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Bœuf Stroganoff für Flaschen
AUFFÄLLIGKEITEN IM UMFELD EINES FRAGMENTS DES DIOKLES VON MAGNESIA
Meine Sprache ist mir eine spöttische Begleiterin. Jedes wie auch immer geäußerte Wort, jede Formulierung, jeden Satz meint sie als Kommentar zu ihrem Gebrauch. Sie stellt sich nicht einfach zur Verfügung, sie läßt sich nicht beherrschen, und sie erzählt, wenn sie in bestimmte Formen gepreßt wird, durch ebendiese Formen so einiges über ihre Presser. Ein Satz, verrät mir meine Sprache, sage zwar darüber reichlich, in sich aber noch gar nichts aus. Bedeutung werde dem Satz beigemessen. Das Gemeinte würde durch seine Formulierung noch lange nicht zu etwas Gemeinem.
Darüber muß ich noch nachdenken. Aber so viel läßt sich sofort sagen: Auch meine Sprache ist selbstverständlich Teil der gemeinen Sprache – sofern die Allgemeinheit das will –, und die gemeine Sprache wird durch gemein Gemeintes zu unausgesprochenen Stellungnahmen in Bezug auf das Gemeine gezwungen, über welches sie sich durch ihren Gebrauch lustig macht. Meine Sprache macht sich ausschließlich über mich lustig und niemanden sonst, und so wäre sie auch zu lesen.
Das Großartige an der gemeinen Sprache, sage ich in meiner Sprache, ist ihre Freiheit von Gefühlen. Die gemeine Sprache ist nicht empathisch (allenfalls sympathisch oder antipathisch), verteilt aber bei Bedarf ohne Skrupel alle Floskeln, die ihre Formulierer in sich finden. Der Sprache ist ihr Gebrauch gleichgültig, und meiner Sprache bin ich ausgesprochen egal. Erstaunlicherweise läßt sie selbst keinerlei Absichten erkennen, sich gegen etwaigen Mißbrauch zu wehren.
„Si vivit Plato, respirat Plato.“
Ich weiß in etwa, aus welchen Quellen sich jene Sprache speist, die nur meine ist, weil sie meinem Körper entweicht, wo sie sich gebildet hat und weiter bildet. Dieser Körper ist kein Sprachkörper, sondern einer, dem die Sprache von Beginn seines Lebens an eingeflößt worden ist. Das Eingeflößte hat im Körper eine Entwicklung erfahren und dort einen Logotopos geschaffen.
Hier setzt meine Sprache mit Hilfe dieses Texts bereits ihre ironische Laune durch. Indem sie den Schreibenden dazu verführt, statt „Ort der Sprache“ das entsprechende griechische Wort einzusetzen, um den Begriff zu testen. Ein kleiner Streifzug ergibt, dass dieser unter anderem in Band 2 der Suda verwendet wird, was den aus seiner Überlegungsroutine zu seinem Ausflug Verführten über die Existenz dieses ungefähr 970 n.Chr. entstandenen byzantinischen Lexikons in Kenntnis setzt. Dabei erinnere ich mich mit Schaudern an eine makabre Szene vor einigen Jahren in einem Altwarenladen. Dort traf ich einen flüchtigen Bekannten, deutete – wohl mit leuchtenden Augen – auf eine Brockhaus-Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert und meinte, es wäre schön, dieses Wunderwerk zu erwerben. Worauf er herablassend meinte: „Ein altes Lexikon ist ja nur eine Sammlung der Irrtümer von gestern.“ Seither fliehe ich den flüchtiger gewordenen Bekannten, wann immer es sein muß.
Die zweisprachige Suda habe ich mir in einem Nachdruck von 1619 aus dem Netz heruntergeladen. Weil mein Latein schlecht ist und ich kein Altgriechisch lese, stoße ich bei Karlheinz Hülsers vierbändigem Werk über Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker, erschienen 1987-88 bei Frommann-Holzboog, auf eine Übersetzung (Bd. 3, S. 1378f) des Eintrags zu „Logotopos“ in der Suda (1619, Tom. II, S. 54). Hülser setzt sich mit dem Begriff als Teil der stoischen Logik auseinander und übersetzt ihn mit „Formelargument“ (lat. in der Suda: „verbilocus“). Im Lexikon scherzt der Autor – so lese ich es, allerdings im Bewußtsein, daß Humor nicht in der Intention der Lexikographen lag: „Si vivit Plato, respirat Plato.“ Der Witz liegt nun logischerweise darin, daß Hülser anmerkt, der Suda-Eintrag sei nur eine „Dublette“ [sic! S. 1378] zu einem Fragment des Diokles [von Magnesia, Anm.], [1] bevor er auf den Zusammenhang zwischen (Un-)Körperlichkeit und Argument (λόγος) hinweist. Für die Stoiker war der Logos, als Argument, ein Lekton und damit unkörperlich, „so dass es unmöglich durch Sinneswahrnehmung erkannt werden kann“.
Ist der Tanz ein Teil des tanzenden Körpers?
So erfreulich kann sich bereits eine kürzeste Dérive an der frischen Luft weiterführender Materialien auswirken. Es braucht bloß winzige Ironien der Sprache, und schon landet der Spaziergänger bei dem Begriff „Lekton“, der laut meinem Metzler Philosophie-Lexikon (1996, S. 292f) „dem Bezeichneten“ entspricht, „d.h. der Bedeutung sprachlicher Zeichen, die nach einer ,gedachten Vorstellung besteht‘.“ (Zit. v. S. 293) Ich ziehe das Eisen mit lockerer Geste aus dem Feuer: Da Vorstellungen inwendige Äußerungen des Körpers sind, kann das Unkörperliche als Teil des Körperlichen gedacht werden. Und da ist er, wenn auch dystoisch, der Logotopos, wie er aus dem Eingeflößten, siehe oben, entsteht. Wer übrigens „dystoisch“ (= vom Stoischen abweichend) in die große Suchmaschine eingibt, erhält ausschließlich Verschreiber des Wortes „dystopisch“.
Der Sprache ist ihre Zukunft unwichtig, und sollte einmal niemand mehr sprechen, wird sie sich selbst keine Träne nachweinen. Bis dahin aber stochert sie noch durch ihre Wirte, die entscheidende Fragen zu beantworten haben wie: Ist die von einem Toaster erzeugte Hitze Teil dieses Geräts? Oder, provokanter: Warum kann der Tanz kein Teil des tanzenden Körpers sein? Die Sprache formt Fragen, Suchen und Antworten – ganz gleich, ob diese als erratisch, teleologisch oder beides erscheinen mögen. Angesichts dieser Prozesse können Sprachpresser die Nerven verlieren. Ich war des öfteren Zeuge von Aufführungen der Ungeduld gegenüber der Sprache. Solche Szenen sind politisch immer ernst gemeint und daher umso unterhaltsamer.
Sicherlich ist die Sprache eigensinnig und egozentrisch, denn gerade durch spezielle Unverständlichkeiten kann sie wachsen. Zur Karikaturistin ihrer Wirte wird sie, wenn diese nicht wirklich wissen, was sie tun. Das kann uns allen passieren. Auch angeblich hochgebildeten Spezialistinnen und Fachmännern, die behaupten, „die Sprache“ würde unsere Wirklichkeit konstituieren. Wie treffend. Denn bekanntlich verwandelt sich der Wein in einer Flasche, auf die das Etikett Erdbeermarmelade geklebt wird, mit diesem Akt in Erdbeermarmelade. Da lacht die Sprache in die entsprechenden Hörsäle.
Mariendistel und Johanniskraut
Ich bin dafür, die Fortschrittlichkeit auf dieser Ebene voll zu unterstützen und so weit zu gehen, die Weinflasche mit einem Etikett zu versehen, auf dem „Etikett“ steht. Mag auch der erste Schluck vom Inhalt etwas papieren schmecken, schon der zweite macht beschwipst. Wir nennen, was wir dann fühlen, einen Etikettenschwindel. Auch meine Sprache läßt sich trinken wie ein Alkoholikum. Oft lädt die gemeine Sprache hinterlistig zum Abusus ein. Gegen schlechte Leberwerte helfen Mariendistelkapseln, gegen schlechte Sprachwerte wirkt nicht selten die stets etwas angeheiterte Muse des Lesens und des Schreibens.
Aber Vorsicht: Die Sprache ist kein natürliches Antidepressivum wie Johanniskrautkapseln! Jedenfalls nicht in jedem Fall. Ich hätte mich damals – wann, ist nebensächlich – nicht mit John L. Austin (How to Do Things with Words, 1955) beschäftigen und in voreilige Freudenrufe ausbrechen sollen. Denn seitdem ist mir klar, was ich zuvor schon wußte: Daß die Sprache durch mich illokutiv etwas anrichten kann. Und daß die perlokutiven Aufführungen nach etwas Gesagtem ausgesprochen unterhaltend sein können. Oder unaussprechlich niederschmetternd.
„You are fired!“ ist, sobald man Austin verstanden hat, „a performative sentence or a performative utterance, or, for short, 'a performative'. The term 'performative' (…) is derived, of course, from 'perform', the usual verb with the noun 'action': it indicates that the issuing of the utterance is the performing of an action (…).“ (Hier: 1962, S. 6) Das nur, um zu klären, was ein Austinsches Performativ ist. Hätte die US-amerikanische Bevölkerung dieses Wort gekannt, auf die Wirklichkeit bezogen und zu deuten gewußt, wäre Donald Trump vielleicht nicht Präsident geworden. Jetzt hat sie Trump gefeuert, aber in gewissem Sinn zu spät. Da fällt mir auf: Meine Sprache ist des Spielens mit Politik müde. Und auch in anderem stochert sie gerade etwas lustlos herum. Sie träumt von Dingen, die ich hier nicht beschreiben will, und warnt mich davor, sie zu langweilen. Ansonsten werde sie mich feuern. Dabei schaut sie mich mit diesen dunklen Augen an, die man von ernstgemeinten Vorstellungen kennt. Hat sie doch Gefühle?
Aber sie ist gut aufgelegt, obwohl draußen auf der Gasse gerade die Sonne scheint. Also lädt sie mich auf ein wohl herrlich duftendes und mundendes Bœuf Stroganoff ein. Erfreut mache ich mir ein Wiener Schnitzel von gestern im Toaster heiß und entscheide, daß das Schnitzel nicht, auch nicht für den Moment, zum Teil des Apparats wird. Außerdem merkt Karlheinz Hülser an, daß sich in der Suda ein „eigenartiger orthographischer Fehler“ (S. 1379) eingeschlichen habe: „Die Suda (….) schreibt logotopos anstatt logotropos (…)“ (ibid.). In einer Ausgabe, die 1705 in Cantabrigia (Cambridge) erschienen ist, steht dann auf Seite 456 des zweiten Bandes neben dem griechischen λογοτόπος tatsächlich Logotropus. Das verhält sich gewissermaßen wie frische Gowjadina Stroganow zu einem aufgewärmten Wiener Schnitzerl: zurückhaltend.
Fußnote:
- ^ Karlheinz Hülser zitiert dieses Fragment aus einer neueren Ausgabe der Suda: Suidae Lexicon, 1928-38 in fünf Bänden herausgegeben von Ada Adler bei Teubner in Leipzig.
(22.11.2020; Gedankenübertragung: Helmut Ploebst)