Verrückter Tanz des Kapitalismus

200 JAHRE KARL MARX UND EIN CHINESISCHER WITZ

Von Helmut Ploebst

Was für ein herrlicher Samstag. Der Mai ist gekommen, mild scheint die Kurzfrühlingssonne, und wir feiern den 200. Geburtstag von Karl Marx. Im St. Pöltener Festspielhaus gastiert das Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan mit Lin Hwai-mins Stück Rice. Und in Trier wird ein offizielles volkschinesisches Danaergeschenk ausgepackt: eine fünfeinhalb Meter hohe Marx-Statue, gefertigt im sozialistischen Retro-Stil von dem Bildhauer Wu Weishan.

 

Die Volksrepublik China repräsentiert derzeit einen der smartesten Totalitarismen, die die Menschheitsgeschichte bisher gekreißt hat: eine postmoderne Mischung aus kapitalistischer, digitaler und kommunistischer Diktatur. Damit ist dieses China aber auch ein gelungener Witz, in dem der Westen mit seiner neoliberalen Politprostitution auf der einen und seinen exmaoistischen Intellektuellen auf der anderen Seite des politischen Spektrums ordentlich auf die Schaufel genommen wird. Wie müssen an diesem Samstag Chinas außenpolitische Spaßmacher gelacht haben, als Wus Propagandakunst-Ötzi in Anwesenheit der neuen SPD-Chefin Andrea Nahles enthüllt wurde.

 

Chinas Staatschef Xi Jinping hatte zuvor in einem rhetorischen Geburtstagsständchen die Ironie seiner Politik mit dem Satz auf den Punkt gebracht, Marx’ „Theorie leuchtet immer noch mit dem brillanten Licht der Wahrheit“. [1] Xi arbeitet erfolgreich daran, das chinesische Internet unter staatliche Kontrolle zu bekommen, denn es dürfe „unter keinen Umständen zur Plattform für die Verbreitung schädlicher Nachrichten und Gerüchte werden“. [2] In chinesischen Medien hieß es, „Internetmedien sollen positive Informationen verbreiten, an der korrekten politischen Richtung festhalten und die öffentliche Meinung und ihre Wertvorstellungen in die richtige Richtung lenken“. [3]

 

Weiters will Xi, wie die Wiener Tageszeitung Der Standard berichtet, initiativ mithelfen, das offene Internet auch weltweit abzuschaffen: „Schon in den vergangenen Jahren hat er sich gegen das globale Verständnis eines grenzenlosen Internets ausgesprochen und gefordert, das Internet dem Souveränitätsprinzip zu unterwerfen. Danach soll jedes Land gemäß seinen Sicherheitsinteressen das Netz regulieren und kontrollieren – andere Staaten sollen darauf Rücksicht nehmen müssen.“ [4] Zum Witz dieser Sache: Im ersten Text von Band 1 der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) fordert Karl Marx, ganz „brillantes Licht der Wahrheit“, die Abschaffung der (damals, 1842, preußischen) Zensur. [5]

 

Über die Gegenwart des Marxismus findet das neoliberale Magazin Focus hämischen Spott : „Die modernen Diktatoren des Proletariats heißen Putin und Xi. Deren Regime hat Marx kunstvoll gerechtfertigt: Der Proletarier ist in seinem jammervollen Alltag als Ausgebeuteter derart mit dem Management seiner Entfremdung beschäftigt, dass eine Klasse der Schauenden und Wissenden ihm die Arbeit der proletarischen Revolution abnehmen muss. Und so entwickelten die real existierenden Kommunisten aus dem Kommunistischen Manifest das Politbüro und den lupenreinen Führer.“ [6] Das ist erstens fast schon richtig, und zweitens hat der Autor Nordkoreas Kim Jong-un vergessen. Dem Artikel ist aber auch zu entnehmen, wie sehr dem Neoliberalismus „was in den vergangenen Wochen an unverhohlener Ehrerbietung für Marx zu lesen und zu hören war“ [7] ein Dorn im Auge ist.

 

Das verlockt freilich zur Neuausrichtung und Intensivierung des Flirts mit dem Werk des deutschen Philosophen. Dieser neue Annäherung darf sich dabei allerdings nicht wieder zu einem Ismus verklumpen. Slavoj Žižek erinnerte kürzlich in einem Interview: „Sie wissen, dass Marx selbst bereits sagte: ,Eins ist sicher, ich bin kein Marxist‘.“ [8] Und in einem kleinen Essay über das Kommunistische Manifest schreibt Žižek: Die „einzige Art, Marx heute treu zu bleiben“ bestehe „darin, nicht mehr länger ,Marxist‘ zu sein, sondern Marx’ begründende Geste auf eine neue Weise zu wiederholen.“ [9] Dafür ist die Zeit gerade richtig, denn die realpolitische Linke ist zum Gartenzwerg geschrumpft, und ein anschwellender Teil der Kulturlinken gibt sich gerade mit ihrem kleinkarierten Verbots- und Korrektheits-Philistertum der Lächerlichkeit preis.

 

Für das Konzept „Revolution“ sieht es derzeit, 170 Jahre nach den Aufständen von 1848, als Marx und Engels ihr Kommunistisches Manifest publizierten, ohnehin nicht sonderlich gut aus. Heute, sieben Jahre nach Ausbruch des so traurig hingegangenen „Arabischen Frühlings“ und bis dahin einer überwiegend blutigen und totalitären Geschichte von Revolutionen, ist klar: Die Idee des Umsturzes selbst muss umgestürzt werden. An die Stelle der immer wieder gescheiterten initiativen Revolution könnte in Zukunft möglicherweise eine emanative Revolution treten. An Stelle von Blutvergießen die anwachsende Verweigerung und Veränderung, anstatt totalitärem Oktroyieren rigider Schablonen die intelligente und permanente Reformulierung und Umformung.

 

Das erfordert allerdings harte diskursive Vorarbeit. Slavoj Žižek meint: „Vielleicht haben wir die Welt zu schnell radikal zu verändern versucht, ohne genug darüber nachzudenken, ohne wirklich zu wissen, was wir tun. Vielleicht ist es Zeit, einen Schritt zurück zu tun, und sie besser zu interpretieren.“ [10] Eine fabelhafte Einsicht. Sie kommt halt etwas spät und noch viel zu bescheiden daher. Denn ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa – das Gespenst des Populismus. Der „verrückte Tanz kapitalistischer Dynamik“ [11] hat eine ekstatische Dimension erreicht, die der Philosoph Christoph Henning so erklärt: „Der Datenkapitalismus hat unheimlich viele sexy Seiten. Große Firmen haben mehr Macht als je zuvor, Staaten, die versuchen, irgendwie zu lenken, besitzen weniger Macht als je zuvor, und die Leute, die dem ausgeliefert sind, haben eine Bereitschaft entwickelt, sich dem freiwillig zur Verfügung zu stellen. Die Rede ist vom ,Prosumer‘: Man konsumiert und produziert dabei.“ [12]

 

Dem Prosumertum allerdings, das Information von Wissen und Bildung von Ausbildung nicht mehr unterscheiden kann, sind Diskursarbeit und die dazugehörende Kunst des Denkens zwei ausgemachte Gräuel. Was also tun? Zwei Vorschläge: erst einmal Lenin vergessen und dann „sich aus den [kapitalistischen] Kreisläufen rausziehen“, [13] wie Henning in einem TV-Interview gerade noch sagen konnte, bevor ihm die Moderatorin das Wort abschnitt. Der Optimismus jedenfalls ist Denkern wie ihm und Žižek abhanden gekommen. Letzterer immerhin macht seinen Leserınnen Mut – wenn auch bloß den der „Hoffnungslosigkeit“. [14] Der 5. Mai 2018 war ein herrlicher Samstag. Und schon ist er wieder vorbei. Auch in der dystopischen Volksrepublik China, die sich das heute demokratisch regierte Taiwan lieber heute als morgen einverleiben würde.

Fußnoten:

  1. ^ Zit. aus Deutsche Welle vom 4. 5. 2018, „China feiert 200. Geburtstag von Karl Marx“: http://www.dw.com/de/china-feiert-200-geburtstag-von-karl-marx/a-43650852.
  2. ^ Zit. aus derStandard.at vom 23. 4. 2018, „China will Cyberspace weltweit kontrollieren“: https://derstandard.at/2000078428302/China-will-weltweite-Regulierung-des-Cyberspace?ref=rec.
  3. ^ Ibid.
  4. ^ Ibid.
  5. ^ Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke. Bd. 1. Berlin: Dietz Verlag 1981, S. 3ff.
  6. ^ Zit. aus Focus, Ulrich Reitz, Kolumne Angespitzt vom 5. 5. 2018 : https://www.focus.de/politik/deutschland/angespitzt-kolumne-von-ulrich-reitz-statue-aus-china-warum-tut-trier-es-sich-an-marx-derart-monstroes-zu-wuerdigen_id_8880266.html.
  7. ^ Ibid.
  8. ^ Zit. aus der Sendung Kulturzeit, 3sat, vom 2. 5. 2018.
  9. ^ Engels, Friedrich; Marx, Karl; Žižek, Slavoj: Das Kommunistische Manifest. Die verspätete Aktualität des Kommunistischen Manifests. Frankfurt/Main: Fischer 2018, S. 56.
  10. ^ Zit. aus der Sendung Kulturzeit, 3sat, vom 2. 5. 2018.
  11. ^ Engels, Friedrich; Marx, Karl; Žižek, Slavoj: Ibid., S. 7.
  12. ^ Zit. aus der Sendung Kulturzeit, 3sat, vom 2. 5. 2018.
  13. ^ Ibid.
  14. ^ Vgl. Žižek, Slavoj: Der Mut der Hoffnungslosigkeit. Frankfurt/Main: S. Fischer 2018.

 

(5.5.2018)