskau 1979, S. 198.
[xxxiii] A. M. Rodtschenko, Tutto è esperimento (Alles ist ein Experiment) 1920, in Rodtschenko-Stepanova. Alle origini del Costruttivismo (Rodtschenko-Stepanova. Die Ursprünge des Konstruktivismus), herausgegeben von V. Quilici, Ausstellungskatalog, Electa, Mailand 1984, S.108.
[xxxiv] E. Ja. Suric, Choreograficeskoe iskusstvo dvadcatych godov (Choreografie der 20er Jahre), Iskusstvo, Moskau 1979, S. 183.
[xxxv] A. M. Gan, Il nostro Costruttivismo lotta per la produzione material-intelletuale della cultura comunista! (Unser Konstruktivismus kämpft für die materiell-intellektuelle Produktion der kommunistischen Kultur!) (1922), in Le avanguardie artistiche in Russia (Die künstlerische Avantgarde in Russland), herausgegeben von M. Böhmig, De Donato, Bari 1979, S. 219.
[xxxvi] A. M. Rodtschenko, La linea (Die Linie) (1921), in: Rodtschenko-Stepanova. Alle origini del Costruttivismo (Rodtschenko-Stepanova. Die Ursprünge des Konstruktivismus), herausgegeben von V. Quilici, Ausstellungskatalog, Electa, Mailand 1984, S. 113.
[xxxvii] V. B. Slovskij, O teorii prozy (Theorie der Prosa), Sovetskij pisatel, Moskau 1983, S. 128.

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Erstübersetzung aus dem Italienischen ins Deutsche für corpus mit freundlicher Genehmigung des Verlags von Adrian Ortner [Red. Helmut Ploebst]. Untertitel von corpus. Quelle: Fabio Ciofi degli Atti/Daniela Ferretti (Hg.): Russia 1900-1930. L'Arte della Scena. Electa, Milano 1990, S. 29 ff. Die Illustrationen wurden nicht übernommen. Die Redaktion dankt Gunhild Oberzaucher-Schüller für den Hinweis auf dieses Buch und Tanzplan Deutschland für die Finanzierung der Übersetzung.


(5.10.2008)