„Tanzt und baut, sonst sind wir verloren“ – Teil 1

DOKUMENTARISCHE GESTEN ÜBER THEATER UND LEBEN IM KRIEG IN DER UKRAINE

Von Ielizaveta Oliinyk

Ielizaveta Oliinyk, writer in residence für Zeitenwende (Juni 2022-Februar 2023), hat mehrere Dokumentartheaterprojekte in der Ukraine inszeniert, einige von ihnen mit den Binnenflüchtlingen und einem Soldaten, der als Sanitäter seinen Militärdienst im Kriegsgebiet der Ostukraine leistete. Als freie Regisseurin realisierte sie außerdem Kinoprojekte. Seit vier Jahren arbeitet sie als Stipendiatin des interuniversitären Doktoratskollegs Die Künste und ihre öffentliche Wirkung (Paris-Lodron Universität Salzburg/Mozarteum) an einer Dissertation mit dem Titel Dokumentarisches Theater und gesellschaftliche Transformation: Zeitgenössisches Theater in der Ukraine.

 

Am 24.2. 2022 änderte sich von einem Tag auf den nächsten einfach alles, ihr Leben, ihr Alltag, ihre Forschung, ihre Theaterarbeit. Wie kann man in Zeiten des Krieges über Dokumentarisches Theater in der Ukraine schreiben? In ihrem in dokumentarischer Geste verfassten ‚Tagebuch‘ für Corpus lässt Ielizaveta Oliinyk an einer veränderten (Kriegs-)Realität teilhaben, in der Theater und Tanz eine ganz besondere Dringlichkeit bekommen.

 

TEIL 1

Tanzt und baut, sonst sind wir verloren

29.12.22

 

Der Wiederaufbau von zerstörten Häusern in der Tschernihiw Region mit Rave Musik ist eine Initiative des Projekts Repair Together, das hunderte Menschen vereinigt. Dieses Projekt begann als eine private Initiative von einigen Freund*innen, die in de-okkupierten Gebieten kleinere Renovierungen mit eigenen Händen gemacht haben: Sie verglasten Fenster, fixierten Dächer und renovierten die Innenräume von beschädigten Häusern. Sie fragten Bauern, was sie benötigen und versuchten deren Bedürfnisse zu erfüllen. Oft brauchten die lokalen BewohnerInnen Dinge, die russische Soldaten ihnen entwendet hatten: Werkzeuge, Küchensachen, Haushaltsgeräte.

 

Zum Fokus der Aktivist*innen wurde Tschernihiw, eine Region, die weniger Medienaufmerksamkeit im Vergleich zum Gebiet Kyiv bekommen hat und folglich weniger Hilfe. Zuerst wurde das Geld über Spendenaktionen gesammelt. Allmählich wuchs Repair Together zum großen Community-Projekt. Auf Instragram beispielsweise folgen der Gemeinde über 30.000 Follower. Dort verdienen sie Geld durch Werbung, die sie in den Wiederaufbau investieren.

 

Im letzten halben Jahr (September bis Januar 2022/23) haben die Aktivist*innen des Repair Together acht Baulager organisiert. Im Dorf Lukaschivka bauen VolontärInnen sieben Häuser, weitere neun Häuser sind in Planung.

 

Am Anfang versuchten die Repair Together Aktivist*innen das Vertrauen der lokalen Bevölkerung zu gewinnen: eine Barriere war zunächst das ungewöhnliche Aussehen der Volontär*innen - Tattoos, bunte Haarfarben, schräge Kleidung und Techno, den sie beim Aufräumen hörten. Schließlich tanzten die Aktivist*nnen mit Dorfbewohner*nnen...

 

Video von Repair Together über Baurave: https://www.youtube.com/watch?v=hgJ1JDe_ELo

 

Theater in dunklen Zeiten

3.12.22

 

Trotz des permanenten Strom- und Heizungsausfalls, der seit Oktober für alle Ukrainer*innen zum Alltag geworden ist, bleiben die meisten ukrainischen Theaterhäuser voll. Die Aufführungen müssen aber zu früherer Stunde stattfinden als sonst (meistens am Nachmittag) wegen des möglichen Luftalarms und damit noch genug Zeit bis zur Ausgangssperre bleibt.

 

Einige Theater lassen ihre Aufführungen jetzt in Luftschutzkellern stattfinden, wie beispielweise das V. Vasylko Musik-Dramatische Theater in Odessa, das nun eine neue Theaterbühne mit dem Namen Theater im Bunker hat. Auch in der Kyiv Nationalen Philharmonie finden nun Konzerteim Keller statt, dieser wurde eigens zum Konzertsalon umgebaut. Im Falle eines Stromausfalls wird eine alternative Lichtquelle benutzt und die Zuschauer*innen bekommen kleine LED-Taschenlampen. Problematisch sind die Orgelkonzerte, da zeitgenössische Orgeln ausschließlich mit Strom laufen. Im Falle eines Stromausfalls würde das Orgelkonzert ersetzt werden. Die Klaviersolistin der Kyiv Philharmonie, Innesa Poroshina, erzählt:

 

„Die Philharmonie ist intakt. Beim letzten Konzert, das im Salon im Keller stattfand, gab es einen Anschlag. Viele Leute sehnen sich nach einem normalen Leben. Als im Frühling die Konzerte wieder begonnen haben, war ich sehr froh darüber und wollte kämpferische, energetische, emotionale und rebellische Musik spielen, wie beispielsweise die revolutionäre Etüde. Aber dann verstand ich, dass die Leute nicht wegen dieser Art von Gefühlen kommen: die Leute kommen, um den Krieg zu vergessen, ein Rückzug ins Friedliche, Stille, Helle... Das ist die Musik, die sie sich wünschen. Am Ende jedes Konzertes danken wir den ukrainischen Streitkräften, dass wir in diesen Zeiten noch Musik machen können.“

 

 

 

Der Schauspieler Oleg Stefan des Theaters für Drama und Komödie auf dem linken Ufer teilt ebenfalls emotionsgeladen mit, dass es ihn sehr überrascht hat, dass das Publikum trotz der widrigen Umstände in Strömen ins Theater kommt:

 

„Bei allen Aufführungen, bei denen ich mitgespielt habe, war das Parkett voll. Trotz der Gefahr eines Stromausfalls, kommen die Leute ins Theater. Übrigens bringen sie immer etwas mit, wie Blumen, Geschenke... Es ist so berührend. Ich weiß nicht, was sie in diesen dunklen und kalten Raum zieht - die Heizung funktioniert immer noch nicht. Die Leute sitzen dort mit Jacken und Mänteln, sie möchten da sein. Wenn das Licht ausfällt, richten unsere Techniker zwei Neonlampen auf Akkumulatoren ein. Die Tontechniker schalten die Musik auf kleinen Akkus an. In dieser halben Dunkelheit reagieren die Zuschauer*innen lebendig - sie lachen, sie weinen oder sie sitzen einfach nur still da und dann applaudieren sehr, sehr laut“.

 

 

Theater seit Beginn des Krieges

29. November 2022

 

Die meisten ukrainischen Theaterhäuser haben ihre Türen für Publikum Anfang April geöffnet. Zuvor haben viele (besonders in der Westukraine) als Zufluchtshäuser für Flüchtlinge aus der Ost- und Südukraine gedient, so auch fast alle Theater in Lviv (Les Kurbas Theater, Mariia Zankovecka Theater, Erstes Theater für Kinder und Jugendliche etc.).

 

Facebookseite des Les Kurbas Theaters

 

Das alte Gebäude des Les Kurbas Theaters, in dem sich Anfang des 20. Jahrhunderts das Varietétheater Casino de Paris befand, war das erste Theater in Lviv, das Ende Februar 2022 zum temporären Asylfür circa 30 Frauen mit Kindern geworden ist. Das Theater hat seine Tribünen, auf denen das Publikum während der Theateraufführungen saß, zu Betten umgebaut. Die Schauspielerin des Theaters Natalia Rybka-Parchomenko erzählt, dass viele Bewohner*innen von Lviv in wenigen Stunden auf einen in sozialen Netzwerke geteilten Aufruf reagiert haben, Matratzen, Bettzeug, Decken und humanitäre Hilfe zu sammeln. Viertelstündlich haben Menschen angerufen, um ihre Hilfe anzubieten: um Mahlzeiten zu kochen, Sachen zu liefern usw.

 

Facebookseite des Les Kurbas Theaters

 

Ab den ersten Tagen des Krieges sind auch viele Schauspieler*innen und Theaterintendant*innen in die ukrainischen Streitkräfte und territorialen Verteidigungstruppen eingetreten, wie beispielsweise der ehemalige Kulturminister und Schauspieler des Kiewer Ivan Franko National Drama Theaters Yevhen Nyshchuk, der Intendant des Theaters Menschen und Puppen in Lviv Oleksa Kravchuk, oder die Ballerina des Nationalen OpernhausesOlesia Vorotniuk. Der 33-jährige Theater- und Filmschauspieler Pasha Lee hat bei der Evakuierung der Zivilisten aus dem Gebiet Kiew geholfen. Am 6.März 2022 wurde er in einem zivilen Auto unter russischem Beschuss getötet.

 

Während der ersten Tage des Kriegs sind auch einige U-Bahnstationen in KYIV und Charkiw zu Bühnen geworden: Nicht nur Theateraufführungen, sondern auch große Konzerte fanden dort statt, darunter etwa dieses Überraschungskonzert von U2: https://www.youtube.com/watch?v=A9cyq5VDQbw

 

Eines der tragischsten Ereignisse in der Theatergeschichte der heutigen Ukraine ist die Bombardierung und die völlige Zerstörung des Theaters von Mariupol am 16. März 2022, das eine Zuflucht für ungefähr 600 Menschen war.
https://www.youtube.com/watch?v=FEN8m1ekk8M

 

Mitte Juni haben die russischen Okkupanten auch das Theater in Severodonezk zur Gänze zerstört, das nur wenige Jahre zuvor renoviert wurde und in dessen Gebäude das aus Luhansk evakuierte Ukrainian Music and Drama Theatre arbeitete.

 

Photo Serhiy Dorofeev

 

 

Diktat Tanzen

21. November 2022

 

Am 9. November, am Tag der ukrainischen Sprache und Schrift, findet seit dem Jahr 2000 einmal jährlich das„Diktat der Einheit“ statt, bei dem alle Interessierten zu einer bestimmten Uhrzeit einen diktierten Belletristiktext schreiben. Der Text wird von einem/r Schauspieler*in live via Radio vorgelesen. Die Texte können anschließend an den öffentlichen Rundfunk gesendet werden, wo sie von Linguist*innen gelesen und korrigiert werden. Diejenigen, die keine oder wenige Fehler gemacht haben, werden ausgewählt und bekommen kleine, symbolische Geschenke.

 

In diesem Jahr wurde zum ersten Mal seit zweiundzwanzig Jahren ein Text von einer Schriftstellerin namens Iryna Cilyk ausgewählt, in dem es um ein für viele Ukrainer*innen aktuelles Thema ging: Zuhause.

 

Die in Kyiv lebende Tänzerin und Performancekünstlerin Anna Vinogradova, die eine Tanzgruppe kuratiert, hat vorgeschlagen diesen Text zu tanzen, da viele Teilnehmer*innen das Diktat mitschreiben, aber auch bei der zeitgleich stattfindenden Tanzstunde nicht fehlen wollten. Was daraus entstanden ist, können Sie in diesem Video sehen:https://www.youtube.com/watch?v=FpPCPvRuGp0

 

 

Russisches Mainstreamkino

10. November 2022

 

Um Russlands Hass gegenüber den Ukrainer*innen zu verstehen, muss man nicht nur die staatliche Medienpropaganda in den Fokus nehmen, sondern sich auch dem Mainstreamkino zuwenden. Das russische Massenkino zeigte seit Ende der 1990er bis Anfang der 2000erJahre die Ukrainer*innen häufig als Feindbild und glorifizierte die Figur des Banditen, der gegen den Westen kämpft. Aleksei Balabanovs Filme Bruderund Bruder 2bedienten dieses Narrativ am stärksten. Der erste Film des ZyklusBruder (1997) entstand nachdem ersten Tschetschenienkrieg und enthält drastische rassistische und antisemitische Aussagen.

 

Bruder 2 (2000) erzählt die Geschichte eines jungen russischen Gangsters, der in die USA kommt, um dem Bruder seines Freundes zu helfen.Letzterer hat Probleme mit Menschen, die im Film als lokale ukrainische Mafia dargestellt werden. Viele Zitate aus diesem Film wurden später auch von russischen Politiker*innen zitiert.Eines davon, das an die ukrainische Mafia gerichtet ist, lautet: „Du wirst für Sevastopol bezahlen, du Bastard!“

 

Die beiden Filme sind in Russland sehr populär geworden. Der Protagonist Danila Bagrov wurde zum Rollenmodel für eine ganze Generation. Seine Brutalität und antiwestlichen Ansichten wirkten sehr anziehend - paradoxerweise auch für Ukrainer*innen, allerdings zu der Zeit, als Russland noch als geopolitischer „Freund“ angesehen wurde. Ich erinnere mich an die Schulzeit, in der meine Klassenkameraden oft Passagen aus dem Film rezitierten und Bagrovs Grobheit nachahmten.

 

https://www.youtube.com/watch?v=V0xbH91kvNE - Trailer zum Film Bruder
https://www.youtube.com/watch?v=4WZ1gFVN1aI - Trailer zum Film Bruder 2

 

Beide Filme beinhalten das Narrativ der russischen Vorherrschaft, verbreiten den Glaube an die besondere Mission Russlands in der Welt (die ganze Welt vor Angst erschüttern lassen)und wurden zu Lehrbüchern zur Putins Faschismus.

 

 

Nach Irpin

28. September 2022

 

Ich fahre nach Irpin mit dem Regionalbus. Zufälligerweise setze ich mich im Bus neben unseren Nachbarn Sascha, der sich nicht aus Irpin evakuieren lassen wollte. Während der russischen Besatzung blieb er die ganze Zeit in Irpin. „Bis Ende März haben sie von der Früh bis Mitternacht ununterbrochen geschossen. Während der letzten Phase (vor dem Abzug der Russen)gab es überhaupt keine Ruhe mehr. Vierundzwanzig Stunden am Tag Explosionen“, erzählt er. Ich habe das Gefühl, dass der ganze Bus ihm zuhört, obwohl niemand das zeigt. Er erzählt ohne Pausen, ab und zu stelle ich eine Frage und bereue später, dass ich unser Gespräch nicht mit meinem Handy aufgenommen habe: Alles, was er sagt, alles, was er erlebt hat, soll in die Geschichtsbücher kommen.

 

An der Haltestelle in Romanivka - das ist eine kleine Stadt in der Nähe von Irpin - steigt eine alte Frau mit sehr traurigen Augen aus. Sie bleibt eine Weile bewegungslos auf der Haltestelle stehen und betrachtet ein verbranntes Haus. Es ist, als ob sie vor einem Grab stehen würde.

 

Der Bus fährt weiter. Wir kommen an der Brücke vorbei, wo mein Vater am ­10.März evakuiert worden ist. Ich schalte meine Handykamera ein und filme die Brücke. Später erst erfahre ich, dass es verboten ist, Brücken oder auch Check Points aufzunehmen, da sie strategische Objekte sind.

 

Ich steige mit Sascha an unserer Haltestelle aus. Zusammen gehen wir die Soborna-Straße entlang. Fast alle Zäune, die sich an unserem Weg entlangziehen, zeigen Spuren von Geschossen. Sascha ist ein ehemaliger General, der sich auskennt. Er erzählt, welche Raketentypen von wo über den Himmel geflogen sind. Ende März ist ein Projektil zwölf Meter entfernt von unserem Haus eingeschlagen. Glücklicherweise gingen nur einige Glasfenster zu Bruch und das Dach wurde beschädigt. Sascha, mit dem wir das Haus teilen, war Gott sei Dank auf der anderen Seite des Hauses im Garten. Aber die Rakete erwischte seinen KaterPapan: Er starb noch am selben Tag am Schock.

 

 

 

Endlich bin ich in unserem Garten in Irpin. Das Gemüse ist schon reif, aber der Krieg geht weiter. Mein Vater zeigt die Wunde, die eine Granate in unseren alten Apfelbaum gerissen hat.

 

 

Trotz des Beschusses tragen die Bäume und die Gemüsepflanzen in diesem Jahr gut. Es gibt viele Äpfel und Nüsse. Und auch die österreichischen Tomaten und Zucchini, die so gut und echt schmecken, sind reif geworden - kein Vergleich mit jenen aus dem Supermarkt!

 

 

 

 

 

Als ich die Soborna-Straße zur Haltestelle zurückgehe, bemerke ich ein Haus, das völlig verbrannt ist. Das Dach ist weg, nur die vier Wände stehen noch. Trotz alledem pflegen seine Besitzer*innen den Garten, in dem die Ruine steht.

 

Weiter zu Teil 2 – In Kyiv