Choreographie ob?scene

Arkadi Zaides’ „Archive“ im Kontext zeitgenössischer Tanzperformance

Von Krassimira Kruschkova
   
  Arkadi Zaides: Archive, Festival d'Avignon (2014), Videostill [1]
 
 
   
  Arkadi Zaides: Archive, Tanzquartier Wien (2016), Videostill [2]  

 

„Good evening. Thank you for coming. My name is Arkadi Zaides. I am a choreographer. I am Israeli. For the past fifteen years I have been living in Tel Aviv. The West Bank is 20 km away from Tel Aviv. The materials you are about to watch were filmed in the West Bank. All the people you will see in these clips are Israeli, like myself. The clips were selected from a video archive of an organization called B’Tselem.“

 

Mit dieser kurzen Introduktion startet der Choreograph Arkadi Zaides seine Soloperformance Archive. Fast leere Bühne, nur ein Mischpult seitlich und zwei Bildschirme im Hintergrund: rechts ein großer weißer und links ein kleiner schwarzer. Während der kurzen Einführung steht neben Zaidesbei der Premiere 2014 am Festival d’Avignon eine junge Frau (oder am Tanzquartier Wien, wo die Arbeit 2016 gezeigt wurde, ein junger Mann, Presse-Mitarbeiter am Haus) und übersetzt simultan jeden einzelnen Satz: Kein Dialog zwischen zwei Figuren on stage im klassischen Sinne Frage/Antwort, vielmehr ein doppelt verantworteter Vorstellungsakt, zugleich ein Dialog zwischen zwei Sprachen, zwischen mehreren Fremdsprachen: Die englischsprachige Introduktion des aus Weißrussland stammenden, in Israel lebenden Choreographen wird bei jeder Aufführung in die jeweilige Landesssprache simultan übersetzt. Also sagt der/die Übersetzer/in (in der entsprechenden Sprache) auch: „Ich bin Arkadi Zaides.“

 

So tauchen bereits anfangs dramaturgische Probleme singulär-pluraler Autorschaft und Übersetzbarkeit auf. Indem ein Übersetzer on stage sagt: „Ich bin Arkadi Zaides. Ich bin Choreograph“, wird auch der Übersetzer-Status des Choreographen selbst thematisiert. Diese apostrophierende Anfangsgeste, die inter-dramaturgische Bezüge zur konzeptuellen Choreographie erlaubt (z.B. zu Jérôme Bels Last performance (1998): vom anfänglichen „Je suis Jérôme Bel“ über „Je ne suis pas Jérôme Bel“ bis zum Verschwinden der Bühnenfiguren und dem Überantworten der Signatur auf das Publikum), ist in Zaides Archive signifikant auch im extra-dramaturgischen Sinne - als ein Echo des Israel-Palästina-Konflikts.

 

Eine apostrophierende Geste im doppelten Wortsinn: als Apostrophieren, Adressieren des Publikums und zugleich als Apostroph, Auslassungszeichen: Ich bin die reale, (mit-)verantwortliche Person und zugleich unmöglich identisch mit dieser Vorstellungsgeste. Ein explizites Darstellungsparadox par excellence, eine Beunruhigung der Repräsentation durch die Übersetzung bereits anfangs. Dann beginnen wir, Informationen über das Camera Project von B’Tselem auf dem kleinen schwarzen Screen zu lesen:

 

B’Tselem is an Israeli Information Centre for Human Rights in the Occupied Territories. It was established in 1989. In January 2007, B’Tselem initiated a project where video cameras are given to Palestinian volunteers living in high-conflict areas. The Camera Project aims to document human rights violations and to expose the reality of life under occupation to both the Israeli public and the international community. The B’Tselem video archive contains thousands of hours of documented footage and is growing daily. The following video excerpts have been selected from the B’Tselem archive. They portray only Israelis.“

 

This is also us[3],sagte in einem Künstlergespräch der israelische Choreograph Zaides, der sich in dieser performativen Recherche des Konflikts Israel/Palästina mit seiner eigenen Community auseinandersetzt. Die Aufnahmen auf dem großen Schirm zeigen Soldaten, Siedler, Aktivisten aus Israel in verschiedenen konfrontativen Situationen. Die palästinensischen Menschen, die filmen, bleiben hinter der Kamera. Dennoch sind gerade ihre Bewegungen, Stimmen, Standpunkte gegenwärtig, die Perspektive des Blicks bestimmend.

 

Zaides wiederum beteiligt seinen Körper kritisch am kollektiven Bewegungsmaterial seiner israelischen Gemeinschaft, indem er die Gesten und Bewegungssequenzen, die er als Filmprojektion mit der Fernbedienung aktiviert, immer wieder stillstellt und nachstellt, performt: simultan zum Filmmaterial und dann auch separat, ohne die Filmprojektion. Ein Re-enactment, das den Kontext zugleich erinnert und prüft, probt - einmal, zweimal, mehrmals -, indem er Blickrichtungen, Perspektiven immer wieder wechselt, unterscheidet bzw. kritisiert (vom griech. krinein = unterscheiden). Indem er gerade die Komplexität, die Unfassbarkeit des Konflikts darstellt, stellt er auch seine Undarstellbarkeit aus.

 

This is also us, sagt also Zaides, der mit einem komplexen Konzept einer choreographischen Komplizenschaft, eines wir arbeitet, einer Community, die vielmehr eine „Gemeinschaft derer ist, die keiner Gemeinschaft angehören“[4], wie ich hier mit Georges Bataille und nur einigen kurzen Vorbemerkungen vorschlagen möchte, bevor ich zu Archive zurückkomme. Es geht um eine Konstellation together/apart: Vielleicht: being apart in order to be part of. Vielleicht: nicht-mit-tun, gerade um mit-zu-sein. Es geht um opake Gemeinschaften derer, die Unzugehörigkeit, Differenz, versäumte Konturen am Saum der Körper umtreiben, indem sie Mit-Strukturen, auch zwischen Bühne und Auditorium, teilen. Für diese Strukturen gilt es, jede vorauseilend affirmative Gemeinschaft zu verteilen und so zu vereiteln. Zeitgenössischer Tanz und Performance arbeiten daran mit ihrer Kompetenz für „uneingestehbare“ (mit Maurice Blanchot[5]), für „untätige/ent-werkte“, „herausgeforderte“, „verleugnete“ (mit Jean-Luc Nancy[6]), für „kommende“ (mit Giorgio Agamben[7]) Gemeinschaften.

 

Interessant ist hier nicht ein utopisches Ankommen, vielmehr die Kompetenz für ein potentielles yet to come im Verfassen und Teilen von temporären Mit-Strukturen, die ideologische Reinheitsphantasmen verwerfen. Choreographische Strategien, die Körper-Relationen potenzieren statt einfach zu aktualisieren, formulieren derart stets neu das Unsichtbar-Werden und zugleich Anders-Werden dieser Relationen, ihre Präsenz ob?scene: Ob szenisch überhaupt darstellbar, ob zulässig, ob nicht zu lässig antizipiert, ob nicht absent, vakant, stets hinter der Bühne diese Präsenz - in aller etymologischen Unentscheidbarkeit des Präfix’ ob- in obscaena? (Das war auch die Fragestellung meiner ersten Theoriereihe-Kuratierung am Tanzquartier Wien: Ob?scene. Zur Präsenz der Absenz (Saison 2003/04) und der daraus entstandenenPublikation.[8] Auch in diesem Sinne hier ein Archiv, ein Archiv ob?scene. Ein Archiv yet to come.)

 

This is also us“: Es geht um einen instabilen, intransparenten Modus der Zugehörigkeit, der keine gegebene Gruppe, keinen allgemeinen Grund der Gruppierung voraussetzt, der sich vielmehr mit seiner Uneinlösbarkeit auseinandersetzt. Hat wohl ein Grund, wenn überhaupt, immer mehrere Gründe, und wird wohl das wir einer Gruppe immer schon temporär gewesen sein: Um erst dadurch Anderes, Andere willkommen zu heißen - ohne die Leerstellen, die Spalten, die Risse zu ignorieren. Mind the gap! - in der paradoxen Interferenz der Parallelwelten, in denen wir so seltsam zusammengehören. In der präzisen Unschärfe dieser Welten mit ihren Paralleloberflächen und Parallelrhythmen gehören wir oft gleichzeitig und unsymmetrisch mehreren Loyalitäten an, mehreren Teams (wie wörtlich in Xavier Le Roys Project (2003) - dies nur ein weiterer Bezug zur konzeptuellen Choreographie).

 

Ohne Symmetrie auch die Politik der Freundschaft, in der unser Kontext unentscheidbarer Zugehörigkeit eine Konkretisierung erfährt: „Ist der Freund derselbe oder der andere?“[9], lautet eine der zentralen Fragen in Jacques Derridas Politik der Freundschaft. Es geht um einDenken des Zusammengehörens jenseits eines inzestuösen Selben, jenseits eines Brüderlichkeitsdogmas, hin zur Demokratie als Ort, an dem jeder gleichermaßen anders zu sein vermag. „Fragen wir uns, wie die Politik eines solchen ‚Jenseits des Brüderlichkeitsprinzips aussehen könnte“[10], fordert uns Derrida auf, rücksichtslose Ein- und dadurch Ausschlussmechanismen (in diesem Fall der Blutsverwandtschaft) zu dekonstruieren - eine Aufforderung, die heute im Kontext von cancel culture umso mehr einleuchtet.

 

Es geht um eine Politik der Komplizenschaft, in der das Zusammenhalten oft gerade über seine Vakanz figuriert wird: ob?scene. Als könnten wir zusammenkommen, gerade weil wir den Zusammenhalt vermissen. Wie lose Steine, die, so Heinrich von Kleists berühmte Denkfigur, ein Gewölbe doch halten, gerade weil alle Steine gleichzeitig einstürzen wollen - ist doch die Uneinlösbarkeit, Unhaltbarkeit einer Gemeinschaft ihr konstitutives Moment. Oder es geht, mit Michel Foucault, um „ungeheuerliche Familien“[11]. Nochmals also weg von der Verbrüderung, von der (vor)gegebenen Familie, hin zum unheimlichen, doch verbindlichen Zusammen.

 

Mit diesen kurzen Vorbemerkungen zur Komplexität von Begriffen wie Community und obscaena wieder zurück zu Zaides’ Archive: Zaides kommentiert und kontaminiert zugleich das dokumentarische Material auf dem großen weißen Screen, indem er durch den bloßen Akt szenischer Repetition (und nicht nur durch die in den Dokumentarclips gepixelten Gesichtern) jede Singularität, auch seine eigene, politische wie künstlerische, jede buchstäbliche und übertragene Position und Positionierung ins Plurale kippt. Die exakten Verweise am schwarzen Screen zu den dokumentarischen Filmsequenzen am weißen enthalten Datum, Beschreibung, Ereignisort, Name der filmenden Person. Die ganz konkrete Referenz ist also da, dokumentiert. Was jedoch ambivalent bleibt, sind die Filmsequenzen selbst, oft unspektakulär, am Beginn auch ganz verwackelt, verschwommen („shot unclear“ / „Aufnahme unklar“ ist anfangs zusätzlich auf dem schwarzen Screen, der auch bei jeder Aufführung zweisprachig ist, zu lesen), allerdings immer mit Gewaltpotential.

 

Arkadi Zaides: Archive, Videostills

 

Was hier also unentscheidbar bleibt, ist die Sichtbarkeit/Lesbarkeit der Dokumentar-Clips in der Atemlosigkeit der Handkamera-Bewegungen: wir hören deutlich das hastige Atmen der filmenden, fliehenden, gerade vertriebenen palästinensischen Menschen. Die Verantwortung unseres Blicks wird verbindlicher gerade in dieser atemlosen Unsichtbarkeit, ausharrend in der referentiellen Unentscheidbarkeit, in der Aporie des sichtbar Unsichtbaren - gerade wegen der puren Bild-Faktizität. Die Palästinenser:innen bleiben also hinter den Kameras - ob?screen, werden aber gerade in ihrem Ausbleiben, in ihrer Vakanz präsenter. Ihre Bewegungen wie ihre Kamerabewegungen, ihre Stimmen und Perspektiven (die filmisch-buchstäblichen und die narrativ-übertragenen) sind anwesend, indem sie sowohl die filmende als auch unsere zuschauende Perspektive determinieren, die allerdings später von Zaides nochmals - choreographisch - differenziert wird.

 

Es geht in Archive um den Modus des markiert Absenten, um die ob?scene-Modalität als Paradox archivierender Praxis per se und - wie mein Text vorschlägt - als eine künstlerische Poetik, die politisch ist gerade in ihrer präzisen Unschärfe zwischen Referenz und Figuration. Indem er den dokumentarisch gefilmten Akt, versehen mit seiner genau bestimmten Referenz auf dem schwarzen Screen, im szenischen Live-Akt zur bloßen Bewegung de-territorialisiert und figuriert, problematisiert Zaides grundsätzlich Referentialität als Akt eines doppeldeutigen Versehens: als ambivalenten Bestimmungsakt, als Akt einer gewissen Ungewissheit.

 

Archive überprüft Choreographie als einen kritischen, doppeldeutigen Absenz-Verweis, als Hinweis auf und zugleich Abweis jeder Anwesenheits-Metaphysik, als stets neu aktiviertes Archiv der Gesten, das ein ästhetisches und politisches Absenz-Potential fokussiert. Problematisiert wird der choreographische Umgang mit den dokumentarischen Clips als kritischen (im mehrfachen Wortsinn) Akt, als ein Krisen-Re-enactment gerade des Unterscheidens (haben wohl Krise und Kritik eine gemeinsame Etymologie: krinein). Ein Re-enactment, das Letztbegründungen, Fundamentalismen politischer und choreographischer Positionen und Posen pausieren lässt, zäsuriert - um der Zensur der Doxa zu entkommen und gerade im paradoxen, ambivalenten, differenten Adressieren von Positionierung und Perspektive verbindlich zu verbleiben.

 

Arkadi Zaides: Archive
© Ronen Guter © Ligia Jardim

 

Indem er kritisch nie Dasselbe wiederholt, zunächst das Repetierte, dann seine eigene Repetition wiederholt, repetie­­rt Archive die Differenz selbst, er holt sie wieder her, stellt sie immer wieder her. Dergestalt überprüft Zaides auf der Bühne das selektionierte und neu zusammengefügte Material aus dem Camera Project von B’Tselem. Anfangs zögert er beim längeren bloßen Beobachten der Filmclips auf dem großen Screen, dann wird er immer resoluter in seiner kinematographischen und choreographischen Arbeit am Material.

 

Indem er Bewegungsbilder mit der Fernbedienung aktiviert, extrahiert, isoliert, stoppt, zurückspult, repetiert, indem er sie stillstellt und dann mehrfach nachstellt, ändert Zaides die Relation zwischen seinem eigenen Körperbild und dem nachgestellten. Indem er z.B. die Fernbedienung in seiner Hand wie ein Gewehr immer wieder anders ausrichtet, imitiert er - gerade ohne sich mit ihm zu identifizieren, vielmehr im Versuch, vollziehend nachzuvollziehen - einen Soldaten mit Tränengasgewehr in der Hand. Wie ferngesteuert unsere Hände, Tränen, Gewehre ohne Richtungsgewähr, ohne Richtigkeitsbestätigung.

 

Zaides wird später diese Sequenz auch ohne die Filmprojektion, als einen isolierten, nicht gerichteten, kinästhetischen statt eines rein dokumentarischen Fakts wiederholen. Archive überführt hier das Material - mit einem verblüffend einfachen Gestus des Mehrfachen - in eine komplexe Feind-Freund-Relationalität. Nochmals Derridas Politik der Freundschaft: „Ist der Freund derselbe oder der andere?“Michel Foucault wiederum: „Freunde stehen einander ohne Waffen oder passende Worte gegenüber, ohne etwas, das Ihnen der Sinn der Bewegung, die sie einander zuträgt, bestätigen könnte.“ [12]

 

Arkadi Zaides: Archive
© Ligia Jardim © Ronen Guter © Ligia Jardim

 

Zaides nimmt hier zuerst die Körperperspektive des gefilmten Soldaten ein und dreht sich dann in die entgegengesetzte Richtung - Rücken an Rücken mit oder vis-à-vis dem gefilmten Bild des Soldaten - mit der Fernbedienung gegen das Bild des Soldaten gerichtet, ein lebendiger Körper gegen einen virtuellen. Gegen die brutale Virtualität, Allgegenwärtigkeit und zugleich Undarstellbarkeit der Konfliktsituation selbst. Indem Zaides Positionen stets wieder ruft und dann widerruft, wieder und wider, again and against, schärft er unseren Blick für die Differenzzonen innerhalb der Grenzzonen, denen er seine Arbeit verschreibt, im Wissen ums verhängnisvolle Verschreibungsfehler-Potential des Konflikts. Dem Archiv verschrieben lautet der deutsche Buchtitel von Jacques Derridas Mal d'archives.

 

Nach einer Formel von Derrida, It takes place when it doesn’t, wurde eine andere Tanzquartier Wien-Publikation zu einer 2005 stattgefundenen Konferenz benannt, als eine andere Art inventiver Inventur, aktivierender Archivierung (bzw. andere Ost/West-Perspektivierung), Untertitel: On dance and performance since 1989.[13] Als ein immer neu problematisiertes, präsent-absentes Statt-Finden (statt wessen?) vermisst auch Archive den Status von Bewegungen, vermisst ihn im doppelten Wortsinn von Abmessen und Ermangeln: Ein fassungsloser Akt als Handlung und Verhandlung, der nur so stattgefunden haben wird - in der Unfassbarkeit, wie er überhaupt einer war, wie er einer ist. Aber wie dann Verantwortung dafür übernehmen, „what is already there, even if we cannot yet see it“[14], fragt der libanesische Performancekünstler Rabih Mroué in einer weiteren Tanzquartier Wien-Publikation mit dem Titel Uncalled. Dance and performance of the future, die die Inventory-Richtung wieder in eine invent-Richtung umdreht.

 

Kritische zeitgenössische Choreographie - auch wenn sie immer direkter mit dem politischen Außen in Berührung kommt - prägt nicht nur eine nun betont extra-dramaturgische Evokation, sondern eine intra-dramaturgische, intra-aktive Vakanz (um hier Karen Barads Konzept der Intraaction als Relationalität und fortlaufendes Werden nichtpräkonstituierter Relata anders zu wenden[15]): Eine stets tätige Vakanz, die immer wieder andere Kausalität stiftet. Sie denkt politisch, sofern sie die Relationen innerhalb des Wirklichen und des Möglichen wie auch dazwischen nicht präetabliert, vielmehr stets neu rekonfiguriert. So werden auch die Möglichkeitsbedingungen des eigenen Mediums choreographisch intraaktiv bis ins Paradox differenziert, statt als Doxa postuliert. Oder mit Christoph Menke:

 

„Die Kritik, die das Theater übt, macht das Paradox zur Norm... Die Einsicht in die Unentscheidbarkeit heißt nicht anything goes. Die Erfahrung des Paradoxes im Theater ist nicht das Ende des Konflikts und der Militanz. Sie beginnen damit erst.“[16]

 

Eine Art uneasy going[17] anstatt anything goes. Das kritische Konflikt-Potential ob?scene - die kritischen Leerstellen der unsichtbaren Menschen mit den Kameras in Archive. Ein Archiv als Probe und Problem der Vakanz. „Performance is this vacant space“, setzt Rabih Mroué die vorhin zitierte Textstelle fort: „For absence is a promise of return and declaring the emptiness is a sign of the presence of the absent.“[18]

 

In einer weiteren Archive-Sequenz imitiert Zaides Gesten von Kindern, die Steine gegen die für uns unsichtbaren Filmenden werfen, er imitiert sie allerdings nicht in eine bestimmte Richtung (wie im projizierten Dokumentarclip), vielmehr dreht sich die Ausrichtung im Kreis, in Krise. Ein durchgedrehtes Steinewerfen in Rotation: wörtlich und figurativ. Welch Kleistsches Steingewölbe könnte es zusammenhalten. Und in einer weiteren Szene imitiert Zaides, wieder in sinnentleerter Rotation, die im Dokumentarclip klar ausgerichteten Bewegungen und Schreie von Siedlern, die Schafe vertreiben, indem er die Assoziationskette aktiviert: Schafe davonjagen, Menschen verbannen, Menschen wie Schafe ausweisen. Die von Arkadi Zaides on stage gesampelten Schreie werden später zu einem animalischen Chor akkumuliert. Dann werden wir nur isolierte Bewegungs- (später auch Sound-)Artikulation sehen (und hören), aus den nun fehlenden Clips. Diese isolierende, deterritorialisierende Prozedur wird immer wieder die dramaturgische Struktur durchlöchern und das nun unsichtbare Filmmaterial wie das Live-Bewegungsmaterial stets neu verdichten.

 

Zaides’ Relationen zum Material-Memorieren wie zu ‚membership‘, zur Zugehörigkeit, zum Imitierten wie zum Kolonialisieren eines Imitationsaktes selbst sind ambivalent. Nicht Identität, vielmehr Differenz präzisiert die Imitation. Die vom Film extrahierten und neu zusammengestellten, neu - wie (Bau-)Steine - zusammengehaltenen Bewegungen treten während der choreographischen Prozedur in Intraaction mit den gefilmten, bringen einander anders hervor, anstatt einfach in präetablierten Beziehungen miteinander zu interagieren. Manchmal sind es ganz marginale Bewegungen im Rahmen der Dokumentarclips, die Zaides isoliert und rekonfiguriert.

 

Der Choreograph lässt Gesten und Stimmen der Anderen zu anderen Gesten und Stimmen werden, im Sprung von einem zum anderen Filmmaterial, indem er im Akt der Aneignung seinen Körper zum lebendigen Archiv, zum (allerdings ,fremdsprachigen‘) Bewegungsvokabular transformiert. Die Komplexität choreographischer Mimesis und Anagnorisis hinterfragt hier differente Modi von Nachahmung/Darstellung und Wiedererkennung/Wider-Erkennung (sofern mímēsis Nachahmung, aber auch einfach - doch einfach ist das nicht - Darstellung heißt, und das griechische Präfix ana- in anagnōrisis zugleich wieder- und wider- bedeutet).

 

Zaides performt also Gesten, Stimmen, Bewegungssequenzen von Soldaten, Siedlern, Aktivisten - zuerst simultan mit dem auf dem Screen gezeigten Filmmaterial, dann immer wieder separat, ohne Screen-Projektion. Die Gesten werden als isoliertes choreographisches Material zu bloßen Bewegungen zurücktransformiert: in einem fortdauernden Abstraktionsakt. Die choreographische Abstraktion durch Repetition löst den referentiellen Kontext auf, indem sie - paradox - nur die pure Gewalt dieses Kontextes extrahiert, in ihrem eigenen kinästhetischen Medium: als gewaltgeladene, allerdings unentscheidbare Körperbewegung. Die Gewalt des Referenzlosen. In seiner detaillierten Archiv-Analyse schreibt Frédéric Pouillaude präzise:

 

„Each time, what makes itself felt without the videos is the movement (or the shout) ‘without’ something: without its original context, without its environment, without the obvious meaning that the image conferred. But this ‘without’ and the strangeness that stems from it also allow us to see ‘more’: to see the movements for what they are in themselves and not only for the part they play in the world, to perceive their inherent violence [...]“[19]

 

Pouillaude folgert pointiert: „Zaides’s desperate factualism is also, and eminently, a political act“[20]. Indem er die Differenz selbst repetiert, performt Zaides die Nichtrepräsentierbarkeit von Ereignis und Kontext. Indem er das Bild- und Soundmaterial immer wieder neu schneidet (kinematographisch und choreographisch), untersucht er stets neue Sichtlinien, entwickelt sein performatives Gestenarchiv aus einem stets anderen Standpunkt, aus der Sicht anderer: um ein Archiv zu entwickeln, das die Frage des Gewalt-, Kontroll-, Schuldpotentials von Gemeinschaften fokussiert.

 

Es ist auch die Schuld des Wegschauens. „I’m guilty of looking away“, ruft in einem verbal und körperlich eskalierenden Rezitativ der Performer Davis Freeman in Meg Stuarts ALIBI (um hier unsere inter-dramaturgischen Korrespondenzen innerhalb der zeitgenössischen Choreographie fortzusetzen). Alibi bedeutet Abwesenheitsbeweis, evidence ohne Evidenz. Freeman bekennt performativ weiter: „I’m guilty of being an American.“ Premiere des Stücks 17. November 2001, also knapp nach Nine Eleven, geprobt wurde allerdings bereits seit Sommer 2001: Ob ALIBI auf die Nine Eleven-Ereignisse referiert, bleibt also ambivalent - eine präzise Unschärfe des Blicks im Oszillieren wieder zwischen Referenz und Figuration, Kontext und Abstraktion, präzisem Hin- und Absehen statt Wegsehen.

 

Auch Pouillaude weist auf die Problematik des Wegschauens in Zaides’ Archive - auf unser unmögliches Wegschauen: „Archive only performs kinesthetic facts, gestures that were also real events, and, by the cruelty of its apparatus, forbids us to look away.“[21] Diese kinästhetischen Fakten sind kontextbezogen und zugleich -entzogen, konkret und zugleich abstrakt, abstrahiert, ab-sichtlich, doch nicht für Absicht gemacht. Vielleicht weil der (choreographierte) Körper ein Body not fit for purpose ist, so der Titel einer lakonisch pointierten und explizit politischen Arbeit von dem Tänzer, Choreographen, Performer Jonathan Burrows und dem Musiker, Komponisten, Performer Matteo Fargion (wie Zaides’ Archive auch 2014 entstanden).

 

Es ist eine Choreographie, die zunächst von der Unzulänglichkeit der Gesten ausgeht, Absichten, Gründe zu formulieren, um gleichzeitig die inhärente Radikalität dieses Versuches zu adressieren. Body not fit for purpose ist ein Versuch, der in bodenloser Ironie auch zwischen Buchstäblichkeit und Figuration schwebt. Die Arbeit beginnt mit Burrows’ ganz und gar nicht eindeutigen Armbewegungen, mit einem „dance called the Arabic-Israel conflict“, wie er on stage seine Tanz-Gesten kontrapunktisch mit Fargions Musik-Gesten kommentiert/betitelt, dieser ersten Sequenz also einen Namen gibt (wie danach - beide Performer abwechselnd - auch jede folgende Sequenz benennen).

 

Als würden jene Körper not fit for purpose wie Kleists Marionette und wie Kleists Marionetten-Text selbst[22] immer wieder ihren Grund verlieren, höchst instabil und gerade deshalb tanzend. Nochmals also das Unergründliche, nichtsnutzig, good for nothing. Und gerade so choreographisch, mit dem Titel einer Arbeit von Philipp Gehmacher, good enough (2001). good enough - im Sinne auch von ‚ambivalent genug‘ - entstand im selben Jahr wie Meg Stuarts ALIBI. Es sind Absenz-Choreographien verbindlicher evidence statt bindungsloser Evidenz. Sie basieren auf keiner Repräsentationstautologie, in der die Figurationslogik taut. Die choreographische Logik lässt keine Referenz-Figuration-Tautologie taugen, indem sie vom Ersten ins Zweite und dann wieder zurück kippt. Sie entzieht sich stabilen Gründen, verwirft immer neu Grund-Linien.

 

the fault lines (die Verwerfungslinien, Bruchlinien nach einem Erdbeben), lautet der Titel noch einer Choreographie unserer gemeinsamen Störzonen, einer installativen Performance von Philipp Gehmacher, Meg Stuart und Vladimir Miller. the fault lines (2010): tektonische Risse, Brüche, Leerstellen, Absenzen. Körper und ihre Bilder, die die Grenze zueinander berühren, ohne sie zu durchqueren,[23] Körper/Bilder, die diese Grenze sind, an den Rändern der Gewalt (in dieser Arbeit - einer zärtlichen) der Berührungen ausgesetzt, als Verwerfungslinien auch innerhalb unserer fassungslosen Körper gezogen.

 

In einer der ganz anders gewaltgeladenen Film-Situationen in Zaides’ Archive hält einer der Siedler ­- am Bildrand - seinen Kopf fassungslos fest. Zaides imitiert diese Geste mehrfach, länger anhaltend. Eine Geste not fit for purpose, ent- und verworfen zugleich. Die Darstellung des Unfassbaren wird zur Unfassbarkeit der Darstellung dekonstruiert. Dekonstruktion in Archive gerade als eine Prozedur, die Kausalität und Linearität von Geschichte/n fokussiert und hinterfragt. Zweimal wird Zaides - als explizite Ausnahme im choreographischen Ablauf - zuerst live eine bestimmte Pose annehmen und sie erst nachträglich im zitierten Dokumentarclip zeigen (sonst ist ja sein Vorgang umgekehrt).

 

Arkadi Zaides: Archive
© Ilaria Scarpa

 

Gegen Ende von Archive potenziert Zaides seine Bewegungen in einer Art ‚ent-tanztem‘ Tanz, einem Tanz désœuvrée (untätig/ent-werkt)[24], wider und wieder den Strich, in einem Tanz gestrichener Referenz, der den bloßen referentiellen Akt desperat wiederholt. Es ist die einzige Live-Bewegungssequenz ohne extra-dramaturgische Verweise, ohne Dokumentarfilmreferenz - bis auf jenen kurzen Augenblick der fassungslosen Hand-am-Kopf-Geste. Eine Bewegungssequenz, die fassungslos, kopflos all die gesampelten Filmbilder simultan zu desartikulieren scheint statt zu übersetzen, die den singulären Körper in alle Richtungen zugleich springen, aufspringen lässt.

 

In einer Serie von gesampelten Schreien ‚schießt‘ Zaides hier zugleich auch mehrere akustische Bilder, als wollte er all diese obsessiven Images verjagen. Davor hatte er in einer kurzen Sequenz wieder das ‚Schafe-Vertreiben‘ mit Bewegung und schreiender Stimme (allerdings ohne die entsprechende Screen-Projektion) wachgerufen, um dann am Mischpult links on stage nur seine Schreie zu sampeln, und nun gerät er eben in ein désœuvrement, in einen sich weigernden, sich selbst verweigernden, entziehenden Tanz-Schrei, der der Distanz der eigenen Bewegung und Stimme widersteht.

 

 
Arkadi Zaides: Archive
© Gadi Dagon

 

Ein Außer-sich-geraten, ein wörtliches Durchdrehen der Bewegung - in der Unmöglichkeit, das Außen der Bewegungsgründe zu artikulieren. Detonation der Denotation, Explosion einer extra-dramaturgischen Realität in einem dadurch auch intra-dramaturgisch entleerten Gestus, der seinem - und unserem - allzu schnellen Verstehen-Wollen widersteht.Ein außer sich geratener Tanz als evidance dessen, wie die bloße Imitation gewalttätiger Bewegungen den Körper, der sie imitierend kollektioniert, kollabieren lässt. Ein erschöpfter, wörtlich hin- und hergerissener Tanz in mehreren Richtungen und in keiner zugleich. Nach dem außer sich, außer referentielle Sicht geratenen Tanz sehen wir auf dem weißen Screen, wie israelische Kinder die Kamera mit Spiegeln blenden, die Sicht auf sich verweigern, auch dies - anders - ob?scene.

 

Arkadi Zaides: Archive, Videostill

 

In einem der Kurzfilme aus Francis Alÿs’ jahrelang fortgesetzter installativer Serie draußen spielender Kinder aus unterschiedlichsten Weltregionen, in Children’s Game #15: Espejos (2013), stürmen Jungen in Mexico durch kleine geometrische Häuser-Ruinen in einer Trockengraswüste. Die Spieler drücken sich hinter Mauern zusammen, spähen aus glaslosen Fenstern. Jeder Junge hält ein Stück zerbrochenen Spiegel in der Hand und zielt mit dem von der Sonne gebrochenen Licht auf den ‚Feind‘. Wandernde Leuchtpunkte suchen die Körper auf. Sobald ein Spieler vom Licht geblendet wird, fällt er um, ‚ist‘ nicht mehr, ‚stirbt‘.

 

In Rabih Mroués Lecture-Performance The Pixelated Revolution (2012) sehen wir einen Dokumentarfilmausschnitt mit einem syrischen Protestierenden mit Kamera, der vom Soldaten, den er gerade filmt, angeschossen wird. Mroué problematisiert hier die Situation des Filmenden „shooting his own death“ und sagt in einem Interview:

 

„Wenn die Protestierenden mit ihren Handys filmen, sie sich vor die Augen halten und durch die Linse gucken, um das Geschehen zu verfolgen, versteht das Auge noch nicht, was es auf dem winzigen Bildschirm sieht. Deshalb kann es dem Gehirn nicht die nötigen Signale zusenden, um sofort zu reagieren. Und deshalb sind die Protestierenden nicht weggerannt, als sie sahen, dass das Gewehr sie ins Visier nahm.“[25]

 

Zaides’ Archive zäsuriert, arbeitet an der Liquidierung des medial Liquiden, allzu Flüssigen, lässt Verfügbarkeit aus den Fugen geraten: Ein Archiv, das in mehreren Richtungen und in keiner zugleich mehr als eine und keine Sprache mehr spricht, ein Archiv in plus d'une langue, so Derridas kürzeste Dekonstruktion-Definition.[26] Ein dekonstruktives, das heißt: kritisches Archiv. Ein Körperarchiv, das zugleich auf mehr als einen und auf keinen Grund mehr referiert, und gerade so verbindlich kritisch verbleibt.

 

Das anagrammatische Prinzip eines stets neuen Dokumentar- und Live-Bewegungsmaterialarrangements ohne präetablierte Anordnung deterritorialisiert Zaides’ choreographische Narration. „Vielleicht ist es das, was Gilles Deleuze Deterritorialisation nennt: ,Nicht das Territorium zu fliehen, sondern es porös werden lassen.‘“[27] Zaides’ choreographiertes Territorium wird auch porös, jedoch nicht transparent. Die Filmclips haben eine lesbare dokumentarische Referenz, die Live-Clips sind choreographisch opak.

 

Gerade die opake Choreographie des präzise Dokumentarischen wird zum Plädoyer für Potentialität, Entzug, Schatten - jenseits „an illuminated 24/7 world without shadows as the final capitalist mirage of post-history, of an exorcism of the otherness“[28]. Oder mit Giorgio Agambens Idee der Potentialität:

 

„darkness, we may therefore say, is in some way the color of potentiality [...] we see darkness [...] human beings can see shadows (to skotos), they can experience darkness: they have the potential not to see, the possibility of privation.“[29]

 

Aus jedem Schattenwinkel winkt hier Differenz, als wollte sie unser Blinzeln adressieren. Und wir suchen, wie in Heiner Müllers Bildbeschreibung, „die Lücke im Ablauf“, „den vielleicht erlösenden Fehler“, den Abstand „zwischen Blick und Blick“ - stets in der „Angst, dass der Fehler beim Blinzeln passiert“.[30] Es ist auch eine Art choreographischer Exorzismus in Zaides’ Doublieren, Kopieren, Imitieren. Wie später in Walid Raad’s subtil ironischer Lecture-Performance Kicking the dead (2017), in der angeblich Bildgespenster, konfrontiert mit ihren Doubles, endlich verschwinden. Die doublierten Images in Archive verweigern allerdings ein ironisches (wie bei Walid Raad) Oszillieren Fakt/Fiktion, überführen in ihrer kinästhetischen Faktizität das Dokumentarische nicht ins Fiktionale.

 

Die choreographische Mimesis setzt sich in Archive - gerade in der Repetition - ihrem Aussetzen aus, jederzeit abkömmlich ihr darstellendes Abkommen, voller Kontraktionen ihr Kontrakt, ihr unerträglicher, ertragloser, ent-werkter Kopie-Vertrag, ein Vertrag désœuvrée. Die Mimesis misst das Gemimte. So adressiert, apostrophiert sie Unsichtbares, Undarstellbares, apostrophiert es wieder im doppelten Wortsinn: auch als Apostroph, als ein ausgesetztes, schmerzendes Nichts - wie ein filmischer Schnitt, wie das Nichts zwischen den Archive-Clips, in das unser Blick hineinstürzt und noch Schmerzhafteres hineinprojiziert.

 

Wir, Zuschauer:innen, bezeugen das Archiv-Zeigen und zugleich Archiv-Erzeugen in einer Art wit(h)ness. Die Relation zwischen der Archiv-Mimesis und Archiv-Anagnorisis bleibt prekär, eine Nachahmung ohne klar Wiedererkanntes, eine exakte Referenz-Geste, jedoch ohne (klare) Bezüglichkeit, immer zu nah und zu fern zugleich. Erinnern wir uns an die unscharfen Nahaufnahmen der ersten Filmclips fliehender Menschen und zugleich an die Unschärfe von mehreren Fernaufnahmen, bei denen Distanz an erster Stelle auch Sicherheit für die filmenden palästinensischen Freiwilligen von dem Camera Project bedeutet, dessen Archiv Zaides untersucht.

 

„Don’t worry about the quality of the video... What is important is to record the event as it takes place“: Das ist wiederum eine der Internet-Instruktionen für Freiwillige, die die Ereignisse in Syrien 2011 filmen, zitiert (in Korrespondenz zum Dogme’ 95-Filmmanifest) in der bereits erwähnten Arbeit von Rabih Mroué The Pixelated Revolution (gepixelt auch die Screen-Gesichter in Archive, aus umgekehrten Sicherheitsgründen): Die zitierte Internet-Instruktion ist zugleich signifinkant gerade in all der Ambivalenz einer Formel wie „an event as it takes place“. It takes place when it doesn’t.

 

Um abschließend zu den inter-dramaturgischen Choreographie-Korrespondenzen zurückzukommen: Wie in Xavier Le Roy’s Giszlelle (entstanden 2001 wie Meg Stuarts ALIBI und Philipp Gehmachers good enough) werden die zitierten, stets umgestellten Bewegungssequenzen auch in Zaides’ anagrammatischer Anordnung immer kürzer, sie fokussieren immer mehr Abstraktion und Desartikulation. Zaides’ Re-membering eignet Gesten an, um sie zu enteignen, kollektioniert sie als Kollaps eines kollektiven Körpers, arbeitet an der Desintegration der Situation, um möglichst integer zu bleiben: im Wissen, dass eine Geschichte „repeated at least twice, is not simply individual“[31], im Wissen aber auch, dass „in not being individual, the repetition of a story [...] beyond survival, is singularity“[32]. Es ist zugleich und immer noch ein Wissen, dass „Mit-sein gegenseitig Sinn hervorbringen [heißt], und nur so“[33], oder in einem anderen, agentiell-realistischen Kontext formuliert: intraaktiv.

 

My name is Arkadi Zaides, sagte anfangs der Choreograph, der Übersetzer unserer singulären und kollektiven Verantwortung. Anfangs eine Erklärung, ein performatives Erklären, Bezeugen, Über-zeugen, Über-setzen. Im Übersetzen, im Wieder-holen der Differenz selbst sind Zaides und wir, Zuschauer:innen, von der Situation getrennt, geteilt - und nehmen gerade so daran teil. Nochmals: vielleicht being apart in order to be part of.Definiert und zugleich ent-finalisiert als singulär-plurale[34] Körper proben und problematisieren wir fortdauernd unsere „uneingestehbaren“, „verleugneten“, „herausgeforderten“, „ent-werkten“, „kommenden“ Communities. Archive akkumuliert, archiviert und aktiviertzugleich extra-dramaturgische Körperarchive auch intra-dramaturgisch - in Relationen ohne präetablierte Relata, Zugehörigkeiten und Gründe, von Körpern not fit for purpose, opak, Körpern, die einander mit Spiegelscherben blenden und dabei aber die eigenen blinden Flecken, die ob?scene-Zonen, die Schatten erblicken könnten.

 

Am Ende seiner Performance bleibt Zaides am Bühnenrand still und schaut uns länger an. Unsere Blicke unter seinem gehen die leeren Leinwände hoch und spielen jede Stabilität an die Wand, wie sie vorher immer wieder in die Risse zwischen den zusammen-auseinander-geschnittenen Dokumentarexzerpten stürzte. Als ob uns dabei wandernde Leuchtpunkte wie in Alÿs Children’s Game #15: Espejos aufsuchen, involvieren, blitzhaft blenden und zugleich am Wegschauen hindern. Punkte, die uns ‚treffen‘ - und wir ‚sind‘ nicht mehr, sind nicht mehr einfach wir, werden - intraaktiv - nicht einfach Publikum. Im simultanen Blicke-Übersetzen werden wir in die Choreographie involviert.Spulen wir also, wie Arkadi Zaides,die Sequenz zurück:

 

„Good evening. Thank you for coming. My name is Arkadi Zaides. I am a choreographer...“

 

 


LITERATUR:

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[2] Mein Text basiert auf der Vorstellung am 23.04.2016 im Tanzquartier Wien. Ich danke Arkadi Zaides für den Zugang zu allen Fotos und der Video-Aufzeichnung, aus der ich die Screenshots erstellt habe. Vgl. dazu auch Krassimira Kruschkova: “Disappearing Dance, Dancing Disappearance. On Arkadi Zaides’s choreography Archive“, in: Performance Research, Volume 24, 2019 - Issue 7: On Disappearance.

[3] Arkadi Zaides während eines öffentlichen Gesprächs am 24.04.2016 im Rahmen des künstlerisch-theoretischen Parcours‘ vom Tanzquartier Wien SCORES#11: Archives to come.

[4] George Bataille, zit. nach Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, 67.

[5] Maurice Blanchot: La Communauté inavouable, Paris: Les Éditions de Minuit 1984.

[6] Jean-Luc Nancy: „La Communauté désœuvrée.“ Aléa 4, 1983, 11-49; Jean-Luc Nancy: La Communauté affrontée, Paris: Galilée, 2001; La Communauté désavouée, Paris: Galilée 2014.

[7] Giorgio Agamben: La comunità che viene, Torino: Giulio Einaudi editore 1990.

[8] Krassimira Kruschkova (Hg.): Ob?scene. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Theater, Tanz und Film, Maske und Kothurn, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005.

[9] Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, l. c., 21.

[10] Ibid., 12.

[11] Michel Foucault: „Was ist ein Autor?“, in: F. Jannidis / G. Lauer / M. Martinez / S. Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2003, 201.

[12] Michel Foucault: “Von der Freundschaft als Lebensweise”, in: Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch, Berlin: Merve, 2005, 87. [„De l’amité comme mode de vie”, Le nouvel observateur, No. 1021 Paris, 1984.]

[13] Martina Hochmuth/Krassimira Kruschkova/Georg Schöllhammer (Ed.): It takes place when it doesn’t. On dance and performance since 1989, Frankfurt a. M.: Revolver, 2006.

[14] Rabih Mroué´: “I am here but you can’t see me“, in: Sigrid Gareis / Krassimira Kruschkova (Ed.): Uncalled. Dance and performance of the future / Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft, Berlin: Theater der Zeit 2009, 226.

[15] Vgl. Karen Barad: Agentieller Realimus, Suhrkamp, 2. Auflage 2017, 86f: „Der Begriff der Intraaktionen reformuliert die traditionellen Begriffe von Kausalität und Tätigsein in einerfortlaufenden Rekonfiguration sowohl des Wirklichen als auch des Möglichen.“

[16] Christoph Menke: „Das Spiel des Theaters und die Veränderung der Welt“, in: Olivia Ebert / Eva Hölling / Nikolaus Müller-Schöll / Philipp Schulte / Bernhard Siebert / Gerald Siegmund (Hg.): Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung, Bielefeld: transcript, 2018, 37-48, hier 48.

[17] Vgl. Walter Heun / Krassimira Kruschkova / Lejla Mehanovic ́/ Sandra Noeth ( Ed.): SCORES #3: uneasy going, Tanzquartier Wien 2011. http://2009.tqw.at/sites/default/files/Scores_No3_Webansicht.pdf

[18] Rabih Mroué: „ I am here but you can’t see me“, ibid. Vgl. dazu auch: Krasimira Kruschkova (Hg.): Ob?scene. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Theater, Tanz und Film, l. c.

[19] Frédéric Pouillaude: „Dance as Documentary: Conflictual Images in the Choreographic Mirror (On Archive by Arkadi Zaides)”, in: Dance Research Journal, 48:2, August 2016, pp. 80-94.

[20] Ibid.

[21] Ibid.

[22] Vgl. Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater“, in: ders: Sämtliche Werke und Briefe. 2 Bände, Hg. Helmut Sembdner, München 1952 und öfter, 7. Auflage, II.

[23] Vgl. Jean-Luc Nancy: Corpus, Berlin: Diaphanes 2003, 17.

[24] Vgl. Jean-Luc Nancy: „La Communauté désœuvrée“, l.c. Vgl. auch Frédéric Pouillaude: Le Désœuvrement chorégraphique. Etude sur la notion d’œuvre en danse, Paris, Vrin, 2009.

[25] „‚Bilder bis zum Sieg?‘ Ein Gespräch mit Rabih Mroué.“ https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tup/20812525.html

[26] Vgl. Jacques Derrida: Mémoires. Für Paul de Man, Wien: Passagen 1988, 31: „Wenn ich das Risiko eingehen müßte - Gott behüte mich davor - eine einzige knappe, elliptische und sparsame Definition der Dekonstruktion als ein Losungswort auszugeben, so würde ich einfach, ohne einen Satz zu bilden, sagen: mehr als eine Sprache/nichts mehr, was einer Sprache angehört (plus d’une langue).“

[27] Marcus Steinweg: Subjekt und Wahrheit, Berlin: Matthes & Seitz, 2018, 62.

[28] Jonathan Crary: 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep, London/New York: Verso, 2013, 9.

[29] Giorgio Agamben: Potentialities: Collected Essays in Philosophy. Stanford/California: Stanford University Press 1999, 180f.

[30] Heiner Müller: „Bildbeschreibung “ (1984), in: Frank Hörnigk (Hg.): Heiner Müller Material, Leipzig: Reclam jun. 1989, 14.

[31] Shoshana Felman: The Juridical Unconscious: Trials and Traumas in the Twentieth Century. Cambridge MA, Harvard University Press, 2002, 52.

[32] André Lepecki: Singularities. Dance in the age of performance, London/New York: Routledge, 2016, 176.

[33] Vgl. Jean-Luc Nancy: singulär plural sein, Diaphanes 2004, 129. [Nancy, Jean-Luc : Être singulier pluriel, Paris: Galilée, 1996]

[34] Vgl. Jean-Luc Nancy: Singulär plural sein, Berlin: Merve 2004, 25. [Jean-Luc Nancy: Être singulier pluriel, Paris: Galilée1996.]: „Das Gesetz des Berührens ist Trennung. Und mehr noch, es ist die Heterogenität der Oberflächen, die sich berühren [...], insofern die eigentliche Kraft eines Körpers in dessen Eigenschaft besteht, einen anderen Körper oder sich zu berühren, was nichts anderes ist als seine De-Finition als Körper.“

 
(13.03.2023)