Empfindsamkeit als Widerstand

ZU THOMAS HEISES FILM “HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT”

Von Claudia Bosse

lange bildeinstellungen

in schwarzweiß
invalide landschaften und stadträume
die gewesenes oder eingriffe dokumentieren
eingriffe der natur oder der zeit oder von menschen
menschen aus s-bahnen und an kiosken in berlin
aufnahmen von 1980 bis 2014
zwischenräume räume bahnhöfe
gleise und züge weichen
vorbeistreifende landschaften
das abtasten der kameralinse von briefen und listen
listen der deportationen aus wien 1941/42
das mikrokopische verirren in fotografien von 1900 bis 1989
berührungen eines suchenden blicks
später: kontaktabzüge von fotografien zeitschnitte in situationen
die zeit der filmenden kamera entgegen den zeitsprüngen zwischen den bildern
das sind die bildebenen des films von thomas heise
der begleitet wird von seiner stimme
218 minuten lang
seine stimme, die raum wird
ein raum der empfindsamkeit
ein abwesender körper
der sich durch briefe und tagebuchnotate bewegt
die zwischen wien berlin oranienburg zerbst und ahrenshoop entstanden sind
ein film, der im auftreffen von langen bildern und erfassen der jeweiligen wirklichkeit
verhältnisse beschreibt
zwischen geliebten menschen, zeiten und ideologien, politischen systemen
briefe und tagebücher seiner familie seit 1912
die jüdisch-„arische“ mischehe seiner großeltern
ihr einander näherkommen
das hereinbrechen des nationalsozialistischen regimes und die folgen im alltag im lieben
bis zu den lebensvernichtenden deportationen
seine jüdische großmutter, die als künstlerin nicht mehr in erscheinung treten durfte
die entlassung ihres mannes wilhelm heise aus der universität
die sich später mit der amtsenthebung als dekan der humboldt universität
seines vaters spiegelt
des philosophen wolfgang heise, der sein recht auf kritik am sozialistischen regime nicht aufgeben wollte
mit kollegialen grüßen mit sozialistischem gruß
die vielfältigen liebesgeschichten seiner mutter
im konflikt politischer überzeugungen ideologischer formationen
ausgetragen in der art ihres begehrens in der weise des liebens
ihrer autonomie und sexualität
rosemarie heise, die den kontakt zu heiner müller sucht
nach dem selbstmord seiner frau inge müller  
nach seinem hinauswurf aus dem schriftstellerverband
das gespräch mit ihrem mann vermittelt
heiner müller im konflikt zwischen denken und anerkennung, thomas heises zurückhaltend erwähnte homosexualität, die stasi, die IM-tätigkeiten, die ablehnung seines um 1 jahr älteren bruders, oder christa wolf und die dissidenten wolf biermann und rudolf bahro (beide wolfgang heises schüler)

 

briefe, durch die stimme des filmautors, finden bilder, werden in bilder aufgefangen, ruhige bilder, in die man versinken kann. bilder, die die aufgerufenen stimmen historisch erweitern oder konfrontieren. zukunft trifft vergangenheit, und gegenwarten unterschiedlicher zeiten berühren einander. man fühlt und denkt in diesem film, man sieht und hört, und ist sich dessen bewusst.

 

eine geschichte deutschlands zwischen den kriegen und ideologien, zwischen verschiedenen bildern und verschiedenem schreiben. eine zeit mit vielen zeiten, die man in betörender ruhe aufsuchen darf, sowie zugleich mit sich und dem film sein kann.

ein dokument der sprache über 100 jahre in deutschland, des schreibens, der briefe, der mitteilungen, des denkens, des empfindens, der vielen einzelnen, die sich ausdrücken, ringen, empfinden, adressieren, beschreiben, schreiben.

 

eine beinahe schmerzliche kluft zur sprachlichen praxis der gegenwart, die, wie der film zeigt mit den verkürzten sätzen und dem absurden hoffen vor der deportation in den tod, auch eine folge ihrer politischen bedingungen ist.

 

empfindsamkeit in bildern, die dokumentieren und poetisch politisch erweitern, als widerstand. um die gegenwart wieder in die zukunft weiten zu können, aber nur, wenn die geschichte die körper wieder aufsuchen darf, als bedingung jedes einzelnen.

 

heiner müller (oder ist es heise?) sagt in einem der gespräche: vielleicht muss man die dinge so sehr subjektivieren, damit sie wieder objektiv werden.

 

oder anders:
müller antwortet zur frage von wolfgang heise nach brecht und brechts aspekt der belehrung und seiner theatralen ästhetik, welche heute (also damals, das gespräch fand vermutlich mitte der 80er statt) so nicht mehr möglich sei: daher müsse man heute (also damals) mit dem beginnen, was einen selber betrifft, sonst höre niemand mehr zu.

 

(25.1.2020)