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Beraubte Zukunft
SANJA KRSMANOVIĆ TASCIĆS THEATRALER ESSAY ÜBER DEN UNGEKLÄRTEN TOD DER JOURNALISTIN DADA VUJASINOVIĆ
Auf einer fahrbaren Leinwand werden im abgedunkelten Bühnenraum des Belgrader Bitef-Theaters Aufnahmen von der Beerdigung Josip Broz Titos projiziert: Zu sehen ist der historische Trauerzug in Belgrad vom 8. Mai 1980; Nachaufnahmen salutierender Offizier*innen sowie unter Tränen aufgelöste Gesichter von Zivilist*innen. Die Bilder liefern in komprimierter Form emotionale Eindrücke des Ereignisses bei dem knapp eine halbe Millionen Menschen anwesend und 128 Nationen vertreten waren. Die Projektionen des trauernden Kollektivkörpers, der sich zu Ehren Titos formierte, spiegeln zugleich staatliche Repräsentationsformen des sozialistischen Jugoslawiens wider: Spezifische ideologische Implikationen, wie etwa die Idee der Vergemeinschaftung vieler Bereiche des öffentlichen Lebens, werden in Form von Inszenierungen von Massen veräußerlicht. Im Gegensatz zu anderen Spektakeln, wie beispielsweise dem Tag der Jugend am 1. Mai oder dem Tag der Republik am 29. November, an denen historische Triumphe sowie Brüderlichkeit und Einheit zelebriert wurden, vereinte die Beerdigung Titos als einmaliges Ereignis die sozialistische Gemeinschaft in kollektiver Trauer. An einen möglichen Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaates dachte trotz Wirtschaftskrise und innerpolitischen Spannungen zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
In O s(a)vesti – Esej u pokretu o Dadi Vujasinović/Über das Gewissen/das Bewusstsein – Essay in Bewegung über Dada Vujasinović überträgt die Künstlerin Sanja Krsmanović Tasić die emotionale Bindungskraft kollektiv durchlebter Trauer mittels projizierter Bilder von Titos Beerdigung auf die Trauer um die Journalistin Radislava „Dada“ Vujasinović. Im Anschluss an die Bilder des Trauerzugs liest die Künstlerin einen Brief der Journalistin vor, den sie zu Beginn der 1990er Jahre an eine Freundin verfasste und in dem sie den Verlust ihrer Heimat und ihrer Identität beklagt: „Es ist schlimm, wenn Schurken einem Menschen die Heimat wegnehmen. Wenn jemand versucht mich davon zu überzeugen, wo ich jetzt lebe, sei Jugoslawien, frage ich ‚was für ein Jugoslawien?‘ […] Für mich gibt es kein Jugoslawien mehr.“[1]
Die Inszenierung über das Leben, Wirken und den Tod der Journalistin baut auf dem persönlichen Trauerprozess der Künstlerin um ihre Freundin auf, die am 8. April 1994 tot in ihrem Apartment in Neu-Belgrad aufgefunden wurde. Krsmanović Tasić geht trotz bis dato ungeklärter Todesursache in ihrer Inszenierung davon aus, dass die damals dreißigjährige Journalistin aufgrund ihrer investigativen Arbeit ermordet wurde. Seit der Premiere am 8. April 2014 – dem 20. Todestag, wird die Inszenierung jährlich am 8. April auf verschiedenen Belgrader Bühnen aufgeführt.
Anfang der 1990er Jahre berichtete Vujasinović zunächst über die sogenannten Meetings in Bosnien und Herzegowina und in der damaligen Krajina.[2] Kurz nach Beginn der Belagerung Sarajevos beendete sie ihre Tätigkeit als Kriegsberichterstatterin: „Ich kann nicht darüber schreiben, wie eine Stadt zusammenbricht und Kinder getötet werden.“[3] Von 1992 bis zu ihrem Tod veröffentlichte Vujasiović ausschließlich Artikel über die politische Szene der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien, über organisierte Kriminalität, Polizei, Militär und Kriegsprofiteur*innen. Ihre Berichterstattung über die Srpska dobrovoljačka garda/Serbische Freiwilligengarde, eine von Željko Ražnatović „Arkan“ angeführte paramilitärische serbische Freischar, markiert den Beginn einer Reihe von Arbeiten über den mutmaßlichen Kriegsverbrecher und Kriminellen. Vujasiović machte somit auf die Kriminalisierung von Politik und Gesellschaft sowie auf die Korrumpierbarkeit des Milošević-Regimes aufmerksam, die seit dem Wirtschaftsembargo von 1992 stetig zunahm. Neben öffentlichen Drohungen vonseiten Arkans erhob die Milošević-Partei Socijalisticka Partija Srbije/Sozialistische Partei Serbiens (SPS) Klage gegen die Journalistin. 1993 sprach Vujasiović in der Sendung Utisak nedelje/Wocheneindruck öffentlich über die Reaktionen auf ihre journalistische Arbeit. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Slavko Ćuruvija, der 1999 in Belgrad auf offener Straße ermordet wurde, diskutierten sie in der Sendung über die Zunahme von Drohungen, Erpressungen und Klagen gegen investigative Journalist*innen und Kritiker*innen des Milošević-Regimes.
Erste Ermittlungen zum Tod der Journalistin kamen zu dem Ergebnis, dass Vujasinović mit einem Jagdgewehr Selbstmord beging. Weitere forensische Untersuchungen im Jahr 2006 zweifelten die Ergebnisse dieser ersten Untersuchung an, jedoch konnten bis heute die genauen Umstände ihres Todes nicht ermittelt werde. Auf die Frage, warum gerade zum 20. Todestag der Journalistin die Aufführung O s(a)vesti produziert und uraufgeführt wurde, antwortet die Künstlerin Krsmanović Tasić mit ihrer Trauer um die Freundin. Diese musste sie zunächst persönlich verarbeiten, um sich schließlich im professionellen Kontext dem Thema zuwenden zu können. Ihr Wunsch sei es, Dada Vujasinovićs Geschichte zu erzählen, gemeinsam mit dem Publikum, das nicht bloß aufs Schauen reduziert wird, sondern aktiv daran mitwirken soll.[4]
‚Pozorišni esej/Theateressay‘ oder auch ‚Esej u pokretu/Essay in Bewegung‘ bezeichnet eine von Krsmanović Tasić konzipierte Aufführungsmethode, mit der das Publikum direkt in den Verlauf der Aufführung eingreifen und selbst als ‚Autor*innengemeinschaft‘ von Vujasinovićs performativer Biographie beziehungsweise als Erinnerungsgemeinschaft am Jahrestag ihres Todes in Erscheinung treten kann. Das Wortspiel O s(a)vesti ist zusammengesetzt aus den Begriffen Svest/Bewusstsein und Savest/Gewissen und greift die verallgemeinerbare Bedeutungsebene der Aufführung auf: Es geht um ein moralisches und ethisches Bewusstsein über die persönliche, soziopolitische und historische Tragweite des Mordes an der Journalistin und um die Verteidigung demokratischer Grundwerte wie Meinungs- und Pressefreiheit. Das Wort osvesti/erwache, erwecke oder kläre auf, das ebenfalls im Titel enthalten ist, kann in Zusammenhang mit dem partizipatorischen Ansatz als direkte Aufforderung an das Publikum gedeutet werden, ein Bewusstsein für die Verbrechen im Kontext der jugoslawischen Zerfallskriege zu entwickeln. Krsmanović Tasićs performativen und formal divergierenden Nachempfindungen beider historischer Ereignisse (Tod der Journalistin, Zerfallskriege der SFRJ) stellen einen szenischen Versuch dar, diese zudem in ihrer gegenwärtigen Tragweite zu begreifen. Zudem reflektiert sie diese stets vor der Folie von Dada Vujasinovićs journalistischer Arbeit. Daraus erschließen sich die formalen beziehungsweise konzeptuellen Referenzen zum Essay-Begriff von Michel de Montaigne aus dem 16. Jahrhundert, der im Programmheft wie folgt erläutert wird: „Kurze Diskussion einer wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen und öffentlichen Frage, die fließend geschrieben, leicht literarisch und überhaupt nicht oberflächlich zu verstehen ist, und somit als Experiment oder Versuch gedacht werden kann.“[5]
In der Soloperformance geht die Künstlerin von ihren Erinnerungen an Vujasinović aus, die sie dem Publikum in Form von Schlagwörtern präsentiert und als Fußnoten ihres theatralen Essays bezeichnet. Die insgesamt 14 Fußnoten bestehen aus den Schlagwörtern: Blok/Block, Rad/tna biografija/Kriegs-/Arbeitsbiographie, Etika/Ethik, Lično/Persönlich, Lada, Gliste/Würmer, Utisak/Eindruck, Položaj tela/Stellung des Körpers, Govor/Rede, Danas/Heute, Godine/Jahre, Čips i pivo/Chips und Bier, SFRJ und Istraga/Untersuchung. Hinter jedem Schlagwort, beziehungsweise hinter jeder Fußnote verbergen sich entweder persönliche Einnerungsartefakte der Künstlerin oder historisches Quellenmaterial, das wiederum spezifische Erinnerungen an Dada Vujasinović evozieren soll.
Einige Schlagwörter referieren zudem auf gegenwärtige soziopolitische Verhältnisse oder enthalten Botschaften, die an ein universales Verständnis von Moral und Ethik appellieren. Die letzte übriggebliebene Fußnote hingegen wird am Ende der Performance nicht umgeworfen beziehungsweise aufgedeckt, ihr Inhalt bleibt im Verborgenen, ungeklärt. Sie fungiert als Analogie zu den ebenso ungeklärten Todesumständen der Journalistin. Dies kommuniziert Krsmanović Tasić am Ende der Fußnotenabfolge ans Publikum. Die vorgeschlagenen Fußnoten sind inhaltlich so gestaltet, dass sie stets mehrere Verbindungen zwischen der Geschichte der SFRJ und der Biographie der Journalistin erzeugen. Dies erfolgt insofern, als dass beispielsweise neben der Fußnote „SFRJ“, hinter der sich eine Referenz auf das sozialistische Jugoslawien befindet, auch bei der Fußnote „Blok“ eine Verbindung zur sozialistischen Vergangenheit hergestellt wird. Das gleiche gilt für Referenzen auf gegenwärtige Verhältnisse sowie auf die Kriegsjahre, von denen ebenfalls mehrere Fußnoten handeln.
Das Bühnenbild und mit ihm das szenische Setting von O s(a)vesti – Esej u pokretu spürt auf der Theaterbühne der Wohnung der ermordeten Journalistin nach. Das Wohnzimmer ziert ein roter Sessel, ein kleiner Beistelltisch und eine Stehlampe. Die Raumgestaltung evoziert Erinnerungen an die medial verbreiteten Bilder des Wohnzimmers von Vujasinovićs Wohnung beziehungsweise an den Tatort des Verbrechens. Mit dieser Gestaltung des Bühnenraums nähert sich die Künstlerin konkreten Spuren des Verbrechens, indem sie die ‚crime scene‘ als Theaterkulisse inszeniert. Mit Rückgriff auf ein kollektives (Bild-)Wissen tritt das Bühnenbild als Art ‚forensic Architecture‘ in eine Korrespondenz mit öffentlichen Erinnerungsdiskursen. Mittels forensischer beziehungsweise investigativer Ästhetik, die in O s(a)vesti zum Tragen kommt, kann das vergangene Ereignis vergegenwärtigt beziehungsweise die Zeit verlangsamt werden, um intensiver auf Raum, Materie und Bild eingehen zu können. Daraus können wiederrum neue Erzählweisen in der Artikulation von Wahrheitsansprüchen hinsichtlich der Todesursache der Journalistin resultieren.[6]
Das Publikum als Erinnerungsgemeinschaft
Eine direkte Beteiligung des Publikums an der Inszenierung setzt die Künstlerin um, indem sie es lauthals aufruft, eine der mit Schlagwörtern versehenen Fußnoten, die als Fahnen seitlich des Bühnenraums aufgestellt sind, auszuwählen. Die Beteiligung des Publikums an der theatralen Spurensuche bestimmt dementsprechend den Ablauf des Bühnengeschehens. Das Publikum wird somit nicht nur zum integralen Bestandteil der Aufführung, sondern beteiligt sich aktiv an dessen Entstehungsprozess. Durch diesen partizipatorischen Ansatz wird das Persönliche und Individuelle zur kollektiven Herausforderung und zum gemeinschaftlich erlebten und erarbeiteten Denk- und Erinnerungsprozess. Die emotionale Dimension der Aufführung wird durch die aufgegriffene intime Beziehung zwischen der Künstlerin und der Journalistin gespiegelt, wenn etwa Bilder aus der Kindheit auf Leinwand projiziert werden. Die persönliche Trauer um ihre Freundin setzt die Künstlerin dementsprechend gezielt dazu ein, um beim Publikum einen Denkprozess über die politische, soziale sowie historische Bedeutung Vujasinovićs zu aktivieren. Die Partizipation wird so zu einem solidarischen Akt und die Aufführung zur kritischen Reflexionsfolie gegenwärtiger Erinnerungsdiskurse. Die Theaterkritikerin Ana Tasić sieht bei O s(a)vesti die Trennung von Publikumsraum und Bühne gar aufgelöst und die Aufführung selbst als gemeinsamen Kraftakt sich der Vergangenheit zu stellen:
„Die sogenannte vierte Wand existiert nicht, die Trennlinie zwischen der Schauspielerin und dem Betrachter existiert nicht, die Bühne ist ein gemeinsamer Raum des Erinnerns und der Befragung der Vergangenheit, mit einem Akzent auf die schmerzhaften und blutigen 1990er Jahre in der Region des ehemaligen Jugoslawiens.“[7]
Das politische Potential von O s(a)vesti liegt demnach weniger darin, dem Publikum einen bestimmten Inhalt didaktisch zu vermitteln, sondern in der Auslotung verschiedener Eingriffsmöglichkeiten in das Kunstwerk selbst. Die Zuschauer*innen sind an der Herstellung, dem Ablauf und folglich am Gelingen von O s(a)vesti aktiv beteiligt, wodurch sie im doppelten Sinn herausgefordert und verantwortet werden: Sie sind zugleich Zuseher*innen und Mitproduzierende der Aufführung sowie Zeug*innen der Geschichte von Dada Vujasinović.
Nachdem alle Fußnoten aufgedeckt wurden und das Quellenmaterial erläutert, wird gegen Ende der Aufführung der eigentliche theatrale Essay über Dada Vujasinović als ca. zehnminütige Tanzperformance präsentiert. Die zuvor offengelegten und künstlerisch interpretierten Fußnoten werden zu einem Ganzen zusammengefügt. Um diese vom Publikum konzipierte Erzählung über die Journalistin zu visualisieren, verwendet Krsmanović Tasić diverse künstlerische Mittel, wie etwa Video- und Bildmaterial, empfindet den Inhalt tänzerisch oder mit Schattenspielen nach, oder trägt diesen in Form einer Lecture-Performance vor. Daraus erschließt sich der wesentliche Charakter der Inszenierung, der zum einen multimediale und genreübergreifende Komponenten birgt, dabei aber mehr einer fragmentierten und kollektiven Spurensuche nach verlorenen beziehungsweise verdrängten Erinnerungen gleicht, als einer Aufführung mit vorgegebener Zeitstruktur und inhaltlichem Ablauf. Hervorzuheben wäre der von den Fußnoten ausgehende, prozessuale, beinahe Brecht´sche Charakter der Aufführung: Trauer, Erinnerung, Reflexion werden in Bewegung gesetzt, Aufbau und Struktur der Inszenierung offengelegt, der illusorische Charakter der Aufführung tritt zurück. Dem Publikum kommt eine partizipative Rolle zu, die eine Ko-Autor*innenschaft motiviert. So entsteht ein Raum, in dem eine temporäre Erinnerungsgemeinschaft einen Akt ‚moralischer‘ und ‚intellektueller Trauer‘ vollzieht. Der Todestag der Journalistin, an dem die Inszenierung aufgeführt wird, fungiert dabei als Verstärker, indem er die Vergangenheit in die Gegenwart einfädelt und somit ein Verständnis von Zeit als chronologisch-linearem Ablauf durchkreuzt.
Jahrestage, die im Zeichen kollektiver Trauer stehen, fungieren gemäß Aleida Assmann als ‚Denkmäler in der Zeit‘ und können das, was immer ferner rückt, periodisch zurückholen und wieder ins Bewusstsein bringen.[8] Stehen diese im Zeichen der kollektiven Trauer über vergangene traumatische Ereignisse und der mit ihnen verbundenen Verluste, kann daraus moralische Trauer erwachsen. Denn „[d]as zu Betrauernde […] ist nicht bloß der rein ‚persönliche‘ Verlust, sondern im Horizont der Geschichte vor allem das, was niemals hätte geschehen dürfen.“[9] Trauer, so Jörn Rüsen, ist zudem kein Zustand, sondern ein Vorgang, ein Prozess, eine Aktivität des Subjekts, eine Praxis des Leidens und vollzieht sich in äußeren und aktiven Handlungen.[10] Trauer obliegt zudem eine historische Dimension mit intellektuellen und moralischen Implikationen sowie eine Wechselwirkung zwischen dem individuellen Verlust eines Trauernden und der Ontologie des Weltverhältnisses.[11] Insbesondere, wenn sich Trauer auf bestimmte Vorgänge der Geschichte bezieht, die für die Gegenwart von Bedeutung sind, entsteht eine historische Nachträglichkeit der Trauer, die von der Erinnerung gespeichert und in Relation zur Gegenwart verhandelt wird.[12] Diese Nachträglichkeit kann sich auch in der ‚moralischen Schuld‘ und ‚historischen Verantwortung‘ äußern, indem das zu Betrauernde nicht einfach als Verlauf der Geschichte, sondern als beraubte Zukunft aufgefasst wird.
Für Burkhard Liebsch stellt die moralische Trauer eine Verurteilung der Geschichte dar, einen Protest gegen den Tod selbst, der eine Verarbeitung, Überwindung oder gar eine Versöhnung nicht zulässt: „Die Seele der moralischen Trauer ist aber der Protest – im Zeichen der niemals ganz zu tilgenden Differenz zwischen Gewesenem und dem, was hätte anders werden können oder nie hätte geschehen dürfen.“[13] Durch die moralische Trauer wird diese niemals ganz zu tilgende Differenz zum Versprechen der Überlebenden an die Gegenwart und Zukunft, gewaltvolle Verbrechen nicht (wieder) zuzulassen. Moralische Schuld sowie historische Verantwortung können hierbei in Anlehnung an Michael Schefczyk als Trauer und Entsetzen selbst verstanden werden, die ein Individuum oder ein Kollektiv mit den Opfern teilt.[14]
Mit der Aufarbeitung von historischen Verbrechen zwangsläufig einhergehende Kategorien von Versöhnung, Vergebung oder Wiedergutmachung werden dabei getilgt, denn diese befördern hinsichtlich des zu betrauernden, nicht-wiedergutzumachenden Verlusts eine Schlussstrichmentalität.[15] Deshalb benötigt man im Umgang mit der historischen Gewalterfahrung nach Christian Wevelsiep einen „[…] spezifischen Dialog, die gesellschaftliche Begegnung unterschiedlicher Kollektive, den Austausch zwischen Nationen und Gemeinschaften von unten.“[16]
Dieser spezifische Dialog ‚von unten‘ kann unter anderem von Theaterkünstler*innen befördert werden, indem sie mit ihren Werken als ‚bottom-up‘-Zugriffe in hegemoniale Erinnerungsdiskurse sowie in Konstitutionsprozesse von Geschichte eingreifen.[17] In Anlehnung an James E. Youngs Ausführungen zu künstlerischen Reflexionen über die Shoah verweist Jens Kastner auf drei spezifische Voraussetzungen für Kunstwerke, damit diese „[…] die Geschichtsschreibung zu komplexeren Vergangenheitsnarrationen“[18] inspirieren: (1) Sie dürfen nicht auf Versöhnung ausgerichtet und somit ‚erlöserisch‘ sein. (2) Die Künstler*innen müssen sich ihrer ethischen und historischen Verpflichtung bewusst sein, den Erinnerungsprozess selbst zum Thema zu machen. (3) Und schließlich müssen die Ursachen für historische Gewaltverbrechen reflektiert werden.[19] Theaterinszenierungen, wie etwa O s(a)vesti, die anlässlich bedeutender Trauertage einen Dialog forcieren, einen Raum für gesellschaftliche Begegnungen bieten und einen Austausch von Geschichten ermöglichen, können hierbei in Anlehnung an Assmann als ‚theatrale Denkmäler in der Zeit‘ verstanden werden: Sie verankern das Gefühl der Trauer sowie Erinnerungen an schmerzhafte Ereignisse und Verluste im Hier und Jetzt der Aufführung. Sie konzipieren dabei eine Form von moralischer sowie intellektueller Trauer. Der Verlust ‚der Anderen‘ wird zum ‚Zeichen des Nichtwiedergutzumachenden‘ und Trauer somit zum Korrektiv der Gegenwart.[20]
In der Aufführung O s(a)vesti werden die moralischen Implikationen von Trauer vor dem historischen Hintergrund der mutmaßlichen Ermordung Dada Vujasinovićs verhandelt und dabei stets in Relation zum gewaltvollen Zerfall der SFRJ gesetzt. Die im Theater auf die Rezipient*innen übertragenen Handlungsalternativen ermöglichen ihnen, einen Teil der Verantwortung für die (künstlerische) Aufarbeitung des mutmaßlichen Mordes an der Journalistin zu übernehmen. Ihr Tod wird in der Resonanz zwischen der persönlichen Trauer der Künstlerin und der moralischen Trauer, die auf das Publikum übertragen wird, in Bezug auf seine ontologische Bedeutung verhandelt: Die ontologische Bedeutungsebene des Todes der Journalistin drückt sich dabei in dessen Sinnlosigkeit aus, der nur im Erzählen und aktiven Erinnern entgegengewirkt werden kann. Mit O s(a)vesti kehrt Krsmanović Tasić in einer patriarchalen Erinnerungskultur festgeschriebene Geschlechterrollen um, indem hinsichtlich der jugoslawischen Zerfallskriege anstelle eines zu beweinenden männlichen Helden, eine zu betrauernde Frau tritt, die sich mit ihrer journalistischen Arbeit männlichen Kriegsakteuren entgegenstellte. Zudem können an der Person Vujasinović Erinnerungen an die Kriegsjahre geknüpft und Identifikationsangebote fernab des patriarchal dominierten Mainstreams bereitgestellt werden. Die Erfahrungen der Journalistin, ihr Wirken und ihr Tod, lassen sich somit als Gedächtnisorte einer alternativen Erinnerungskultur verankern, wenn diesen nachgespürt wird und sie mittels Wiederholung im kalendarischen Gedächtnis verankert werden. Dadurch „lassen sich Bausteine zu einer gendersensiblen, nicht hegemonialen […] Erinnerungskultur schaffen“.[21] Die Aufführung O s(a)vesti markiert Vujasiović somit als historisches und aktiv handelndes Subjekt, wodurch weibliche Handlungsräume innerhalb männlich dominierter erinnerungskultureller und geschichtspolitischer Gefüge eröffnet werden.
Fußnoten:
- ^ Hleb Teatar. 2020. O s(a)vesti – Esej u pokretu o Dadi Vujasinović. 08.04.2020, Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=_lN7eJTuyh8&ab_channel=HlebTeatar [zuletzt aufgerufen am 19.11.2022].
- ^ Versammlungen serbischer Kriegsakteur*innen, nationalistischer Hardliner*innen wie Vojislav Šešelj und ihrer Anhänger*innen wurden als 'Meetings' bezeichnet. Bei diesen Meetings wurden großserbische Ideen propagiert und zum Widerstand gegen den neugegründeten kroatischen Staat aufgerufen.
- ^ Hleb Teatar. 2020. O s(a)vesti – Esej u pokretu o Dadi Vujasinović. 08.04.2020, Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=_lN7eJTuyh8&ab_channel=HlebTeatar [zuletzt aufgerufen am 19.11.2022].
- ^ Kožul, Dejan. 2017. O Dadi Vujasinović: 'Ona je uzor i inspiracija'“, Lupiga. 24.04.2017. Verfügbar unter: https://www.lupiga.com/intervjui/o-dadi-vujasinovic-ona-je-uzor-i-inspiracija [zuletzt aufgerufen am 19.11.2022].
- ^ Vujaklija, Milan. 2014. Esej, Programmheft des Bitef-Theaters zu Sanja Krsmanović Tasićs 'O s(a)vesti – Esej u pokretu o Dadi Vujasinović', Belgrad.
- ^ Weizmann, Eyal. 2018. Forensische Architektur. Gewalt an der Grenze der Nachweisbarkeit, Figurationen 19/2, S. 143-161, S. 158.
- ^ Tasić, Ana. 2014. Pozorište i sećanje, Ludus [online]. 22.12.2014. Verfügbar unter: https://ludus-online.rs/category/teme/page/4/, 08.04.2021 [zuletzt aufgerufen am 19.11.2022].
- ^ Assmann, Aleida. 2005. Jahrestage. Denkmäler in der Zeit. In Paul Münch (Hg.), Jubiläum, Jubiläum…Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerungen. Essen: Klartextverlag, S. 305-314, S. 113.
- ^ Liebsch, Burkhard, und Rüsen, Jörn. 2001. Vorwort, In In Burkhard Liebsch und Jörn Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln [u.a.]: Böhlau, S. 7-14, S. 8.
- ^ Rüsen, Jörn. 2001. Historisch trauern – Skizze einer Zumutung, In Burkhard Liebsch und Jörn Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln [u.a.]: Böhlau, S. 63-84, S. 66.
- ^ Rüsen, Jörn. 2001. Historisch trauern – Skizze einer Zumutung, In Burkhard Liebsch und Jörn Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln [u.a.]: Böhlau, S. 63-84, S. 69.
- ^ Rüsen, Jörn. 2001. Historisch trauern – Skizze einer Zumutung, In Burkhard Liebsch und Jörn Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln [u.a.]: Böhlau, S. 63-84, S. 70.
- ^ Liebsch, Burkhard. 2001. Trauer als Gewissen der Geschichte?, In Burkhard Liebsch und Jörn Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln [u.a.]: Böhlau, S. 15-62, S. 52.
- ^ Schefczyk, Michael. 2012. Verantwortung für historisches Unrecht. Eine philosophische Untersuchung, Berlin [u.a.]: De Gruyter, S. 175.
- ^ Sundhaussen, Holm. 2011. 'Wenn ein Deutscher eine serbische Geschichte schreibt…'[*]. Ein Beitrag zum (Miss-)Verstehen des Anderen, Zeitgeschichte Online [online]. 01.03.2011. Verfügbar unter: https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/wenn-ein-deutscher-eine-serbische-geschichte-schreibt [zuletzt aufgerufen am 19.11.2022].
- ^ Wevelsiep, Christian. 2016. Umstrittene Geschichte. Der Genozid an den Armeniern und die Aufgabe der Historie, theologie.geschichte, Nordamerika [online]. 10.06.2016. Verfügbar unter: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/tg/article/view/845/889 [zuletzt aufgerufen am 19.11.2022].
- ^ Kastner, Jens. 2009. Zeitgenössische Kunst als erinnerungspolitisches Medium in Lateinamerika. In Berthold Molden und David Mayer (Hg.), Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika. Wien [u.a.]: LIT, S. 191-213, S. 191.
- ^ Kastner, Jens. 2009. Zeitgenössische Kunst als erinnerungspolitisches Medium in Lateinamerika. In Berthold Molden und David Mayer (Hg.), Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika. Wien [u.a.]: LIT, S. 191-213, S. 198.
- ^ Ebd.
- ^ Liebsch, Burkhard. 2001. Trauer als Gewissen der Geschichte?, In Burkhard Liebsch und Jörn Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln [u.a.]: Böhlau, S. 15-62, S. 60.
- ^ Schraut, Sylvia, und Paletschek, Sylvia. 2006. Erinnerung und Geschlecht – auf der Suche nach einer transnationalen Erinnerungskultur in Europa. Historische Mitteilungen 19, S. 15-28, S. 15.