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„Tanzt und baut, sonst sind wir verloren“ – Teil 2
DOKUMENTARISCHE GESTEN ÜBER THEATER UND LEBEN IM KRIEG IN DER UKRAINE
TEIL 2
In Kyiv
27. September 2022
Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges in Kyiv. Die Stadt strahlt Ruhe und Sicherheit aus. An die Stelle derjenigen, die die Stadt verlassen haben, sind die Binnenflüchtlinge getreten. Dadurch wirkt die Stadtüberhaut nicht leer. Nur manche Plattenbauten sehen am Abend wie Gespenster aus - kein einziges Fenster ist beleuchtet. Auch die Denkmäler im Zentrum wirken gespenstisch: Sie werden von Sandsäcken gegen mögliche Raketenattacken geschützt, etwa das Mykola-Lysenko-Denkmal gegenüber Kyivs Opernhaus.
Zu meiner großen Freude höre ich, dass auffallend viel mehr Menschen als früher in der Stadt Ukrainisch sprechen. Für mich ist das wirklich ein großes Thema. In meiner Jugend war meine eigene Stadt mir ein bisschen fremd. Ich bin in einer ukrainischsprachigen Familie aufgewachsen, aber Ukrainisch war in Kyiv in den 1990er und den beginnenden 2000erJahren ziemlich selten zu hören. Ich erinnere mich an die Begeisterung, die ich empfand, als ich als 14-Jährige das erste Mal nach Lviv kam. Dort sprach man fast nur Ukrainisch. In der Westukraine war die ukrainische Sprache im Gegensatz zum Rest des Landes nie wirklich verboten. Zum Vergleich: Als die Ukraine Teil des russischen Kaiserreichs war, wurde die ukrainische Sprache ständig marginalisiert (Verbot des Buchdrucks auf Ukrainisch, Verbot von Theaterinszenierungen auf Ukrainisch etc.). Jetzt sollen sogar viele Binnenflüchtlinge aus dem Osten versuchen, auf Ukrainisch zu sprechen. Manche von ihnen sagen, dass sie mit der ersten Rakete, die auf ihre Stadt niedergegangen ist, beschlossen haben, zum Ukrainischen zu wechseln.
Kinohilfe
10.August 2022
Oleksiy Makulskyi ist ein Reporter des Projekts KINODOPOMOHA1), dessen Ziel es ist, die Kriegsereignisse zu dokumentieren, um der restlichen Weltzu zeigen, was in der Ukraine passiert. Damit, wie Oleksiy selbst sagt,„die zivilisierte Welt sieht, dass wir nichts erfunden haben, wie es die russische Propaganda vermittelt“.
Bei manchenFotos aus seinem Archiv, wie diese aus Butscha, weiß Oleksiy noch nicht, wie er sie bearbeiten soll, zu schmerzhaft ist die erneute Interaktion mit den Bildern. „Es ist schwierig zu fotografieren, ohne empathisch zu sein. Ich habe verstanden, dass die Kraft eines Menschen viel größer ist als man sich vorstellt. Das hat mich sehr gestärkt“, sagt Oleksiy. Eine große Hilfe war auch die ständige Kommunikation und Unterstützung der anderen Kolleg*innen aus dem Projekt KINODOPOMOHA.
Das Foto des zerstörten Flugzeugs „Mrija“ („Traum“) symbolisiert für Oleksiy das Chaos, das Russland zu erzeugen versucht, um die Ukraine zu erschrecken: „Dieses Flugzeug ist das Erbe der Sowjetunion, das in der Fabrik Antonov in der Ukraine gebaut wurde. Die Zerstörung dieses Flugzeugs ist ein Zeichen der bewussten Abwertung von dem, was zwei gleichberechtigte Staaten vereinigen könnte. Wenn wir uns hypothetisch vorstellen, dass Russland irgendwann anständig sein könnte. Aber ihr Kurs war immer imperialistisch.“
„Ich zeige euch die Negative“
17. Juli 2022
Jeden Tag sind wir mit der sogenannten Pornografie der Gewalt konfrontiert: Zahlreiche Fotos aus den Kriegsgebieten, die uns über die Grausamkeiten des Krieges informieren und gleichzeitig eine Gefahr in sich tragen, unsere Empathie und Empfindsamkeit abzustumpfen. Wie Susan Sontag in ihrem Essay On Photopraphy zutreffend formuliert: „Living with the photographed images of the suffering [...] does not necessarily strengthen conscience and the ability to be compassionate [...]. Once one has seen such images, one has started down the road of seeing more-and more. Images transfix. Images anesthetize.”2)
Oksana Karpovych ist eine ukrainische Dokumentarfilmregisseurin, die die Massaker von Butscha nach der Befreiung Anfang April dokumentierte. Sie beschrieb ihre Begegnung mit den Zeugnissen der Massenmörder, dessen Fragmente ich teilen möchte:
„Vorgestern und gestern waren wir in Butscha, ich habe Menschenleichen auf den Straßen gesehen. Das ist das Schrecklichste, was ich je im Leben gesehen habe, aber es ist mir auch bekannt. Die Leichen haben mich an die Fotos eines britischen Fotografen erinnert, der unsere Hungersnot im Jahr 1932/33 fotografierte. Man sieht verstreute Leichen und daneben gehen die Überlebenden vorbei, um ihre alltäglichen Dinge zu erledigen.
Diese erschossenen Menschen in Butscha sind während sie sich bewegten gestorben. Jemand ist Fahrrad gefahren, ein anderer ist gegangen. Kinetik, die leicht mit dem eigenen Leib nachempfunden werden kann. Jemand hat Kartoffeln getragen - es ist so alltäglich und menschlich. Ich hatte den Eindruck, dass alle sich gleichzeitig in verschiedene Richtungen bewegt haben und danach in Sekundintervallen gefallen sind. Leichen bleiben eine Weile liegen. Polizisten haben noch nicht alle gesammelt. Sie sollen fotografiert und protokolliert werden, bevor sie in die Leichenhalle transportiert werden. Und es gibt viele von ihnen. Meine Kolleg*innen haben gesagt: Vielleicht möchte ich nicht die Getöteten anschauen, aber ich wollte, um es zu wissen. Dieses Wissen kann mir niemand nehmen.
Als der Krieg begann, habe ich am meisten die Okkupation gefürchtet. Ich habe sie mir so vorgestellt, wie sie tatsächlich war. Ich hatte Angst vor Folter, Vergewaltigung, Hunger. Das alles ist schon passiert. Nicht mir, aber 35 km von meiner Stadt entfernt. [...]
Menschen, die Schrecken erlebt haben, wirken ein bisschen verrückt. Ich weiß nicht, wie ich ihren Blick beschreiben kann. Es ist, als ob sie nicht hier, sondern irgendwo anders wären. Etwas Fragmentarisches, an der Grenze.
Hinter dem Massengrab mit der Grube im Vordergrund, die voller Leichen war, stand ein Priester und gab allen geduldig Interviews. Es wirkte, als ob er ins Grab eingewachsen ist und immer die gleichen Geschichten bezeugte. Es gibt eine Nebenrolle in Kira Muratovas Film Kleine Leidenschaften, die alle versucht zu überzeugen, dass sie in Askania Nova mehrere Minotauren gesehen hat: ‚Ich zeige euch die Negative!‘ Der Priester hat mich an diese Nebenfigur erinnert. Er war in Butschaals alles passierte, als hier die Menschen begraben wurden. Seine Erzählung hat er immer mit den gleichen Worten beendet: ‚Es gibt eine Video auf der Seite unserer Kirche! Ich zeige Ihnen das Video!‘
Ich wollte länger in Butscha bleiben, um mir die Details zu merken und zu behalten. Wir sind immer in Eile mit Al Jazeera3). [...] Die Zeit der Fertigung der Negative und das Unterwegssein im Auto schützen mich vor dem Trauma. Diese Arbeit erlaubt mir alles zu sehen, aber sie gibt mir nicht die Zeit zu fühlen. ‚Menschen‘ - ist auf den Zäunen und Toren geschrieben. Ich habe ein Foto gemacht, ich zeige euch die Negative“4).
Neues Leben für Irpin
28. Juni 2022
Auf dem Foto ist österreichisches Pflanzgut zu sehen – Zucchini, Tomaten und Turbankürbis-ein Geschenk meiner Freund*innen aus Salzburg, die jetzt in der ukrainischen Erde in Irpin wachsen. Sie schrieben auf die Schachtel auf Ukrainisch: „Neues Leben für Irpin“ - ein solidarisches Geschenk, das meine Eltern vor ihrer Rückreise nach Kyiv bekamen.
Am zweitenTag des Angriffskriegs ist mein Vati aus Kyiv nach Irpin zu unserem Sommerhaus gefahren. Er dachte, dass es dort ruhiger wird und wollte Pflanzgut vorbereiten, da sich der Frühling näherte. Die S-Bahn, mit der er gefahren ist, war die letzte. Die Eisenbahngleise wurden in der nächsten Woche beschädigt. Bald gab es auch keinen Strom, kein Gas und kein Wasser mehr. Zusammen mit seinem Nachbar kochten sie draußen über Feuer und kümmerten sich um viele Katzen, die von ihren Besitzer*innen verlassen im Hof nach Essen und Freundlichkeit suchten. Ich versuchte ihn jeden Taganzurufen, aber es gab kaum eineVerbindung. Manchmal hörte ich kurz ein „Hallo“. Da wusste ich, dass er lebt und konnte aufatmen. Jeden Tag las ich hunderte Nachrichten in lokalen Chats und rief die lokalen Verteidigungsgruppen an, um herauszufinden, welche Straßen ruhig genug waren, um auf ihnen zu fliehen. Was ich herausgefunden hatte, sendete ich ihm als SMS,in der Hoffnung, dass er sie lesen können würde. Vati ist am 10. März aus Irpin geflüchtet. Drei Kilometer, eine Stunde zu Fußüber das Feld bis zum Evakuierungsbus.
Am 11.Mai, genau zwei Monate nach der Flucht, kam er nach Irpin zurück. Die Stadt wurde am 28.März befreit. Siebzig Prozent der Gebäude waren von Russen zerstört worden. Glücklicherweise war unser Haus nur teilweise betroffen: Durch eine Explosion sind die Glasfenster zerbrochen und das Dach wurde beschädigt. Das vor der Flucht vorbereitete Pflanzgut hat auch nicht überlebt. Nun sind die Zucchini, Tomaten und Turbankürbisse aus Salzburg im Garten gepflanzt, in der Hoffnung, dass wenn sie reif sein werden, die Ukraine diesen ungeheuren Krieg gewonnen haben wird.
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Fußnoten
1) KINODOPOMOHA in Übersetzung auf Deutsch bedeutet „Kinohilfe“.
2) Sonntag, Susan (2008): On Photography.
3) Oksana Karpovych arbeitete für den Nachrichtensender Al Jazeera.
4) Von Oksana Karpovychs Facebookseite