„Anything goes“ als Rechtspopulismus

Wider den Methodenzwang versus Aufstand gegen die Fakten

Von Michael Hagner

Man stelle sich vor: Die Herren Trump, Putin und Berlusconi sitzen in angeregter Atmosphäre beisammen und diskutieren. Zigaretten, voller Aschenbecher, Bücher und schwarze Rollkragenpullover lassen sie als typische Intellektuelle des vergangenen Jahrhunderts erscheinen. Zeitpunkt: Postmoderne. Unterm Aschenbecher liegt Jean Baudrillards Agonie des Realen, auf Trumps Oberschenkel balanciert ein Band mit dem Titel Anything Goes!. Ein solches Buch gibt es nicht, aber man weiß sofort: Es ist die Quintessenz der anarchistischen Wissenschaftstheorie, die Paul Feyerabend in seinem Buch Against Method (dt.: Wider den Methodenzwang) entwickelte. Man wird Trump kaum zu nahe treten mit der Vermutung, dass er Feyerabends Buch Werk nie in der Hand gehalten hat. Also muss es etwas anderes als Trumps Lesefähigkeit sein, das die Zeitschrift Die Zeit am 15. 12. 2016 darauf gebracht hat, eine Karikatur mit dem beschriebenen Bildmotiv unter dem Titel „Sogar kontrafaktisch: Berlusconi, Putin und Trump beim Lesen“ zu publizieren.

Aus „Die Zeit“ vom 15. Dezember 2016, S. 70; die Zeichnung stammt von Studio Pong.                                                                 Scan: corpus

 

Anything goes – ein verführerisches Zauberwort, das nicht selten gegen einen allgemein verbindlichen Anspruch auf Wahrheit und die Gültigkeit von Fakten, also gegen die Wissenschaften und bestimmte Richtungen der Philosophie, angeführt wurde. Allgemein gewendet, könnte die Maxime lauten: Lass dir von keiner Elite vorschreiben, was du zu denken hast. Du darfst sagen, was du willst, und du darfst es überall verbreiten. Zeitpunkt: unsere digitale Gegenwart. Sind die schamlosen Produzenten von Lügen, Nonsens und Bullshit folglich gelehrige Schüler eines Helden der Postmoderne und seines „Anything goes“? Wiederholt sich die von den selbsternannten Verteidigern der Wissenschaft vielfach beklagte epistemologische Tragödie des Relativismus nun als postfaktische Farce, in der Rationalität, Argument und Vernunft endgültig zu Grabe getragen werden? Verlieren die Wissenschaften – und zwar alle Wissenschaften – jenen Kredit, der ihnen über einen langen Zeitraum eine autoritative Ausnahmestellung bei der Erzeugung von Wissen zugebilligt hat?

 

Es ist keine Neuigkeit, dass alte und neue Realisten der Postmoderne vorwerfen, mit ihrer Verabschiedung von Vernunft und Wahrheit gegen ihre ursprünglich emanzipatorischen Intentionen politisch reaktionäre Entwicklungen zu bedienen. Nun dachten wir, die Postmoderne sei längst vorbei, doch in den vergangenen Monaten, da die Ereignisse sich überschlagen haben, hat es nicht an aufgeregten Kommentatoren gefehlt, die ziemlich unsortiert Postmoderne, Postkolonialismus, Gender Studies, Intellektuellen, Linken und den Kulturwissenschaften Mitschuld am Rechtspopulismus, an Trump, am Postfaktischen und überhaupt an der Weltlage gegeben haben.

 

Oftmals hat die Wissenschaft keine allzu gute Figur gemacht

 

Man braucht sich durch solche Rundumschläge aus Frustration und Ratlosigkeit nicht angesprochen fühlen, um sich das Verhältnis von Wissenschaft und Wirklichkeit, liberaler Demokratie und illiberalem Populismus einmal mehr zu vergegenwärtigen. Seien wir ehrlich: Die Wissenschaften haben in jüngerer Vergangenheit oftmals keine allzu gute Figur gemacht.

 

Wer könnte bestreiten, dass der akademische Kapitalismus der letzten Jahre die Wissenschaften näher an die (ihnen ohnehin nicht ganz fremden) Kategorien von Macht, Interessen, Opportunismus, Branding und Showbusiness gerückt hat? Betrug und Fälschung, nicht replizierbare Experimente, Unterdrückung von unliebsamen Forschungsergebnissen, haarsträubende, politisch folgenreiche Fehleinschätzungen der Wirtschaftswissenschaften und der Meinungsforschung – das Sündenregister ist nicht gerade klein und ließe sich leicht verlängern. Folgt daraus, den Anspruch auf Wahrheit fahren zu lassen und sich damit zu begnügen, dass wissenschaftliche Erkenntnis historisch bedingt und durch Werte, Interessen und Machtverhältnisse kontaminiert ist? Zweifellos hat die Wissenschaftsgeschichte genügend Beispiele für die Plausibilität dieser Einschätzung gesammelt, aber wenn das alles ist, muss man auch hilflos mit ansehen, dass eine solche Historisierung sich für eine Delegitimierung des Wissens tout court instrumentalisieren lässt.

 

Wer allzu schnell in die Rede vom postfaktischen Zeitalter einwilligt, hat den Anspruch, methodische, empirische und theoretische Anstrengungen zu unternehmen, um Hypothesen zu formulieren, die plausibler sind als andere, von vornherein aufgegeben. Scheitern ist dann nicht mehr möglich. Denn das Postfaktische kennt – wie der Bullshit – keine Zweifel oder Irrtümer, weiß immer schon Bescheid und ist dementsprechend gegen Kritik immun. Unter diesen Bedingungen ist Wissen eine Marionette der Macht, und das ist etwas sehr anderes als die immer wieder neu zu stellende Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Macht. Darum geht es auch jetzt: Der Populismus attackiert die Wissenschaften als Bestandteil eines elitären Establishments, gegen das sie aufbegehren. Genau das ist der Punkt, an dem die Rhetorik eines Donald Trump und der fundamentalistisch verblendeten Kreationisten und Leugner des Klimawandels mit der anarchistischen Wissenschaftstheorie eines Paul Feyerabend aufeinandertreffen. Konvergieren sie auch? Wie gerechtfertigt ist es, Feyerabend Trump in den Schoß zu legen?

 

Demokratischer Wissenspluralismus

 

Zweifellos war Feyerabends Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie – so der Untertitel des Buches – gegen das Establishment gerichtet, gegen die Wissenschaftstheorie im Speziellen und gegen die damals noch von unbeirrtem Fortschrittsoptimismus geprägten Naturwissenschaften im Allgemeinen. Sein Angriff richtete sich weniger auf deren Forschungspraxis als auf ihr epistemologisches Selbstverständnis. Beispiel: Wenn irgendeine Wissenschaft meint, sich auf wenige theoretische Prinzipien à la Karl Poppers Falsifikationismus beschränken zu müssen, betrügt sie sich entweder selbst, oder sie bleibt unter ihren möglichen Erkenntnispotentialen. Wissenschaftler müssen epistemologische Opportunisten sein, um einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen. Dieser Opportunismus bedeutet nicht Abwesenheit von Methoden, sondern einen freien Umgang mit ihnen, ohne dass die eine einen kategorialen Vorrang vor der anderen hätte: Quantenphysik ist der Astrologie an Erklärungskraft nicht grundsätzlich überlegen, sondern beide sind inkommensurabel miteinander. Deswegen können beide friedlich nebeneinander her existieren. Letztlich bleibt die einzige Methode, die den anderen prinzipiell übergeordnet ist, das besagte „Anything goes“ – tu was du willst –, das in der Weise zu verstehen ist: Wenn das eine nicht funktioniert, dann versuch das andere. Und wenn du mit astrologischen Tabellen zufrieden bist, dann ist das auch in Ordnung.

 

Die politische Agenda dieses demokratischen Wissenspluralismus war nicht zu übersehen. Nicht in der klassifizierenden Einordnung und Hierarchisierung, Einbeziehung und Ausschließung der Phänomene, sondern in einer horizontalen Nebeneinanderstellung sollen Wissenschaft und Magie, Traum und Realität, Menschen und Götter die Vielfalt einer lebenswerten Welt ausmachen. Das klingt erst einmal gut und entspricht in vielen Fällen auch der demokratischen Wirklichkeit: In religiösen Fragen darf ebenso wie in Fragen der Geschlechtszugehörigkeit jeder nach seiner Façon selig werden; jeder kann für sich selbst entscheiden, ob er sich bei Entzündungen antibiotisch oder homöopathisch behandeln lässt. Die Frage ist nur, ob man Göttern und Atomen, antibiotischer und homöopathischer Therapie den gleichen Realitätsstatus zubilligt.

 

Für Feyerabend war das kein Problem. Wenn die Existenz von Viren oder Bakterien unabhängig ist von ihrer wissenschaftlichen Erforschung (auch wenn wir ohne Wissenschaft nichts von ihnen wüssten), kann dasselbe auch für die homerischen Götter oder die Wirkung von Regentänzen gelten. Die Tatsache, dass sie sich bisher nicht direkt bei uns gemeldet haben – bei den meisten jedenfalls – beziehungsweise dass ihre Effekte nicht nachgewiesen worden sind, dürfe uns nicht zu der Annahme verleiten, dass sie nicht existieren. Dem möglichen Einwand, dass sich bestimmte Entitäten wie Viren oder Quarks unter der Bedingung von ihrer Geschichte trennen lassen, dass sie vernünftigen und plausiblen Operationen der Vernunft ausgesetzt worden sind, hält Feyerabend entgegen, dass damit die Gegenstände der Vernunft angepasst werden, und eigentlich sollte es doch umgekehrt sein.

 

Wieso soll sich die Vernunft den Regentänzen anpassen?

 

An diesem Punkt wird Feyerabends Argumentation heikel. Wieso eigentlich soll sich die Vernunft Gegenständen wie den Göttern oder den Regentänzen ohne Weiteres anpassen? Sie hätte nur dann guten Grund, es zu tun, wenn die Götter, was unwahrscheinlich ist, sich zeigen, oder wenn deren Existenz durch eine Reihe von kritischen Repräsentationen plausibel gemacht wird. Der Klimawandel hat sich den Klimatologen nicht einfach so offenbart, sondern es war und ist eine ganze Kaskade von Schritten notwendig, um dessen Existenz und Auswirkungen für die wissenschaftliche Gemeinschaft und die breitere Öffentlichkeit glaubhaft zu machen. Immerhin räumt Feyerabend ein, dass nicht die philosophische Betrachtung zum Maßstab von Evidenz und Realität gemacht werden sollte, sondern die wissenschaftliche Praxis. Mehr noch: Wissen und Erkenntnis existieren in der Geschichte wie Mutationen in der biologischen Evolution. Die einen setzen sich durch, die anderen sterben aus, weil sie sich den Gegebenheiten nicht genügend anpassen können.

 

Übertragen auf die Resilienz der wissenschaftlichen Praxis folgt daraus: Weil die Repräsentationen von Bakterien immer wieder zu stabilen und brauchbaren Erklärungsmustern geführt haben, gehen wir mit guten Gründen von der Existenz von Bakterien aus. Weil solche Repräsentationen bei den Marsmenschen oder den homerischen Göttern nicht funktionieren, gehen wir ebenfalls mit guten Gründen davon aus, dass es sich um Projektionen handelt. Wenn diese beiden Punkte nicht mehr auseinandergehalten werden, dann lässt sich zwangsläufig auch der Klimawandel als interessengeleitete Projektion abtun.

 

Dass wissenschaftliche Kategorien und Methoden keineswegs in alle Lebensbereiche sklavisch übernommen werden müssen; dass trotz aller (nun wahrlich interessengeleiteten) Beschwörungsformeln kein triftiger Grund besteht, die ganze Welt zu digitalisieren; dass in den Wissenschaften rhetorische, ideologische und implizite Elemente am Werk sind, die sie bisweilen gut zu verstecken verstehen – das wissen wir alles. Deswegen bleibt uns gar nichts anderes übrig, als einen wohlinformierten, nüchternen und kritischen Umgang mit den Wissenschaften und ihren Derivaten zu pflegen. Doch aus der Unvollkommenheit eines Wissenssystems die Gültigkeit eines anderen, viel weniger belastbaren Systems abzuleiten, ist in epistemologischer Hinsicht problematisch, weil damit das Verständnis für Unterschiede bei der Erzeugung von Erkenntnis verlorengeht. In politischer Hinsicht kann es verheerend sein, eben weil sich ein grassierender Rechtspopulismus des „Anything goes“ und der Bezeichnung von Wissenschaft als Mythos mit oder ohne Bezug auf Feyerabend bedient, um den ihm verhassten Blick auf die Welt zu denunzieren.

 

Der ausschlaggebende Unterschied

 

Der fröhliche erkenntnistheoretische Relativismus der siebziger Jahre konnte von der Wiederkehr des religiösen und politischen Fundamentalismus nichts ahnen. Aber heute ist er in Rechnung zu stellen. Zweifellos haben autonome Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie das Recht, sich derjenigen Wissensordnung anzuschließen, die sie für richtig halten. Doch Kritik am Kreationismus ist keine elitäre Diskussionsveranstaltung, wenn etwa das türkische Bildungsministerium plant, Darwins Evolutionstheorie aus dem Schulunterricht zu streichen. Sprachbewusstsein darf nicht auf gepflegte Kaffeehaus-Konversation beschränkt bleiben, wenn die AfD den Begriff des „Völkischen“ wieder hoffähig zu machen versucht. Statistiken über sinkende Kriminalitätsraten sind keine Erbsenzählerei, wenn sie von entsprechenden Hetzern diesseits und jenseits des Atlantiks mit dem Hinweis vom Tisch gefegt werden, dass das angeblich weit verbreitete mangelnde Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung relevanter sei als Zahlen.

 

Feyerabends „Anything goes“ steht im Zeichen eines erkenntnistheoretischen Anarchismus, der einer Unterwerfung jeglichen Machtanspruchs unter demokratischen Pluralismus dient. Anders gesagt: Bei Feyerabend bedingen Wissenschaftsphilosophie und die Theorie gesellschaftlicher Vielfalt einander. Die eine ist nicht ohne die andere zu haben. Diesen Ansatz kann man auch als politische Epistemologie bezeichnen. Das „Anything goes“ von Trump und Konsorten hingegen ist nur instrumenteller Art. Es steht im Zeichen eines kruden Willens zur Macht, dem es nicht um Vielfalt und Moderation von Interessen, sondern um Diktat und Polarisierung geht. Insofern ist die Karikatur mit Trump, Berlusconi und Putin bei der Lektüre nicht bloß „kontrafaktisch“, sondern verweist auf ein Problem, das das Bild selbst nicht einholen kann. Die Rebellion gegen den Methodenzwang ist mitsamt ihren Aporien Teil eines demokratischen Emanzipationsdiskurses, der bei aller Streitlust stets auf die Berücksichtigung unterschiedlicher Präferenzen und Mentalitäten achtet. Die Rebellion gegen die Fakten untergräbt die Demokratie, indem Fundamentalismus und Barbarei zum herrschenden Prinzip zementiert werden. Intellektuelle und wissenschaftliche Existenz schließt notwendig mit ein, sich gegen diese Zumutung in jeder Facette zur Wehr zu setzen.

 

(7.2.2017)