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History VI: Verheißungen.Möglichkeiten


Tag 1: Hinter einem Fenster zu besseren Welten

Von Franz Anton Cramer

Im Tanz ist die Versuchung seit je groß, sich als das Andere zu verstehen und unter Berufung auf den zweifelhaften Objektstatus der Werke, Praktiken und Kenntnisse choreographischer Kunst eine Sonderstellung zu reklamieren. Dieser Reflex kann sich kulturpolitisch ebenso auswirken wie geschichtstheoretisch. Die tanzwissenschaftliche Fachtagung „Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz“ (17. - 19. Oktober 2008, Bern, Universität, Institut für Theaterwissenschaft, Tagungsort Schauspielschule) griff diese Eigentümlichkeit auf und lud zur Reflexion darüber ein, ob es dieses Andere des Tanzes vom Blickpunkt des Historikers wirklich gibt bzw. wo sich diese Andersheit empirisch, methodologisch und auch konzeptionell nachweisen lässt / ließe.

Möglicherweise ist die Akademisierung und Verwissenschaftlichung des Tanzes gerade aus diesem Grund ein so aktuelles und - der bescheidenen Dimensionen zum Trotz - auch ein so unübersichtliches, dabei verlockendes Feld. Zeichnet sich doch hier anscheinend die Möglichkeit ab, alles noch einmal von vorn anfangen zu können, die universitären, methodologischen, intellektuellen Fehler der Vergangenheit - die Denk-Geschichte des Westens kritisch reflektierend - aufzuarbeiten und womöglich zu korrigieren. Ebenso wie der Tanz als künstlerische oder diskursive Praxis ein Sehnsuchtsort der Moderne werden musste, scheinen nunmehr, in Zeiten einer traumatisierten und gleichsam epigonalen Moderne, Tanztheorie wie Tanzgeschichtsschreibung ein mögliches Fenster zu besseren - intellektuellen - Welten zu ver-körpern.

Jedenfalls aber figuriert die Tanzforschung - und die Tagung ließ ja bereits in ihrem Titel einen großen Raum zwischen den Vorstellungen von Werk (Original), körperlicher wie spektatorischer Aneignung (Revival) sowie diskursiver Bannung (Schreibung) - derzeit offenbar als Terrain der Überprüfung standardisierter Verfahren zur Erzeugung von Geschichte.

Wenn Geschichte eine Form der Gewesenheit bezeichnet, über die Rechenschaft abzulegen ein Anliegen der Gegenwart ist, dann gibt es tatsächlich einen womöglich unmittelbaren methodologischen Bezug zwischen Tanz und Geschichte. Denn Tanz ist, in seiner substantialen Form, ebenso wie Geschichte in ihrer graphierten Materialisierung, stets nur als ein Handeln zuhanden, als eine Erscheinung im Hier und Jetzt (das seinerseits natürlich zu definieren bliebe). Eine Erscheinung, die sich aufdrängt, aber zugleich entzieht. Geschichte als Inbegriff von Dauer steht zugleich für das ewige Vergehen, also als das Flüchtige - darin dem Tanz ebenbürtig, der seinerseits als Flüchtiges ausgewiesen ist, aber in seinen Verfahren der -Schreibung (um die Orthographie des Tagungstitels erneut zu verwenden) in ein anderes Paradigma der Nachweisbarkeit Eingang sucht.

Es ließe sich also eine chiastische Verbindung behaupten: In dem Maße, wie der Tanz sich gegen seine Flüchtigkeit zur Wehr setzt und sich von ihr „emanzipiert“ (Gerald Siegmund), verflüchtigt sich die Geschichte als Inbegriff der Totalität alles Seienden (ob gewesen, geworden oder werdend) in die Diversität, die „Dissonanz", das Inhomogene und Fragmentarische (Christina Thurner). Die Historio-Graphie wird selbst zum Medium des Flüchtigen und bietet daher dem Tanz als Synonym des Vergehens Dauerhaftigkeit im Gewand des Verzeichneten.

Für derlei Befunde gibt es durchaus Belege, und zwar insbesondere in und aus der Praxis des zeitgenössischen Tanzes. In seinem Referat über das „unverfügbare Gedächtnis des Tanzes“ bilanzierte Gerald Siegmund den auffälligen Rekurs auf geschichtliche Bezüge in choreographischen Werken seit Mitte der 1990er Jahre (etwa von Jérôme Bel, Vincent Dunoyer, Tom Plischke/BDC, Tino Sehgal,  Raimund Hoghe, Susanne Linke, Mikhail Baryshnikov). Die Referenzen auf vorgängige Tanzereignisse, welche hier aufgezeigt werden, rekurrieren aber nicht bloß auf das Gewesene des Tanzes, sondern rufen zugleich auch die Unerreichbarkeit dessen auf, was als „Original“ bezeichnet werden müsste. Denn nicht nur choreographische Werke oder tänzerische Realisierungen, sondern auch die Technik selbst (etwa die des klassischen Balletts) kann zum nie einzuholenden Gespenst der Gegenwart werden. Dass die „Durchquerung“ verschiedener Körper, Techniken, Seinsformen und Zeitebenen anhand der Rekonstruktion eines Werkes (aufgezeigt am Beispiel von Martin Nachbars „Urheben, Aufheben“) gleichwohl zu Realität führen kann, nimmt nichts von der Geisterhaftigkeit, mit der die Ebenen tänzerischer Aneignung - Ver-Körperung - sich überlagern.

Entscheidend scheint dabei, bis zu welchem Grad der Rekurs auf Gewesenes sich an der Realität messen lassen will. Denn in der Praxis des Re-Enactment etwa begegnet man mehr als im tatsächlich „aufgeführten“ Werk der Kategorie des Möglichen, der „Potentialität“ und Wandelbarkeit (Krassimira Kruschkova). Indem Formen der Wiederholung vergangener (tänzerischer) Ereignisse immer aus einer Perspektive heraus arbeiten, die Leer-, Fehl- oder Bruchstellen in die eigene Wahrnehmung einschließen (müssen), kann der rekonstruierende Blick eben nicht die (reduktive) Wahrheit der bloßen Realisierung ansetzen, sondern muss das gesamte Feld dessen beleuchten, was nicht gewesen ist. Dieses „nicht gewesen“ machte dann gerade die Eigentümlichkeit des Gewesenen aus, aber nur insofern es im Späteren, im Revival zum Einsatz kommt.

Dieser Zugriff freilich, der eine Kritik des Rekonstruierens zwingend voraussetzt, lässt sich aber auch umwenden. Denn Zeugnisse zur Geschichte von Bewegungen und ihrer Kombinationen eröffnen ihrerseits derartige Räume des Offenen und der schieren Möglichkeit, die zu Neu-Aneignungen anstiften. Letztlich ist jede Quelle - ob Notation, Zeichnung, Bericht - immer nur die Aufforderung zur Geschichte, zur Re-Konstruktion, zur Interpretation und damit zur Aneignung. Was Aby Warburg aus seinen ikonographischen Studien als „bewegtes Beiwerk“ erfasste (und was jüngst in der Performance „Warburg's Memo“ [*] von der Amerikanerin Lindy Annis in Berlin thematisiert wurde), gibt etwa in den Musterbüchern der Wiener Choreographendynastie Opfermann aus der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Fülle von offenen Möglichkeiten, indem Konfigurationen für Tänzerinnen mit Schleiern, Schals, Bändern und Girlanden abgebildet sind, die in einen kinetischen Bezug gebracht werden müssen (Claudia Jeschke). Der Weg durch diese Konfigurationen hindurch, die Aktionen zu ihnen hin und die tänzerische Realität, die in diesen Fehlstellen des historischen Dokuments enthalten liegt - sie wäre das Beispiel für eine Rekonstruktion, die nicht auf ein vermeintliches Original zurückgeht, sondern aus den Spuren bewegter Praxis Möglichkeiten realisiert, welche nicht beglaubigt werden können und auch nicht beglaubigt werden müssen. Denn sie haben ja keinen Seinsgrund außerhalb ihrer historischen Erfindung.

Alle Tanz-Geschichte, so scheint es, ist einerseits das Positive, das Statuierte und Verbürgte, andererseits das Potentative, das „Es hätte auch sein können“, das „Es wäre geworden“. Somit bliebe Geschichte auch im Tanz die Verheißung von Totalität aller Ereignisse und ihres kausalen, chronologischen oder biologischen Zusammenhangs, aber auch der ewige Möglichkeitsraum (des Archivs ...), in dem Zusammenhänge nie gegeben, sondern immer nur gemacht sind.

[*] „Warburg's Memo“,  Regie: Lindy Annis. Premiere 24. Oktober 2008, Berlin, Hebbel-am-Ufer 3. Mit Lindy Annis, Antonia Baehr, Nicholas Bussmann.


Tag 2: Auf dem Weg zur Auflösung des „Re-“

Von Nicole Haitzinger

„Modelle erlauben es einem, Phantasien in die Wirklichkeit umzusetzen, und machen einem sonst schwierige Bereiche zugänglich. Man kann sowohl Situationen, als auch Erzählungen kontrollieren. Modelle eröffnen einen geheimen Zugang zu beschränkt zugänglichen Bereichen, und umgekehrt.“ Jonas Dahlberg [1]

Wir können ohne Modelle Tanzgeschichte/n nicht denken, unsere Phantasie entfalten, sie zugänglich machen. Vielleicht ist es unser Schicksal, für einen Moment unsere Erzählungen im Vorführen, im Ausstellen, im Schreiben, im Sprechen zu kontrollieren. Im Wissen, dass sie sich dieser Kontrolle unweigerlich entziehen werden. Denn „das Eigentümliche der Geschichte besteht darin, dass sie immer ebenso gut eine Geschichte wie keine Geschichte sein kann. Die Dinge wären auch zu einfach, wenn die Gewissheit der Ereignisse mit der Gewissheit der Subjekte einherginge. Aber es ist stets möglich, wahrhaftige Ereignisse fiktiven oder hypothetischen Subjekten zuzuordnen sowie ungewisse oder fiktive Ereignisse mit realen Subjekten zu verbinden.“ [2] Im Raum dieses Spurengeflechts, dieser Unbestimmtheit bewegen sich die aktuellen Akteur/innen der Geschichts-Schreibung.

Am zweiten Tag von „Original und Revival“ wurden vier große Topoi verhandelt: Die kritische Reflexion des Modells einer universellen Tanzgeschichte (Gabriele Klein, Jens Giersdorf), Spuren der Historiographie des 18. Jahrhunderts auf der zeitgenössischen Bühne (Stephanie Schroedter) und im zeitgenössischen Diskurs der Geschichts-Konstruktion (Sabine Huschka), das (Tanz-)Archiv als transitorisches Konzept (Franz Anton Cramer) sowie choreographische Re-Konstruktionen von Tanz/Geschichte (Simone Willeit und Julia Wehren).

Gabriele Klein verdeutlichte in ihrer historiographischen Inventur der Tanzmoderne, wie sehr das Universalitätsdenken den Tanzdiskurs des 19. bis weit ins 20. Jahrhundert bestimmte und noch heute mit der Kategorie des Ausschlusses (Race, Gender) operiert. Sie forderte eine Dekonstruktion der Legalität der westlichen Tanzgeschichte als Universalgeschichte und setzt auf alternative Strukturen (wie die Aufhebung der Dualität von Kunsttanz und Kulturtanz, die Re-Definition von Zentrum und Peripherie). Jens Giersdorf demonstrierte ein Format der alternativen Geschichts-Schreibung, indem er eine eigene Amateurchoreographie als Modell benützte, um die Methode der Integration von Trivialem und Unbedeutendem, von Klatsch und Tratsch als Mittel zur Destablisierung von Universalität zu diskutieren. Sein radikaler Subjektivismus diente zur Demaskierung und Parodisierung von unterschwellig autoritären wie hierarchischen Konzepten von Choreographie wie Geschichtsschreibung.

Die Wiederaufführung von Performances hat im Tanz während der vergangenen Jahre an Aktualität gewonnen. Auch hier lassen sich zwei Modelle erkennen und werden aktuell gleichzeitig praktiziert: Erstens Rekonstruktion als möglichst „original- wie detailgetreue“ Wiederaufführung einer vergangenen Aufführung zur Bewahrung eines Repertoires wie Tanz als „kulturelles Erbe“. Zweites - das Re-Enactment als Differenzmodell  - favorisiert die Auseinandersetzung mit Momenten aus vergangenen „Werken“, die „bruchstückhaft [...] miteinander kombiniert und mit anthropologischen, zeitgeschichtlichen und popkulturellen Referenzen quergelesen [werden] - ohne einem (postmodernen) Historismus zu verfallen“. [3]

Auf den ersten Blick könnten diese zwei Strömungen nicht unterschiedlicher sein. Sie verweisen auf unterschiedliche Denkrichtungen, Diskurstraditionen und Referenzsysteme in diesem erst kurz vergangenen, eklektischen 20. Jahrhundert und provozieren „grundsätzliche“ Diskussionen im Verständnis von Tanz, von performativen Künsten. Dabei ist es bei genauerem Blick deutlich erkennbar, dass es sich um zwei unterschiedliche Interessen handelt: Ich würde Rekonstruktionen im Sinne der Bewahrung eines kulturellen Erbes, als Mittel zur Aufrufung von Erinnerung im kulturellen Tanz-Gedächtnis einem pädagogischen Konzept, einem Vermittlungsmodell zuordnen. Während Re-Konstruktionen wie Re-Enactments Momente des Unvorhersehbaren, des Staunens betonen. Als Differenzmodelle setzen sie eine genaue Lektüre des „Anderen", der  Referenz/en voraus und gehen spielerisch mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen um. Geschieht das nicht, laufen sie Gefahr, beliebig und/oder langweilig zu werden.

Rekonstruktionen hingegen fordern implizit und oft kategorisch eine Genauigkeit in der Analyse von Teilaspekten (Bewegung, Choreographie, Bühnenbild, Musik...). Dieses zwar prozessual angelegte archäologische Verfahren vergisst aber oft im Moment der „Wieder-Aufführung" als Produktion, als Produkt, dass es trotz der genauen Komposition (Zusammen-Setzung) nicht selbstverständlich theatrales Ereignis geworden ist. Denn dieses ist mehr als die Summe seiner Teilaspekte. Es vermag hic et nunc, im Spurengeflecht seiner jetzigen Kontexte, etwas zu kommunizieren und aufzurufen, das potentiell unwiederholbar und affizierend (im Sinne des körperlichen Erlebens und Denkens) ist. Das Movere und Motiv des künstlerischen Zeigens entsteht in einem Akt, der sich nicht sofort einem pädagogischen oder bewahrenden Modell verspricht.

Das heißt nicht, dass Rekonstruktionen nicht ereignishaft sein können und Re-Konstruktionen wie Re-Enactments das unhinterfragt sind. Vielleicht verschafft uns gerade der Vergleich von Modellen in der Tanzgeschichts-Schreibung einen Zugang zum Geheimnis des theatralen Ereignisses. Und vielleicht können wir das „Re-“ vor der Konstruktion, vor dem Enactment bald verabschieden, denn schließlich ist es - historiographisch betrachtet - erst vor kurzem, also im 20. Jahrhundert im Kontext der Künste und ihrer Wissenschaften aufgetaucht.

[1] Zitat des Künstlers Jonas Dahlberg in der Ausstellung „Western Motel. Edward Hopper und die zeitgenössischen Künste“. Kunsthalle Wien, 08.10.08-15.02.09.
[2] Jacques Rancière, „Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens“. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1994, 7f.
[3] Aus dem Programmheft „Wieder und Wider: performance appropriated. Performative Aneignung in Tanz und Bildender Kunst“. Kooperation MUMOK und Tanzquartier Wien, November 2006.


Tag 3: Vor Arbeiten an künftigen Modellen

Von Julia Wehren

Als Mitorganisatorin der Tagung gelten die ersten Gedanken am Sonntag in der Früh der Leinwand, die von der Theaterbühne in den Tagungsraum beordert werden muss, dem Computer, der sich der Materialfülle des zu projizierenden Bildmaterials nach zwei Tagungstagen verweigert, dem Catering, das zeitig den Weg in Industriebrache an der Berner Aare finden sollte. Ruhig und gelöst scheint hingegen die Stimmung im Saal, der Uhrzeit und Jetlags wegen, aber auch nach elf Vorträgen, die in ihrer Vielfalt und Dichte ihre Spuren hinterlassen haben. Wie ist eine Tanzgeschichte neu zu denken und welche haben wir dabei im Blick? Wenn der Verlust an Gewissheiten zum Gewinn an Möglichkeiten wird, wie Gerald Siegmund eingangs der Tagung sagte, welcher Art könnten diese denn sein?

Der Sonntag fragt in der Praxis nach. Ausgehend von choreographischen respektive pädagogischen Erfahrungen nähern sich die ersten beiden Referenten theoretischen Reflexionen. „Choreographie im hermeneutischen Prozess“ heisst der Vortrag von Karin Hermes, einer Choreologin, Tänzerin und Choreographin aus Bern. Sie legt ihren künstlerisch-methodischen Rechercheprozess anhand von zwei Beispielen offen und beschreibt, wie sie via Dekonstruktion von zuvor Rekonstruiertem den Weg zu ihrer eigenen choreographischen Arbeit beschreitet. Theorie findet hier Eingang in einer Begrifflichkeit, die sich aus der praktischen Arbeit speist: Notationen und Quellenmaterialien werden in Bezug auf einen historischen Kontext hin interpretiert, um sie daraufhin zu zerstückeln und neu zusammenzusetzen. Die Wahl des Materials erfolgt - nebst der Frage nach der Verfügbarkeit - dem Lustprinzip, wie Hermes sagt, und letzteres führt sie derzeit weg vom Prozess des Rekonstruierens.

In ihrem jüngsten Projekt „Flügel an Flügel“, das während der Tagung am Festival uraufgeführt wird, werden die Anleihen an historische Referenzpunkte denn auch nicht schlüssig. Weshalb sie verwenden, wenn nicht deren Reflexion und Reibung Thema sind, sondern Form und Inhalt lediglich als Inspiration dienen? Am Tag nach der Premiere stellt Hermes die Frage in den Raum, was historische Originale heute sagen können und sollen, was sie zum zeitgenössischen Schaffen ausserhalb eines Bildungskontextes beitragen.

Dem New Yorker Ballettpädagogen Robert Atwood geht es in seinem Beitrag um eine Neuschreibung der Ballettgeschichte. Ist die Tanzgeschichte eine lückenhafte, gründen auch deren Erklärungen möglicherweise auf Falschannahmen. Atwood rollt die Frage neu auf, was zur Entwicklung der Ausdrehung im klassischen Ballett geführt hatte und kommt durch historisches Quellenstudien zum Schluss, dass dies nicht wie bisher angenommen ästhetische Gründe sind, sondern pragmatische: die geneigte Bühne der Renaissance verlangte zur besseren Gewichtsverlagerung nach einer anderen Verteilung des Schwerpunkts. Ketzerisch wird gefragt, ob denn, wenn die Bühnen zur Horizontalen zurückgefunden hätten, dem Weglassen der Ausdrehung eigentlich nichts mehr im Wege stünde.

Mit „Art Research“ führte die Moderatorin Claudia Jeschke eingangs den ersten Vortragsblock ein, im Gegensatz zu akademischer Forschung. Ja, wo liegt er, der Unterschied? In der Fragerichtung: aus der Erfahrung zur Forschung verleitet; im Instrumentarium, in der Methode, wie Erfahrung an Theorie abgeglichen wird? Im Gedächtnis haften bleibt der kritische Fokus auf die eigene Arbeit und deren historische Bezüge.

An der Schnittstelle von Theorie und Praxis arbeitet Nicole Haitzinger aus Salzburg. „Reenacting Dance“ ist der Titel einer Serie, die sie mitkonzipiert hat. Gemeinsam mit der bildenden Künstlerin Anja Manfredi verfolgt sie ein Re-Enactment-Projekt zu Photographien von Anna Pawlowa und Grete Wiesenthal, dessen Arbeitsprozess und Begleitdiskurs sie in ihrem Vortrag nachzeichnet. Photographische Darstellung wird hier als Wissensreservoir verstanden, in das sich verschiedene Erinnerungskulturen eingeschrieben haben, die im Reenactment wiederum ausgestellt und gleichzeitig fortgeschrieben werden können. Mit Rekurs aktuelle Gedächtnistheorien (wie von Jan und Aleida Assmann) zeigt sie Strategien auf der Funktionialisierung von Körper als ein Medium des Gedächtnisses, das sich durch Selbst- und Fremdinszenierung in ein kulturelles Gedächtnis einschreibt.

Ihre Reflexionen sind produktive Begleiter eines künstlerischen Bildverfahrens, in dem historische Fotografien abgebildet, auf eine Bühne gesetzt, erneut fotografiert und schliesslich ausgestellt werden. Der Medientransfer wird zu einem Weiterschreiben an der Erinnerungskultur, wobei hier der Findungsprozess, wie der Pawlowa'sche Mythos in einer Visualisierung sichtbar gemacht werden kann, im Gedächtnis haften bleibt.

Bildliche Aufzeichnungen stehen ebenso im Zentrum von Isa Wortelkamps Vortrag. Die Tanzwissenschaftlerin aus Berlin sucht in ihrem phänomenologischen Ansatz mit Rekurs auf Maurice Merleau-Ponty und Gernot Böhme nach der Bewegung im Bild, indem sie die Wahrnehmung des Bildes selbst als bewegte Kategorie der Wahrnehmung versteht. Am gefilmten Bewegungsfries aus Sasha Waltz' „Medea“ zeigt sie auf, wie aus einem Band von Verbindungen Körper in Beziehung gesetzt werden und dadurch der Prozess der Wahrnehmung dynamisiert wird. In der Spannung zwischen Bewegung und Bild macht sie einen Wegweiser stark für Erinnerungs-Spuren, der möglicherweise eine Vorstellung von Tanz vermittelt, wie sie ausführt - als ein Rekonstruktionsmodell aus der reinen Betrachtung heraus. Die Diskussion um Transparenz im Anschluss, in welchem Kontext welches Subjekt welches Bild wahrnimmt, ist angeregt. Kann ein Subjekt als Blackbox verstanden werden? Ist Wahrnehmung etwas, das mir zustösst, unbeachtet von gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Kontexten?

Zwischen Erinnerungskulturen, Spurenlesen und fruchtbaren Momenten ist die Dokumentierende längst wieder beschäftigt mit dem Abgleich der Anzahl anwesender Gäste mit derjenigen der bestellten Kanapees, ebenso wie mit der Sorge, wie die Sonntags geschlossene Hofbarriere dazu gebracht werden könnte, den Weg für die Lieferanten freizugeben.

Ein abschliessender Beitrag aus der Praxis steht noch aus. Die spanische Choreographin Olga de Soto erzählt in ihrer Lecture aus dem Arbeitsprozess zu ihrer Videoinstallation „histoire(s)“, die mittels Interviews mit Zeitzeugen der Uraufführung von „Le jeune homme et la mort“ (Jean Cocteau/Roland Petit) im Jahr 1946 einen Erinnerungsraum öffnet, der weit über die imaginäre Rekonstruktion des historischen Ereignisses hinausreicht und mittels Erinnerungssplittern, Montage und einer installativen Inszenierung auf der Bühne den konstruktiven Charakter von Geschichts-Schreibung vor Augen stellt.

Erhellend sind ihre Berichte über die Suche nach und die Arbeit mit Zeitzeugen, das Finden von Erinnerungs-Spuren, den Umgang mit dem Tod in einem langwierigen Forschungsprozess, der gleichermassen geprägt ist durch künstlerische Entscheide wie durch Offenheit für Richtungswechsel, wo das Material sie einfordert. In der Offenlegung ihrer konzeptuellen Überlegungen und künstlerischen Anliegen zeichnet de Soto nach, wie aus einer Auftragsarbeit zu einem für sie tanzhistorisch marginalen Ereignisses eine choreographische Reflexion über Gedächtnis, Geschichtskonstruktion und Gespenster entstanden ist.

Welches Potential nun darin steckt, wenn die Praxis als Geschichte sich selbst reflektiert, und in welchen Formaten theoretischer Diskurs in praktische Forschungsarbeit einfliessen kann und umgekehrt, bleibt weiter zu reflektieren. Die Verzahnung wissenschaftlich-methodischer mit künstlerisch-methodischen Zugängen an diesem Sonntag verdichtet die Erkenntnisse der letzten drei Tage, dass nämlich Historiographie sich durch beständiges Arbeiten kennzeichnet, an kleinen, partiellen und auch partikularen Geschichten. Sie haben hier als äusserst heterogenes, auch dissonantes, und ganz sicher bewegliches Gebilde den Raum geöffnet für noch zu denkende, noch zu praktizierende Modelle von Tanzgeschichts-Schreibung.


(14.11.2008)