Das Gesicht des Krieges

WIE EINE JOURNALISTIN DEN KRIEG IN DER UKRAINE AUS DER FERNE BEOBACHTET

Von Petja Mladenova

„Krieg in Europa“:  Diese Worte schreibt mir am 24. Februar 2022 um 6.26 Uhr ein Bundesheer-Offizier. Ich spüre Angst, Trauer, Verunsicherung. Mein Magen zieht sich zusammen, ich bekomme Gänsehaut. Krieg? Was bedeutet das? Was wird aus uns werden, was wird aus der Welt werden? Ich höre und lese gleich zu Beginn Worte, die für mich bisher surreal waren: Atomwaffen, Weltkrieg, Weltuntergang. Wo kommt das plötzlich her? Wir haben noch nicht einmal die Corona-Krise hinter uns gebracht und jetzt sind wir schon im Dritten Weltkrieg?

 

Ich muss in den ersten Tagen nach dem 24. Februar 2022 oft innenhalten und in mich hineinhören. Ich hatte und habe noch immer Angst. Nicht so sehr um mich, ich mache mir Sorgen vor allem um die Zukunft meiner Kinder. In welcher Welt werden sie leben? Als ob die  Klimakrise mit ihren unabsehbaren Folgen nicht schon schlimm genug wäre, kommt jetzt auch noch Krieg dazu. Nach den zwei harten Corona-Jahren ist das einfach zu viel. Er ist schwer erträglich, es ist kaum zu begreifen. Dieser Krieg zerstört so viel, er ist so hoffnungslos. Er hat mit einem Schlag die ganze Weltordnung  verändert. Die Welt ist nicht mehr, was sie war und sie wird nie wieder die gleiche sein. Es gibt kein Zurück. Was immer kommen mag, die Zeit des großen Friedens ist für uns vorbei. Das ist mir heute – nach mehreren Monaten Krieg – klar.

 

Tauchgang in die Tiefen des Krieges

Am 25. Februar 2022 bekomme ich einen positiven Corona-Test. Ich muss mich von meiner Familie isolieren, nehme meinen Laptop und ziehe mich damit ins Schlafzimmer zurück. Ich sitze auf dem Bett, der Laptop auf dem Schoss. Ich darf das Zimmer für mindestens fünf Tage nicht verlassen,  tauche in den Krieg ein. Es sollte ein tiefer Tauchgang werden. In den kommenden Wochen und Monaten werde ich viele Experten (es sind nur Männer) kennen lernen und mit ihnen unzählige Gespräche über den Krieg führen. Wenn ich jetzt ins Archiv der Austria Presse Agentur, hier bin ich als Innenpolitik-Journalistin tätig, blicke, sehe ich, dass sie von Beginn gewusst haben, dass dieser Krieg gekommen ist, um zu bleiben. „Putin wird die Invasion zu Ende führen“ – so lautet die Überschrift eines meiner Interviews mit einem Militärexperten am 24. Februar 2022.

 

Das Militär ist eines meiner Spezialgebiete und ich schreibe seit 17 Jahren über dieses Thema. Seit dem 24. Februar bin ich auf viele neue Themen gestoßen, mit denen ich bisher nie zu tun hatte. Hunderte Geschichten lagen auf dem Boden. Ich wollte sie alle aufheben. Ich habe mich mit dem Kriegsrecht auseinandergesetzt, über den Häuserkampf geschrieben, über ABC-Waffen und ihre Wirkung: „Bei den chemischen Kampfstoffen unterscheidet man zwischen Nervenkampfstoffen, die zu einer Verkrampfung der Muskulatur führen; Hautkampfstoffen, die die Haut großflächig zerstören; Blut- und Lungenkampfstoffen, die die Atmung behindern; Psychokampfstoffen, die psychische Störungen (etwa Halluzinationen) verursachen und Reizkampfstoffen wie etwa Tränengas.“ – das habe ich am 25. März 2022 nach einem Gespräch mit einem Spezialisten des Bundesheeres für ABC-Waffen zur Papier gebracht. Dieses Wissen und die Bilder aus der Ukraine, die ich täglich konsumiere,  haben sich in mein Gehirn eingebrannt und sie kommen immer wieder. Manche von ihnen verfolgen mich Tage und Wochen.

 

Zu den nicht mehr löschbaren Einprägungen gehören die  thermobaren Raketen des Mehrfachraketenwerfers TOS und die erbarmungslose Vernichtung, die sie anrichten. Dieses Waffensystem wird „Putins Höllenmaschine“ genannt. Wo ein solcher thermobarer Sprengkopf einschlägt, herrschen im Umkreis von 25 Metern für eineinhalb Sekunden Temperaturen von 1.400 Grad Celsius. Die Luft brennt. Es entsteht eine extreme Druckwelle. Das hält kein Körper aus. Das sieht man auf Videos und Fotos aus den Schützengräben. Ich habe auch viele andere Videos gesehen, zu viele. Am Boden liegende Soldaten, mit geöffnetem Schädel, das Gehirn liegt daneben. Ich habe gesehen, wie Beine und Arme in die Luft fliegen. Videos aus dem Schützengraben, darüber schier endloser Beschuss. Schon das Zusehen tut weh, es ist unvorstellbar, wie die Soldaten und Soldatinnen vor Ort das aushalten.  

 

Zugegeben: Ich habe in wenigen Wochen unglaublich viel neues Wissen generiert. Ich kenne jetzt die Kiewer Russ [1], Wladimir Putins angebliches Weltbild, das eine Mischung aus Nazi-Ideologie, militanter Religionsauslegung und Wahnsinn zu sein scheint [2] und die militärische Welt-Unterteilung der USA. Ich habe zum Beispiel über die logistische Herausforderung eines Feldzuges recherchiert. „Russen brauchen 400 Tonnen Verpflegung pro Tag" – das ist der Titel einer Geschichte, die ich am 3. März 2022 geschrieben habe. Ich habe gelernt, dass Krieg keiner Logik folgt. Viele Menschen fragen mich nach meiner Einschätzung über den Ausgang des Krieges. Vernunftbegabte Menschen versuchen oft, sich die Ereignisse logisch zu erklären. Aber den Krieg kann man nicht logisch erklären. Der Krieg folgt einer Strategie und Taktik, aber er hat keine Logik.

 

Geschichten ohne Logik

Von jeglicher Logik verabschiedet haben sich auch viele meiner Verwandten. Sie sind aus Bulgarien. Auch ich wurde in Bulgarien geboren. Wir sind also „Slawen“, jene ethnische Bevölkerungsgruppe, die jetzt in aller Munde ist. Ich habe seit dem 24. Februar 2022 viel darüber nachgedacht und einiges über die Geschichte slawischer Völker gelesen. Und ich muss feststellen: Ich hatte durch meine Herkunft nie irgendeine Verbundenheit zu Ukrainern, Polen oder Tschechen. Ich hatte immer den Eindruck, oder besser gesagt das Gefühl, dass die Slawen im Norden nichts mit jenen im Süden zu tun haben.  Und nicht nur das: Bulgarien, Griechenland und die Türkei haben eine gemeinsame Geschichte. Das ist irgendwie logisch, wir sind Nachbarländer. Das gleiche gilt für Russland und die Ukraine.

 

In der Zeit des Kommunismus wurde der bulgarischen Bevölkerung eine Nähe zu Russland regelrecht eingetrichtert. Es gab in Bulgarien eine Erzählung – man kann es auch Gehirnwäsche nennen –, wonach Russland Bulgarien zwei Mal in der Geschichte vom Bösen befreit habe: Einmal vom osmanischen Reich, welches Bulgarien 500 Jahre lang beherrscht hat und einmal von den Nazis. Ich kenne diese Geschichte, ich habe sie als Kind ebenfalls erzählt bekommen. „Die Russen sind unser großer Bruder. Die Russen haben es immer gut gemeint mit den Bulgaren.“ – lauteten die Schlüsselsätze. Heute weiß ich, dass das so nicht stimmt. Aber die meisten Menschen in Bulgarien halten an dieser Erzählung fest.

 

Dazu gehören auch meine Verwandten. Bei ihnen wirkt die kommunistische Erziehung voll und ganz nach. Sie glauben tatsächlich, dass Russland in der Ukraine gegen Nazis kämpft, dass Russland bedroht war und diesen Krieg zur Selbstverteidigung beginnen musste. „Russland war gezwungen Krieg zu führen. Russland wurde vom Westen bedroht. Der Westen will Russlands Bodenschätze“, sagen sie. Oder: „Die Russen bombardieren Spitäler, weil sich dort die ukrainischen Soldaten verstecken. Die westlichen Medien lügen und zeigen nicht die Wahrheit.“ Sie haben die russische Propaganda ungefiltert aufgesaugt und verinnerlicht. Sie glauben, dass sie und nur sie die Wahrheit kennen und alle anderen verblendet sind. Es funktioniert wie bei allen Verschwörungstheoretiker*innen: Sie glauben, dass alle um sie herum zu dumm sind, die Wahrheit zu erkennen. Sie dagegen sind erleuchtet und durchschauen das böse Spiel, das von den heimlichen Mächten getrieben wird.

 

Dagegen kommt man kaum an. Es ist hoffnungslos. Ich habe in den ersten Wochen des Krieges so heftig mit manchen Verwandten gestritten, dass ich fast mit ihnen gebrochen hätte. Das habe ich aufgegeben. Gespräche über den Krieg werden um jeden Preis von mir vermieden. Gespräche über Corona sind auch tabu. Wenn ich die bulgarische Verwandtschaft  besuche, bereite ich meine Kinder darauf vor, auf keinen Fall über den Krieg zu sprechen. Mein Sohn fragt mich: „Und was mache ich, wenn sie damit beginnen?“ Ich antworte: „Ablenken! Nicht darauf eingehen, sofort ein neues Thema beginnen!“

 

Neue Beziehungen

Doch es gibt – wie immer im Leben – nicht nur Schlechtes. Ich habe im Zuge meiner Recherchen Offiziere des österreichischen Bundesheeres kennen gelernt, von denen ich viel Wissen aufgenommen habe. Die ersten Wochen nach dem russischen Einmarsch waren für mich wie ein Intensivkurs über Krieg und Strategie. Zu manchen habe ich Beziehungen aufgebaut und tausche mich mit ihnen regelmäßig aus. Einer dieser Menschen – ein Oberst – ist ein ausnehmend kluger Mensch. Und er ist mittlerweile ein Youtube-Star [3]. Seine Videos, in denen er hochprofessionell das Kriegsgeschehen erklärt, erreichen hunderttausende Menschen.

 

Er gab mir gleich zu Beginn den Rat, das Leid und den Schmerz „nicht in mein Herz zu lassen“. Das habe ich aber nicht geschafft. Am Anfang noch Ja, aber es ist schleichend gekommen. Es hat mich erfüllt und fast vollständig eingenommen. Es ist in mich eingedrungen, in meinen Kopf und in mein Herz. Ich habe mit vielen Menschen darüber gesprochen und einer davon hat mit gezeigt, wie man die quälenden Bilder aus dem Kopf bekommt: Man packt sie in Schachteln und schiebt sie zur Seite. Der Krieg hat Zerstörung hinterlassen. Und auch in meinem Kopf muss aufgeräumt werden. Ende Mai habe ich vom Ende der Welt geträumt. Es war finster. Es war niemand mehr da, nur ich und der Gott Thor. Er hatte ein Schwert, seinen Hammer und ein Zepter mit. Wir fuhren mit dem Auto, wir haben das Böse gesucht, um es zu zerstören und die Welt zu retten – nur, es war nichts mehr zu retten da. Es herrschte Finsternis. Alles war zerstört, alle waren tot. Die Welt lag in Schutt und Asche.

 

Ich frage mich immer wieder: Wer wird die unfassbare Zerstörung, die in der Ukraine angerichtet wurde und keine Ende zu nehmen scheint, aufräumen? Es türmen sich dort Berge aus Schutt und Asche, ganze Städte wurden dem Erdboden gleich gemacht. Überall liegen kaputte Panzer, Kanonen, Minen und Raketen herum. Wer wird die zigtausend Löcher in der ukrainischen Erde wieder zuschütten? Wer wird die Wunden des ukrainischen Volkes heilen? Kürzlich habe  ich ein Video von einem jungen russischen Soldaten gesehen. Er war noch ein Kind, keine zwanzig Jahre alt. Sein linker Arm war bis zur Schulter amputiert, der rechte bis über dem Ellbogen. Seine Kameraden haben ihm eine Medaille umgehängt und ihm ein Glas zu trinken hingegeben, ihn umarmt. Aber was macht er, wenn  die „Party“ vorbei ist und alle nachhause gehen? Was soll dieser Junge noch anfangen, er kann nicht alleine Essen und Trinken, er kann sich nicht einmal eine Zigarette anzünden. Was  kann er vom Leben erwarten? Er ist am Leben, aber er hat kein Leben mehr. Er ist nur ein grauenvolles Gesicht des Krieges.

Fußnoten:

  1. ^ https://de.wikipedia.org/wiki/Kiewer_Rus (zuletzt eingesehen am 2.8.2022)
  2. ^ https://taz.de/Der-russische-Faschist-Alexander-Dugin/!5836919/ (zuletzt eingesehen am 2.8.2022) 
  3. ^ https://www.milak.at/ausbildung/forschung-entwicklung/ukrainekrieg (zuletzt eingesehen am 2.8.2022)