Kannibalen wie tanzende Tierchen

DER TANZ, DIE REGIMES, DAS FORMLOSE UND DIE ANTROPOPHAGIE

Von Nicole Haitzinger und Jack Hauser

Eine Wissenschaftlerin und ein Künstler schreiben einander. Sie versuchen zu verstehen, was Tanz ist oder warum Tanz so ist, wie er ist, oder ob er überhaupt so ist, wie er angeblich zu sein hat. Ein assoziatives Netz zwischen Ludwig XIV., Gott, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Perspektivismus und Transsubstantion, Michel de Certeau, Norbert Wiener und Heinrich von Kleist.

(Haitzinger:)

Ludwig XIV. tanzt, bis er sein Regime statisch gemacht hat. 1662 legt er, der vormals selbstinszenierte tanzende Sonnenkönig, als der höchste und mächtigste Repräsentant und Verfasser zwölf prinzipielle und allgemeingültige Statuten für die Gründung einer Tanzakademie fest. Der öffentliche und theatrale Tanz wird unter die Kontrolle von dreizehn ernannten professionellen und an die Akademie berufenen Tanzmeistern gestellt.

(Hauser:)

O Herrscher!
Du bist mit mir.
Du gibst mir Sicherheit.
Du gibst mir eine Bestimmung.
Du entscheidest über Leben und Tod.

In den choreografierten Massengymnastiken und Triumphveranstaltungen des kommunistischen Ostens und des faschistischen Westens transformierte sich die dargestellte Stärke, Schönheit, Jugend und Disziplin in den gesellschaftlichen Körper und legitimierte die jeweilige politische Führerschaft, die diese Rituale von den Tribünen beobachtete.
Wurde das Volk als kontrolliertes Regelwerk sich selbst glücklich auffällig?
Das führt zu allgemeinen Fragen.
Wieso gefallen sich Künstler vor den Augen ihrer Mächtigen (Produzent, Kritiker, Publikum...)?
Ist das Publikum ein Gott?
Will man Gott gefallen?

Wissen die Herrscher bzw. wusste Ludwig XIV. vom „tanzenden Tierchen“, wie Jean-Luc Nancy im letzten Absatz seines Textes Alliterationen schreibt, „das nicht wird, was es ist, sondern es wird, was es an Raum aufspannt, es wird, was es an Abstand einnimmt, wird die res extensa, die es genau im Maße einer liebevollen Hysterie im Rhythmus der Chorestesie dehnt“, und wollte er durch seine Vorschriften das Ekstatische der Existenz sistieren?

Wissen beziehungsweise wussten die Tänzerinnen aller Kulturepochen von ihrem Potential, die herrschaftliche Macht so grundlegend herausfordern zu können?

Wäre eine philosophisch motivierte Revolution der momentanen Machtverhältnisse möglich?
Gibt es eine Revolution durch Tänzerinnen?

Wie ist die Geschichte als radikal beweglicher Wissensspeicher anzuwenden und nicht als Legitimation von Herrschaft?
Beweglich tauscht sich nun mit beliebig.
Wie ist die Geschichte als radikal beliebiger Wissensspeicher anzuwenden?

Jacques Rancière schreibt in Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien: „Ich meine das Museum, jener Ort, an dem einsame und passive Besucher auf die Einsamkeit und Passivität von Werken treffen, die ihrer alten Funktion als Ikonen des Glaubens, als Embleme der Macht oder als Dekoration für das Leben der Reichen und Mächtigen entkleidet wurden.
Genau das meint ,Ästhetik‘. Ästhetik bezeichnet nicht die Kunstwissenschaft oder Kunstphilosophie im Allgemeinen. Mit Ästhetik ist zuallererst ein neues Regime der Identifizierung von Kunst gemeint, das sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Es handelt sich um ein bestimmtes Regime der Freiheit und der Gleichheit von Kunstwerken, in dem diese nicht mehr aufgrund der Herstellungsregeln oder der Hierarchie ihrer Bestimmung als Kunstwerke gelten. Vielmehr sind sie zu gleichberechtigten Bewohnern eines neuartigen Sensoriums geworden, in dem die Mysterien des Glaubens, die großen Taten der Prinzen und Helden, eine holländische Dorfschenke, ein kleiner spanischer Bettler oder eine französische Obst- oder Fischauslage beliebig dem Blick des zufälligen Passanten ausgesetzt sind – also nicht der Gesamtheit der Bevölkerung, der Vermischung aller Klassen, sondern dem Subjekt ohne besondere Identität, das ,Irgendjemand‘ heißt.
[...] Eine kritische Kunst muss also auf ihre Weise eine Kunst der Gleichgültigkeit sein, eine Kunst, die ihren Punkt bestimmt, an dem Wissen und Nichtwissen, Aktivität und Passivität äquivalent sind.“

In unserer Kultur braucht es einen unglaublichen Mut, sich mit formlosem Material zu beschäftigen und seine Schönheit zu behaupten.
Wir könnten uns doch mehr bedeuten.

(Haitzinger:)

Für unseren Dialog scheint perspective im Sinne von ‚Sehkunst‘, ‚Fernsicht‘ und perspectivus ‚durchschauend‘ von perspicere ‚mit dem Blick durchdringen‘ von besonderer Relevanz zu sein: nämlich Tanz als Perspektive denkbar zu machen. Dies schließt die Möglichkeit von Wendungen, von Setzungen ein und bedingt eine Vorstellung von Artifizialität; auch in Hinblick auf die Entscheidung, etwas, ein Ereignis als Tanz wahrzunehmen. Den Schwarm von Vögeln als Choreographie zu rezipieren, heißt in ihm eine verborgende Ordnung, ein bestimmtes Gesetz, spezifische Strukturen in ihren Bewegungsmustern zu erkennen. Und diese Erkenntnis setzt ein Wissen über Tanz voraus, wie auch die Konzeption eines theatralen Ereignisses ein Wissensrepertoire (über die Modellierung von Körperlichkeit, über Konzepte der Präsenz und Absenz) aufruft. Hier setzt die Gestaltung, der Kontrollmechanismus an, und gleichzeitig kann sich Subversion entfalten.

Wie in kaum einer anderen Kunst sind die Stereotypisierungen, wenn man über Tanz spricht, von offensichtlicher Allgemeingültigkeit und werden undifferenziert in einer Geschichtlichkeit argumentiert, die so und per se, also linear und kontextlos, nicht existiert. Und diese Generalisierungen gilt es zu durchschauen, zu durchdringen. Tanz kann in der Perspektivierung des Machens und des Seins als komplexes Verhältnis in Erscheinung treten. Keines ist ohne das andere erlebbar, denkbar, sie bedingen einander, und gleichzeitig sind sie nicht bedingungslos voneinander abhängig. Das mag wie ein Widerspruch klingen, doch Tanz ist nicht und nie eindeutig bestimmbar, da er sich nicht ausschließlich, doch auch im jenseits des Sichtbaren wie Sagbaren ansiedeln lässt und weil er immer wieder über seine Aufrufung von (repräsentativer, präsentischer, absenter Körperlichkeit) Fiktionen und Neuordnungen im Raum von Politik, Kunst und Wissen konstruiert. Kann das als „Revolution“ gedacht werden? Ich meine ja, wenn man – wie Göran Thernborn – dieses Wort selbst befragt, es wieder hin auf seine zyklische Dimension öffnet:
“Take the word ‘revolution’, for example. As a pre-modern concept it pointed backwards, ‘rolling back’, or to recurrent cyclical motions, as in Copernicus’s On the Revolutions of the Heavenly Spheres, or in the French Enlightenment Encyclopédie, in which the main entry refers to clocks and clock-making. Only after 1789 did ‘revolution’ become a door to the future …” [1]

(Hauser:)

Wann immer die Begriffe Uhrwerk oder Uhrmacher auftauchen, sehe ich die Wissenschaft der Kommunikation und Regelung von lebenden Organismen und Maschinen vor mir. Nach Norbert Wiener, dem Begründer dieser Wissenschaft, der Kybernetik (von altgriechisch κυβερνήτης kybernétes = Steuermann), erforscht sie die grundlegenden Konzepte zur Steuerung und Regulation von Systemen, unabhängig von ihrer Herkunft, und wird daher als die Kunst des Steuerns bezeichnet.

Ist Tanz ebenfalls eine Kunst des Steuerns? Falls ja, dann ergeben sich überaus interessante Fragen und Antworten:
Was steuert der Tanz? Die eingebildeten und gebildeten sowie die materiellen und immateriellen Körper. Die Gespenster.
Womit steuert der Tanz? Mit seinem Diskurs. Den Begriffen.
Wie steuert der Tanz? Wie das „ kleine Segelboot, das Kinder im Wasser treiben lassen, aus den Augen verlieren und von anderen gestohlen wird.“ (Gilles Deleuze; Claire Parnet: Dialoge. edition suhrkamp 666)
Wer steuert den Tanz? Das Werdende.

Und als labyrinthische Andockung eine Anekdote mit Foto:
Zu welcher Musik tanzen?
Zu Revolution 9, dem 8 Minuten und 22 Sekunden dauernden Musikstück im sogenannten Weißen Album der Beatles aus dem Jahr 1968; ein der Musique concrète verpflichtetes experimentelles Stück. Die in gewohnter Weise als Lennon/McCartney angegebene Komposition soll jedoch von John Lennon in Zusammenarbeit mit Yoko Ono und mit George Harrison produziert worden sein. Und eine andere Quelle verweist auf Carneval of Light von 1967, eine weitere noch frühere Klangcollage der Beatles.
Die Begriffe Karneval und Revolution in den einzigen beiden experimentellen Stücken der Beatles verweisen auf eine andere Praxis der Collage: den Synkretismus.

KanniTierHH
Foto des aktuellen Katalogs mit reflektiertem Blitzlicht.


Wohin geht das Licht, wenn es ausgeht?

 

(Haitzinger:)

Penthesilea. Ich zerriß ihn.
Prothoe. O meine Königinn!
Penthesilea. Oder war es anders?
Meroe. Die Gräßliche!
Penthesilea. Küßt' ich ihn todt?
Die erste Priesterinn. O Himmel!
Penthesilea. Nicht? Küßt' ich nicht? Zerrissen wirklich? sprecht?
Die Oberpriesterinn. Weh'! Wehe! ruf' ich dir. Verberge dich! Laß für der ew'ge Mitternacht dich decken!
Penthesilea. --So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das Eine für das Andre greifen.

 

 

Heinrich von Kleist: Penthesilea (1808)


Eine der meiner Meinung nach wichtigsten und erstaunlicherweise vernachlässigten Denkfiguren im Diskurs über zeitgenössische performative Künste ist die des Kannibalismus. [2] Anthropologisch perspektiviert handelt es sich um ein – wenn nicht das größte – Tabu seit den Anfängen der europäischen Kultur. Mit „Schaudern und Schrecken“ begegnen wir in unseren Zivilgesellschaften dieser ungeheuren, monströsen Grenzüberschreitung und siedeln die Anthropophagen im Schattenreich unseres kulturellen Gedächtnisses an: dort, wo noch mythische Figuren unsere Phantasiereiche bevölkern. In der Moderne wird der Künstler zum Gesetzlosen, der sich anderes aneignet, einverleibt: das Theater zum Ort der Transgression, wie Georges Bataille oder Antonin Artaud so eindrucksvoll zu zeigen vermochten.

Nach Artauds erstem Manifest zum Theater der Grausamkeit kann das Theater „erst dann wieder es selbst werden, wenn es dem Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert, in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, seine Wildheit, seine Trugbilder, sein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene Luft machen. Das Theater muss durch alle Mittel ein Infragestellen nicht nur aller Aspekte der objektiven Außenwelt, sondern auch der inneren Welt erstreben.“ Antonin Artaud: Das Theater der Grausamkeit. Erstes Manifest. (1932). [3]

In den zeitgenössischen performativen Künsten lässt sich – im übertragenen Sinne – vor allem eine Kannibalisierung der künstlerischen Moderne entdecken: (Tanz- wie Kultur-)Techniken werden verkörpert – das rekurriert auf Deinen Vorschlag des Werdens – und entfalten durch singuläre Transformationen ihr entgrenzendes Potential. Obsession, Utopie und Magie, längst verloren geglaubte und gespenstische Begriffe, tauchen als Topoi und Motive wieder auf, wie aktuelle Performances zeigen. Der dynamische Prozess der radikalen Einverleibung von Begriffen und Techniken lässt etwas „ander(e)s“ erscheinen. Gleichzeitig (ver-)birgt der zeitgenössische Kannibalismus seine alten soziokulturellen Funktionen: Opfergabe, Verhinderung der Wiederkehr, sicherste Verwahrung und Aufnahme im Körper (im Grenzbereich von Erotik und Sexualität) sowie Übertragung von Kräften.

(Hauser:)

Hier lohnt sich ein Blick auf das offizielle Video (Regie: Nick Hooker) zu Corporate Cannibal von Grace Jones (2008):

 

 



[...] my rules, you fools

we can play the money game
greedgame, power game, stay insane
lost in the cell, in this hell
slave to the rhythm of the corporate prison

i'm a man-eating machine …
i can't get enough prey
pray for me
corporate cannibal …
digital criminal …

i'll consume my consumers, with no sense of humour
i'll give you a uniform, chloroform
sanatize, homogenize, vaporize … you

i'm the spark, make the world explode
i'm a man-eating machine, i'll make the world explode
corporate cannibal …


Der Wunsch nach Machtbeteilung oder nach der Macht durch Einverleibung des wirtschaftlichen Gegners ist Praxis im kannibalistischen Wettkampf, wie ihn der heutige Kapitalismus bedient und fördert.
Das christliche Mysterium der Transsubstantiation: Wer einverleibt wird, der ist abwesend und anwesend zugleich.
Du in mir.
Ich in dir.
Wo bist du?
Dies ist eine zentrale Frage, die die Mystiker der frühen Neuzeit bewegte. Und Michel de Certeau schreibt in Mystische Fabel (1982):
„Sie finden sich schon in den Anfängen des Evangeliums. Zum leeren Grab kommt Maria von Magdala, diese namengebende Gestalt der modernen Mystiker: ,Ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.‘ [...] Die ganze Urgemeinde hat diese Frage und Bitte artikuliert, und so beschränkt sie sich nicht auf eine bestimmte Situation. Sie durchformt den apostolischen Diskurs. Im Johannesevangelium ist die Präsenz Jesu geteilt zwischen den historischen Orten, an denen er nicht mehr ist, und den unzugänglichen Orten, ,wo ich bin‘, wie er sagt, so dass also sein ,Da-Sein‘ in dem Paradox besteht, dass er einmal ,hier gewesen ist‘, dass er anderswo ,weilt‘ und dass er später ,wiederkommen‘ wird. [...] Seither fragen sich die Gläubigen noch immer: ,Wo bist du?‘ Mit den Ereignissen, die gleich Geräuschen von fernher zu ihnen dringen, mit den christlichen Diskursen, die die Hermeneutik neuer Erfahrungen kodifizieren, und mit den gemeinschaftlichen Praktiken, die eine Liebe präsent machen, „erfinden“ sie einen fehlenden und gesuchten mystischen Körper/Leib, der auch der ihre sein soll.
Die mittelalterliche Entfaltung des ,corpus mysticum‘ ist eine Momentaufnahme dieser Mühe. Nach der Mitte des 12. Jahrhunderts meint die Bezeichnung, anders als früher, nicht mehr die Eucharistie, sondern die Kirche. [...] Von jetzt an ist die Kirche, der soziale ,Leib‘ Christi, das (verborgene) Signifikat eines sakramentalen ,Leibes/Körpers‘, der für einen sichtbaren Signifikanten gehalten wird, weil er die Darstellung einer Gegenwart unter den ,Gestalten‘ (oder Erscheinungsformen) des konsekrierten Brotes und Weines ist.“

Eine Verwandtschaft zwischen Kannibalismus und Vampirismus lässt das Wissensmagazin Scinexx (2009) im folgenden Artikel ahnen:

Stellarer Kannibalismus in Sternenhaufen
„Blaue Nachzügler” entstehen aus Verschmelzung von Doppelsternen.

Die Herkunft der massereichen und bläulich leuchtenden Sterne, die in nahezu allen Sternenhaufen zu finden sind, war bisher ein Rätsel. Jetzt haben Astronomen erstmals in Nature enthüllt, dass diese „Blauen Nachzügler“ durch das allmähliche Aussaugen eines Partners in einem Doppelsternsystem durch den anderen entstanden sind – und damit durch eine Art stellaren Kannibalismus.

Apropos Vampire: Die Untoten (Vampire) sind vielleicht auch deshalb heutzutage so groß in Mode, weil sie sich nicht verspeisen lassen.
Sind sie ein unbewusster Reflex auf den riesigen Appetit der Konzerne? Könnten die Vampire sogar eine Revolution gegen das große Verspeisen beginnen – oder sind sie doch nur die verfeinerte Variation des Kannibalismus: Mir reicht dein Blut, um dich zu besitzen.


Fußnoten:
[1] Göran Therborn: From Marxism to Post-Marxism? London: Verso, 2008, S. 129. Zitiert nach: Hans Ulrich Obrist: Manifestos for the Future.
[2] Ich danke dem Kurator Max Henry für die philosophischen Gespräche über Kannibalismus in der Bildenden Kunst im Vorfeld der Gruppenausstellung The Cannibal’s Muse.
http://www.patricialow.com/exhibitions/the_cannibals_muse/press_releases/detail/?itemId=52
[3] In: Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Frankfurt am Main Fischer Verlag, 1969. Hervorhebung von der Autorin.


(12.9.2010)