Gegen den Boss vom Bosporus

WIE RECEP TAYYIP ERDOĞANS MEDIALE PERFORMANCE DIE WESTLICHE DEMOKRATIE STÄRKT

Von Helmut Ploebst

„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Diese Worte nach einem Gedicht des türkischen Poeten Ziya Gökalp hat Recep Tayyip Erdoğan am 6. Dezember 1997 auf einer Veranstaltung gerufen. Sie sind auch die Schlusssätze eines Anfang März präsentierten Propagandafilms über den Präsidenten: Reis (türk. „Oberhaupt“, „Chef“, „Boss“) von Hüdaverdi Yavuz.

 

In Europa sollte man aus historischer Erfahrung wissen, dass die Worte eines angehenden „Führers“ hinsichtlich seiner politischen Mittel und Ziele unter allen Umständen ernst zu nehmen sind. Erdoğan will Alleinherrscher über die Türkei sein und braucht die Legitimation der Bevölkerung. Der Weg zur Abstimmung der türkischen Bevölkerung am 16. April 2017 verläuft lärmig, denn der Ausgang dieses Verfassungsreferendums könnte knapp werden. Dem Meinungsforschungsinstitut Gezici zufolge hätten im Jänner 58 Prozent der Abstimmungsberechtigten gegen die Verfassungsänderung zugunsten Erdoğans votiert. [1] Daher wirbt der Diktator mit hoher verbaler Aggressivität auch unter den türkischen Mitbürgerınnen anderer Länder um Stimmen. Diese können bereits jetzt, ab dem 27. März, votieren.

 

Dabei stellt sich die Frage, warum Erdoğan meint, er hätte ausgerechnet von den rund 2,8 Millionen wahlberechtigten Auslandstürkeınnen – davon annähernd 1,5 Millionen in Deutschland – einen Vorteil zu gewinnen. Die Antwort: Dort überwiegen seine Anhängerınnen. „Bei der Parlamentswahl vom November 2015 kam Erdogans AKP in den Niederlanden und Belgien auf 69 Prozent, in Österreich auf 68, in Deutschland auf 59 und in Frankreich auf 58 Prozent – gegenüber 49,5 Prozent in der Türkei“, schreiben die Stuttgarter Nachrichten. [2]

 

Nicht erfüllte Integrationsaufgaben

 

In Deutschland könne, meint Haci-Halil Uslucan auf Zeit Online, „die AKP […] mit einer Unterstützung von rund 60 Prozent rechnen. Viele der hier lebenden Türken sind konservativ und religiös eingestellt und stehen deshalb der konservativ-islamistischen türkischen Regierungspartei nahe.“ [3] Einen Grund dafür sieht der deutsche Migrationsforscher und Professor für Moderne Türkeistudien von der Uni Duisburg-Essen darin, „dass die erste Generation der türkischen Gastarbeiter meist aus zurückgebliebenen ländlichen Regionen der Türkei kam und eine konservativ-islamische, autoritäre Haltung mitbrachte. Die pflanzt sich in ihren Familien oft bis heute fort.“ Den anderen Grund formuliert Uslucan am Ende seines Artikels diplomatisch so:

„Der deutschen Politik fällt als Konsequenz eine äußerst wichtige integrationspolitische Aufgabe zu: Sie muss die Zugewanderten ansprechen und zur politischen Partizipation hier, wo sie leben, ermuntern. Sie muss ihre staatsbürgerliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung voranbringen, damit Solidarpotenziale mit den Menschen hier, in ihrer unmittelbaren Lebenswelt, ausgebaut werden. Und damit sie weniger anfällig werden für demokratiegefährdende, autoritäre Tendenzen.“

Mit anderen Worten: Weil all dies nicht schon längst geschehen ist, steht jetzt in europäischen Ländern mit entsprechend relevantem türkischstämmigen Bevölkerungsanteil ein autoritärer Politiker hoch im Kurs. Die politische Verantwortung dafür verteilt sich auf die unentschlossenen europäischen Regierungen der vergangenen vierzig Jahre. Aber nicht nur auf diese, sondern auch auf die Hetzpolitik rechter Parteien, auf jene Teile der Bevölkerung, die diese unterstützen, sowie auf einen Teil der Linken, der anstatt sozialer Integrationsinitiativen nur rhetorischen Moralismus liefert.

 

In der Wahrnehmung vieler türkischer Migrantınnen hat sich ein wechselseitiges Verhältnis auf Augenhöhe nie ergeben. Über die Ursachen dafür wird nun seit Jahrzehnten geredet. Doch die entsprechenden Debatten mussten schwierige Terrains aus politischen Diskursen in den Migrations-Zielgesellschaften durchlaufen. Deren wirtschaftliche Prosperität fand in kontaminierten ideologischen Klimata statt: Die Befreiung der politischen Diskurse von Ideologemen aus der Zeit des Kolonalismus, der verschiedenen Faschismen und des Nationalsozialismus war noch keineswegs abgeschlossen, als in den 1970er Jahren „Gastarbeiter“ aus der Türkei und anderen südlichen Ländern geholt wurden.

 

Der westliche Opportunismus

 

Dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gab es immer noch Verunsicherungen hinsichtlich der kulturellen Identitäten in einem durch den Eisernen Vorhang geteilten Europa. Deren Westen geriet in die Einflusssphäre der konsumistischen und rassistischen Unterhaltungsmaschinerie von Hollywood, die den europäischen Markt bis heute „kolonisiert“. Was sich wie eine Befreiung vom Muff der deutschen und österreichischen Volkskulturseligkeit aufführte, war auch eine Propagandastrategie der US-amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie.

 

Lediglich Frankreich wehrte sich dagegen und wird dafür bis heute vom amerikanischen Spektakelsystem gemobbt. Während des Wiederaufbaus der europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Gesellschaften des Südens imperformativ oder wurden wahlweise mit verklärten oder abfälligen Stereotypen versehen. Migrantınnen aus dem Süden jedoch waren auf allen Ebenen geringgeschätzt. So hat der Westen die Chance versäumt, seine neu erwachende Aufgeklärtheit zu erproben und zu praktizieren. Daher geriet er in den Ruf der Bigotterie und der Arroganz.

 

Die Antwort auf die Frage, warum das so geschehen konnte, liegt in einer opportunistischen Ambivalenz des Westens. Dessen Gesellschaften befanden sich auch nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs in permanentem Stress – bedingt durch den Kalten Krieg, ständigen Wirtschaftsalarmismus, innere ideologische Zwistigkeiten, tatsächliche oder suggerierte Krisen, die Inkonsistenz und Gegenläufigkeit der sozialen und kulturellen Entwicklung. Für jene, die dazukamen, war weder Zeit noch Interesse, denn Europa war dabei, die Traumata zweier Weltkriege zu kompensieren, die es selbst ausgelöst hatte, den Zusammenbruch der alten aristokratischen Systeme, die Zwischenkriegs-Wirtschaftskrisen, die kulturellen Verwüstungen des Nationalsozialismus und den Holocaust.

 

Grenzenlos vergiftet

 

Kompensation ist nicht Verarbeitung. Trotzdem wäre im Westen politischer Fortschritt möglich gewesen, hätte nicht ein neues ideologisches System die westliche Verunsicherung genutzt – jener Neoliberalismus, der die Konsumfreude der Wiederaufbauzeit, die postmoderne kulturelle Ambivalenz und schließlich eine technologische Revolution dafür nutzte, die politische Sphäre mit Logiken einer grenzenlosen Marktwirtschaft zu vergiften. Unterstützt wurde die Dominanz der neoliberalen Ideologie durch eine von der digitalen Revolution ausgelöste gesellschaftliche Betäubung. Der „Digital Turn“ brachte eine alles relativierende mediale Revolution mit sich, in der es dem Neoliberalismus gelang, völlig ungehindert den Rückbau der europäischen Sozialstaaten durchzuführen.

 

Da befinden sich die Gesellschaften nun: in einer hochakzelerierten Spektakelmaschine, die alles erfasst und ignoriert zugleich. An die Stelle der „großen Erzählungen“ – darunter jener der Aufklärung – sind konsumistische Performative getreten, die nicht den erfüllenden Ersatz für diese übergreifenden Erzählungen, sondern deren entleerendes Gegenteil bilden. Die neoliberalen Performative dekonstruieren und reformulieren alle kulturellen Erzählungen zu einer großen Werbeveranstaltung – für sich selbst. Nur Profiteure dieses Systems halten diese Simulakren noch für „Kultur“. Nun aber könnten die Konflikte der liberalen europäischen Demokratınnen mit den „Anderen“ – dazu zählen neben Erdoğan unter anderen Marine Le Pen, Geert Wilders, Viktor Orbán, die FPÖ, die AfD und Jarosław Kaczyński ebenso wie der IS oder Putin und Trump – Europa aus seiner Paralyse wecken.

 

Dabei ist die Herausforderung des Recep Tayyip Erdoğan ein überaus spannendes Signal. Dieser Präsident hat seine Selbstdarstellung vor den eigenen Anhängerınnen und vor den Europäerınnen gut im Griff. Er mimt den strengen Volksvater, aber auch einen David, der den Goliath Europa mutig attackiert. Sogar sein Rückzieher hinsichtlich der umstrittenen Wahlkampfauftritte in Europa stellt ein geschicktes Manöver dar, kam er doch mit der Drohung daher: „Wenn ihr euch weiterhin so benehmt, wird morgen kein einziger Europäer, kein einziger Westler auch nur irgendwo auf der Welt sicher und beruhigt einen Schritt auf die Straße setzen können.“ [4] Dieser Knigge soll wie Balsam auf die Seelen seiner gekränkten Anhänger wirken. Und die Reaktionen auf seinen Nazi-Vergleich [5] quittierte der „Reis“ volkstümlich mit den Worten: „Solange sie Erdoğan einen Diktator nennen, werde ich sie weiterhin genau mit diesen Begriffen anreden. So einfach ist das.“ [6]

 

Einen „Reis“ dämpfen

 

Nicht wirklich kompliziert ist es auch, die Verbindung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem darzustellen: Selbstverständlich handelt Erdoğan wie ein Diktator, und die im Westen übliche diplomatische Rede vom „Präsidialsystem“ ist eine systematische Verharmlosung einer brutalen Unterdrückung, die Oppositionelle, Journalistınnen, Künstlerınnen und Akademikerınnen unter seiner bisherigen Regentschaft erfahren. Zu den Synonymen für den Begriff Diktator zählen Tyrann, Despot, Gewalt- oder Alleinherrscher. Man hat die Wahl.

 

Für das Spektakel als Stimuli vermarktendes System jedenfalls ist Erdoğans Performance unbezahlbarer Treibstoff, und für jeden Despoten ist dieses treibende und getriebene System erst einmal ein Segen. Noch hat der Tyrann die Solobühne für sich, und das Publikum wird von der großen Medienmaschine aufregend durchmassiert. Im Gesamtkontext der globalen politischen Dynamiken erlebt der „Westen“ gerade ein – wenn auch abgründiges – Non-Fiction-„Festival“. Darin ist jedes Stück für sich spannend, und in der Gesamtschau ergibt sich der Suspense aus der Unvorhersagbarkeit des Ausgangs.

 

Letztendlich aber trifft jeden Gewaltherrscher eine Störung seiner notwendig hermetischen Performance empfindlich, denn jede Art von Totalitarismus gleich welcher ideologischen Provenienz giert nach dem Erhabenen. Um diese Schwäche zu nutzen, genügt die einfache Satire allein nicht. Wirklich provokant wirkt eine Stimmung der Angstfreiheit ohne triumphierendes Gehabe. Diese performativen Dynamiken sind immersiv, und es wird sich zeigen, ob der Popanz ins Leere läuft oder die Demokratie, und ob es gelingt, den narzisstischen „Reis“ so lange zu dämpfen, bis er weich ist. Und das beim parallel ablaufenden Versuch, die Opfer des Unterdrückers zu unterstützen, wo es nur geht – symbolisch wie praktisch, mit langem Atem und ohne dabei zu vergessen, an der Despektakularisierung des maroden europäischen Systems und der Dekonstruktion des Neoliberalismus zu arbeiten.

 

Die gute Nachricht ist, dass all dies gerade jetzt bereits passiert. Zwar erst in Ansätzen und begleitet von depressiven Verstimmungen, aber es ist ja auch ein sehr großes, sehr düsteres „Festival“, in dem vieles umbesetzt werden muss: nicht nur Erdoğan, sondern auch Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Wladimir Putin, Donald Trump, Geert Wilders, die FPÖ, die AfD und der Front National (die Liste wäre leicht zu erweitern). Das gibt den im Neoliberalismus orientierungslos gewordenen Demokratınnen die Chance, endlich – hier nicht mit Rilke, sondern mit Peter Sloterdijk gesprochen – ihr Leben zu ändern. Es wird sich lohnen. Der vom „Reis“ missbrauchte „Zug der Demokratie“ kann Diktatoren auch überrollen, wenn viele dafür sorgen, dass er auf seinem Gleis bleibt.

Fußnoten:

  1. ^ Quelle: http://www.focus.de/politik/ausland/abstimmung-ueber-praesidialsystem-in-tuerkei-was-wenn-erdogans-traum-im-april-platzt_id_6689856.html (22. 2. 2017; zuletzt eingesehen: 24. 3. 2017)
  2. ^ Quelle: http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.verfassungsreferendum-erdogans-grundgesetz.918140b9-c30f-46a0-a8db-2edb9dd41694.html (21.3.2017; zuletzt eingesehen: 24. 3. 2017)
  3. ^ Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/referendum-tuerkei-akp-regierung-recep-tayyip-erdogan-demokratie/ (8. 2. 2017; zuletzt eingesehen: 24. 3. 2017)
  4. ^ Am 22. 3. 2017, zit. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nach-drohung-von-erdogan-bestellt-eu-tuerkischen-botschafter-ein-14938912.html (zuletzt eingesehen: 24. 3. 2017)
  5. ^ „Aus Verärgerung über die Absage von Wahlkampfauftritten türkischer Minister hat Präsident Recep Tayyip Erdogan den deutschen Behörden "Nazi-Praktiken" vorgeworfen. "Eure Praktiken unterscheiden sich nicht von den früheren Nazi-Praktiken", sagte er in einer Rede in Istanbul. Er hätte gedacht, diese Zeit sei in Deutschland längst vorbei - "wir haben uns geirrt", fügte er hinzu.“ (Quelle: Spiegel Online, 5.3.2017: http://www.spiegel.de/politik/ausland/recep-tayyip-erdogan-wirft-deutschland-handlungen-wie-in-der-nazi-zeit-vor-a-1137389.html)„Stunden später legte der türkische Präsident mit einer weiteren Bemerkung sogar noch nach. ,Ich habe gedacht, der Nationalsozialismus in Deutschland ist vorbei, aber er geht noch immer weiter‘, sagte er am Sonntagabend in Istanbul nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.“ (Quelle: Spiegel Online, 6.3.2017: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/erdogans-nazi-vergleich-wie-die-deutsche-politik-reagiert-a-1137435.html; zuletzt eingesehen: 27. 3. 2017)
  6. ^ Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-03/tuerkei-referendum-recep-tayyip-erdogan-nazi-vergleich (24. 3. 2017; zuletzt eingesehen: 24. 3. 2017)

 

27. 3. 2017