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„Aufruf!“ Ein Lagebericht
TANZEN, DENKEN, POLITIK: KINÄSTHETISCHE ERKENNTNISSE IN PANDEMISCHEN ZEITEN
Mittwoch, 25. 3. 2020 – Heute vor zwei Wochen fand der letzte Probentag im Tanzquartier Wien statt. Ab dem darauffolgenden Tag, dem Donnerstag, blieb ich mit einem grippalen Infekt zu Hause; vier Tage Fieber. Am Sonntag, dem 15. März, wurden in Österreich Ausgangsbeschränkungen beschlossen. Dadurch entfielen alle weiteren Proben; bis heute hätte das Stück im Groben stehen sollen, Durchläufe mit Zuschauern und Outside Eyes waren geplant. Inzwischen frage ich mich, ob wir – also viele, die Machthabenden und die nicht so Machthabenden – es schaffen werden, das Momentum der Solidarität, des „moralischen Bewusstseins“, das gerade aufgeflammt ist, aufrecht zu halten und weiter zu tragen, auch wenn sich die Auswirkungen des Virus regulieren und eindämmen haben lassen, wenn wir also zur sogenannten Normalität zurückkehren werden.
Und wollen wir zur Normalität zurückkehren? Irgendwie haben wir in einem Moment des Schocks begriffen: Das betrifft uns alle – also wirklich alle Menschen auf der ganzen Welt. Im Ausnahmezustand werden die Schwachstellen in unserem Sozialsystem so deutlich wie (zumindest für meine Generation) noch nie. Können wir diese beseitigen und unser System des Zusammenlebens mit einer sozial erfreulicheren Vision neugestalten? Woher kommt das plötzliche Gefühl der Solidarität? Ist Solidarität ein Gefühl, eine Handlung, ein Bewusstseinszustand? Hat sie eine Richtung? Macht Solidarität ausschließlich Sinn von oben nach unten und in die Breite gedacht, auf Augenhöhe? Um solidarisch mit jemandem zu sein, muss ich mir meines eigenen Standpunktes bewusst sein.
Die Proben wurden zu einem Zeitpunkt unterbrochen, als wir im Ablauf des Stücks gerade so weit waren, die ersten drei Szenen, eine Art Ouvertüre, die Szene „Krieger“ und den Teil „Aufruf“, in einem Durchgang spielen zu können, wobei im „Aufruf“ noch viele Fragen offen sind: Wie übersetze ich einen Tanz aus dem Jahr 1943, der also in der Kriegszeit, unter Zensur der NS-Diktatur, und teils in Lagerhaft entstanden ist, der als getanzter Aufruf an eine bessere, sozialere – in dem Fall sozialistische – Zukunft zu glauben und für sie zu kämpfen, konzipiert war, in das Jahr 2020?
Welche Kraft und Bedeutung haben politische Gesten heute überhaupt? Da sie einem doch andauernd entschlüpfen in ihrer Wahrhaftigkeit, in ihrem So-gemeint-sein, weil sie sich einfügen in die unendliche Wandelbarkeit und Relativität der Bilder im virtuellen Raum. Sie werden bedeutungslos, wenn sie dort zur Vermarktung der eigenen Idee, und sei diese ein künstlerisches Produkt, zur Werbung genutzt werden, im System Kulturbetrieb, dem internationalen, europäischen oder auch nur österreichischen.
Eine Zeit- und Raumüberquerung
Während der Vorbereitungen und Recherche zum Stück habe ich einen auf Film erhaltenen Ausschnitt von Hanna Bergers Tanz Aufruf (oder auch Kampfruf genannt) intensiv geübt, geprobt, praktiziert. Auf Englisch würde man sagen: it became a choreographic practice. Die Auseinandersetzung mit einer spezifischen körperlichen Dynamik, mit dem Ausdruck, der sich im Tanz vermitteln soll, mit den Gedanken, die sich in Bewegung manifestieren, eben mit einem bestimmten gestischen Vokabular – bewirkte, dass sich in mir vollkommen unvorhersehbar ein starkes Gefühl der Solidarität ausbreitete. Oder eben ein Gefühl, in einer Intensität, das ich am ehesten so beschreiben würde:
Nun nehme ich die Menschen in der Straßenbahn als eine Gemeinschaft wahr – ein Wir – die wir alle unsere Dinge tun, unseren Arbeiten und Geschäften nachgehen. Und: Ich fühle mich selbst nicht mehr so sehr als ein abgekoppeltes Individuum, sondern – auch mein Tun steht in Zusammenhang mit all den anderen Menschen und Tätigkeiten. Oder: Beim Kaffeekaufen auf dem Weg ins Probenstudio lese ich den Aushang, der in der U-Bahn-Filiale der Bäckerei hängt. Er fällt mir auf. Es ist ein Stellenangebot inklusive Angaben über Arbeitszeiten und Gehalt, und auf einmal bewundere ich die selbstverständliche Freundlichkeit, mit der mir die Verkäuferin den Coffee-to-go überreicht.
Woher kommt dieser shift, diese Verschiebung der Wahrnehmung, die Fokussierung auf das Wir, auf die Menschen um mich herum, die ich sonst einfach nicht auf diese Weise bewusst wahrnehme? Von den Proben? Vom Praktizieren, Üben und Wiederholen dieser Gesten? Haben sich die Gedanken und Gefühle, welche den Gesten aus der ursprünglichen Choreografie Hanna Bergers innewohnen, über meinen Körper ihren Weg in mein Bewusstsein gebahnt?
Das Tanzstück Recalling Her Dance – a choreographic encounter with Hanna Berger hätte am 8. Mai 2020 in den Studios des Tanzquartier Wien Premiere gehabt.
Das Virus entwirft eine eigene soziale Choreografie
Dienstag, 31. 3. 2020 – Im Moment fällt fast alles Wesentliche, das meinen Beruf ausmacht, weg: der reale physische Kontakt mit Menschen beim Proben und Trainieren, die kreative oder pädagogische Arbeit mit Bewegung und Präsenz anderer, die Arbeit mit der Resonanz, mit der Lebendigkeit von körperlicher Präsenz und der Energie, die durch die Bewegung mehrerer (tanzender) Menschen im Raum entsteht; und es fehlt (mir), all dies mit einem gemeinsamen, physischen Publikum zu teilen, das durch seine körperliche Anwesenheit all die Nuancen des Theaters, des Tanzes wahrnehmen kann und nicht eine zweidimensionale, vollkommen aller Sinnlichkeit beschnittene digitale Version davon bekommt – the medium is the message. Trotzdem höre ich nicht auf, die Welt durch die Augen des Tanzes wahrzunehmen und auch geschärft durch den Fokus meiner choreografischen Arbeit zu sehen.
Welche soziale Choreografie inszeniert das Virus bzw. die Politik, die darauf reagiert, gerade? Die Wechselwirkung zwischen unserer Sinneswahrnehmung, unseren Körpern, unserer Beziehung zur Umgebung und einer inneren Stimmung, einem Gefühl, einer Haltung wird gerade durch den Ausnahmezustand auch im öffentlichen Raum sichtbar.
Manche reagieren auf die neue choreografische Anordnung, einen Meter Distanz zu anderen zu halten und eine Maske zu tragen, mit einem Lächeln. Insgesamt ist ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu spüren, verursacht durch das Gewahrwerden, dass unser Handeln, egal wer wir sind, Konsequenzen für die große Gemeinschaft bedeutet. Gleichzeitig beobachte ich viele – mich miteingeschlossen – die im Moment der Begegnung ihren Blick senken, auf dem Gehsteig, in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder an der Kassa im Supermarkt. Der Körper reagiert, unbewusst, und signalisiert dem Gehirn: Achtung, der andere Mensch bedeutet Gefahr, worauf ein In-sich-zusammenziehen, ein Senken der Augen und des Kopfes folgt. Ein Bekannter, den ich beim Spazieren gehen treffe, grüßt offensiv freundlich die Vorbeigehenden: Die Leute sollen nicht so betreten durch die Gegend laufen!
Vom Blickkontakt steckt man sich nicht mit dem Virus an. Wäre das Ganze eine choreografische Übung, würde ich einwerfen: Gut, jetzt, da wir die Aufgabe geschafft haben, Abstand zu halten, muss das nicht heißen, sich klein zu machen und die Augen zu schließen. Bleiben wir offen, sehen wir die anderen Menschen, und nehmen wir bewusst wahr, wie wir einander begegnen, anstatt innerlich soziale Distanz zu kultivieren. Denn was wir hier einüben, wird uns prägen: Wenn dieses betretene Verhalten zu unserer Praxis wird, wie wirkt es sich längerfristig auf unser Verhältnis zueinander aus? Wie lange werden wir diese Angewohnheiten in unseren Körpern speichern?
Innere und äußerliche Beweglichkeit
So paradox es zu sein scheint, unser ganzes System, wie wir es gekannt haben und gewohnt waren, ist in Bewegung geraten, auch wenn äußerlich Stillstand und Bewegungseinschränkung stattfinden. Prioritäten verschieben sich, Fördersysteme werden erfunden, soziale Schwachstellen und finanzielle Ungleichheiten, um nicht zu sagen Ungerechtigkeiten, werden so deutlich wie noch nie.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Welche innere und äußerliche Beweglichkeit behalten wir bei, welche Verbindung zu uns selbst und anderen, „praktizieren“ wir während der nächsten Zeit? Veränderungen brauchen Beweglichkeit – oder umgekehrt. Können wir das Momentum dieser Beweglichkeit, das Momentum der Solidarität weitertragen und aufrecht halten und erinnern, um längerfristig unser System des Zusammenlebens besser zu gestalten?
Ostersonntag, 12. 4. 2020 – Hingabe und Druck, Bangen um Zukunftspläne, auf die man sich gefreut hat, um doch hart erarbeitete Aufträge und Projekte, die nun abgesagt, verschoben, ungewiss sind; und die Frage, was das für die eigene Existenz bedeutet. Vier Wochen, in denen ein Riss aufklafft im Konstrukt, das ich sonst als Realität bezeichne und wahrnehme.
Ein Stillstand, ja, aber es dauert vier Wochen, um selbst still zu werden. Manchmal ist es keine unangenehme Stille, im Gegenteil, aber manchmal ist es unerträgliche Stille und Ungewissheit. Für meine Großmutter ist diese Situation schmerzlich, und in dieser Stille nehme ich einen kleinen, nur ihr gewidmeten Tanz auf Video auf, schicke es ihr, damit sie mich wenigstens so sehen kann. Nichts für die Öffentlichkeit, aber...
Wer nicht das Glück oder Unglück hat, zum Zeitpunkt der Beschränkungen in einem Haushalt mit Mitbewohnerınnen oder einer Kernfamilie zu wohnen, ist tatsächlich in Selbstisolation auf sich allein gestellt. Der PC wird zum Fenster der Welt, aber irgendwann schalte ich aus, weil alles zu viel ist. Wie läppisch viele noch so ernst gemeinte Beiträge wirken. Alles wird so flach.
Anything goes, auch die emotionalen Bedürftigkeiten der „Userınnen“ werden auf einmal schmerzhaft sichtbar, der Wunsch nach Sichtbarkeit um jeden Preis wird deutlich. Wo sonst die sozialen Medien für Werbung, Selbstwerbung und Pose genutzt werden, wandelt sich dieser Aspekt in schiere Verzweiflung und zeigt gleichzeitig die Unmöglichkeit, unsere Realität ins Digitale zu verschieben. Nein, im Moment ist alles anders, und es ist anders, wenn keine Tanz- und Theatervorstellungen im öffentlichen Raum stattfinden. Da hilft auch das x-te intelligente und interessante home video nichts.
Sonntag, 19. 4. 2020 – Fünf Wochen sind jedenfalls eine Grenze: Genug der verantwortungsbewussten solidarischen Isolation, ich halte es nicht mehr aus und muss Menschen sehen, bekannte Gesichter sehen. Und anderen geht es genauso. Man trifft sich. Besteht ziviler Ungehorsam nun darin, abzuwägen, inwiefern ich verantworten kann, mich mit bestimmten Menschen zu treffen, und wie nahe ich ihnen komme oder wie nahe ich sie an mich heranlasse?
Fünf Wochen danach macht sich aber langsam auch Akzeptanz der eigenen Situation breiter, und es öffnet sich ein Raum, Zeit ist ja im Überfluss da, für Neues, Unvorhergesehenes. Spontanität, die sonst nicht denkbar wäre, wird wieder erlebbar; wenn nichts zu tun bleibt. Warum sich zwingen? Wenn nichts zu tun ist, dann kann ich auch tun, was mir wirklich am Herzen liegt.
Nie hätte ich gedacht, dass Pressekonferenzen einmal eine derart große Rolle für mich spielen würden. Man darf wieder proben, aber alleine. Für eine Aufführung, deren Termin ungewiss ist, und wie das mit dem Publikum funktionieren soll, ist noch ungewisser. Etwas skurril mutet an, wie über Kunst und Kultur, über „die Künstlerınnen“ gesprochen wird. Bin ich damit gemeint? Für den Fernsehmoderator des ORF sind Künstler offenbar sowieso nur Musiker. Immerhin nehme ich zur Kenntnis, dass in dieser Pressekonferenz zweimal das Wort „Tanz“ und einmal das Wort „Choreografie“ fällt. Ist doch schon etwas.
Wenn aber wieder gekauft und konsumiert, ja sogar Urlaub gemacht werden soll, warum nicht auch wieder Kunst „konsumieren“? So ganz kann ich meinen Standpunkt hierzu noch nicht verorten, immerhin hat mein Organismus – und das bin ja auch Ich, nicht nur mein Wille und Ego – fünf Wochen gebraucht, um den derzeitigen Zustand zu akzeptieren; die relative Einsamkeit und Ungewissheit auszuhalten und vor allem, das neue innere und äußere Tempo als eine Realität zu begreifen.
Welche Bedeutung auf einmal dem Angebot, einen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen (natürlich auf Distanz) zukommt! Welche Bezeugung von Anteilnahme, Empathie und Fürsorge, Loyalität darin steckt. Das, was mir jetzt am meisten fehlt, hat mir vorher in Wien auch schon gefehlt. Wie geht es mir als freischaffende zeitgenössische Tänzerin? Wie anders wäre meine Situation in der Arbeit mit einem Ensemble? Gemeinsam ist man sichtbarer und nicht ganz so vogelfrei.
Herrschaft über die Zeit
Der momentane Zustand birgt für mich zwei Seiten in sich. Die Passivität, die sich einstellt, die immer auch Voraussetzung ist für die Akzeptanz, die sich nach fünf Wochen endlich einstellt, aber gleichzeitig ganz existentielle Fragen aufwirft, und die können ziemlich bodenlos sein. Diese Akzeptanz stellt die bedingungslose Produktivität in Frage. Was ich mit Bedingungslosigkeit meine: Es gibt immer Bedingungen, unter denen ich etwas schaffe. Wenn ich diese ignoriere, was für einen Wert hat dann mein „Werk“ – für mich, für andere? Und so ist dieser relative Stillstand, die Eingeschränktheit eine Bedingung, für alle Menschen, so unterschiedlich sie diese Zeit erfahren. Und sie stellt die Anpassung in Frage. Jetzt tue ich, was mir beliebt; was aus meinem Inneren kommt, ist stärker greifbar.
Vielleicht gehe ich, anstatt ein energieraubendes Zoom-Onlinetraining abzuhalten, doch in den Park und warte darauf, dass man sich zufällig trifft. Vielleicht ist die community ja auch im Park und nicht online. Rudolf Laban und seine Schülerınnen hätten jedenfalls ihre Freude daran. Und wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich die letzten Tage der Menschheit lieber in der Natur verbringen als vernetzt, online in meiner Wohnung.
Mehr als die Summe hyperaktiver Teile
Ich spüre einen beinahe körperlichen Widerstand, mich allzu schnell zu bewegen, denn ich traue der Situation nicht ganz. Was genau soll jetzt geschaffen werden, für welche Menschen, für welches Publikum? Wenn ich nicht einmal die gegenwärtige Situation und die nähere Zukunft einschätzen und beurteilen kann? Können wir wirklich nicht einmal still sein und eine Erfahrung machen, die eben länger dauert?
Anders formuliert, es ist ein wenig wie bei einer großen Improvisation, die nicht so richtig gelingt, weil niemand wirklich zuhört. Da geht es um Intuition, um Timing, um ein ästhetisches Urteilsvermögen, nach dem ich handle. Erst wenn man nicht mehr wild herumschreit, kann etwas entstehen, das vielleicht abstrakt ist, aber dessen innerer Sinn und dessen inhärente Logik einen Mehrwert darstellt, mehr ist als die Summe der hyperaktiven Teile. Ich werde diese Bühne erst betreten, wenn ein bisschen Klarheit und Platz da ist.
Zeitgefühl und nachhaltige Strukturen
Als freischaffende zeitgenössische Tänzerin möchte ich nicht zu Aktionismus gezwungen werden. Ich möchte genauso qualitätvoll und strukturiert, selbstbestimmend über Räume, Bedingungen, die der Tanz manchmal hat, arbeiten können. Die Kluft zwischen Hochkultur und sogenannter Freier Szene, die offenbar immer noch weit verbreitete Annahme, dass „Freie Szene“ auch eine bestimmte ästhetische und qualitative Richtung bedeutet, wird in den diversen skurrilen Ansprachen und Debatten deutlich.
Wie sieht die Zukunft aus? Warum heißt „frei“ sein, gleichzeitig verdammt zu sein zum Einzelkämpfertum und einmaliger Projektarbeit? Nachhaltige Strukturen aufzubauen – würde das bedeuten, dass die „Freie Szene“ dann weniger frei ist? Ich denke nicht, im Gegenteil. Man könnte endlich damit anfangen, das zu tun, was man tatsächlich verwirklichen und schaffen will. Im Bereich des Tanzes heißt das: auch mit einer Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum etwas erarbeiten zu können. Eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, das braucht Zeit, braucht Prozesse.
Abwägen, wach sein, etwas wagen
Es ist abzuwägen, wie über die Zeit in der Pause verfügt werden kann. Das bedeutet, wach zu bleiben, um im richtigen, musikalischen Zeitpunkt, den ich selbst bestimme, mich wieder in die Welt zu werfen, mit dem eigenen Körper. The revolution will not be televised.
Ich möchte tanzen. Und ich möchte auch in Zukunft mehr Zeit dafür haben. Ich möchte Wurzeln schlagen, und ich möchte das mit anderen Menschen tun, unter Bedingungen, die Qualität und Entwicklung erlauben, langfristig, die sowohl beruflich und sozial und künstlerisch „nachhaltig“, in eine Zukunft gerichtet sind, und ich möchte im Medium Tanz und Choreografie der Welt begegnen und ihre Verhältnisse reflektieren können.
Vielleicht gehe ich raus
Freitag, 24. 4. 2020 – Wie gesagt, am 8. Mai 2020 hätte die Aufführung von Recalling Her Dance im Tanzquartier Wien stattfinden sollen. Der erwähnte Aufruf wäre als Teil des Stückes zu sehen gewesen. Hanna Berger hat diesen kurzen Tanz ohne Musik vor 75 Jahren am Tag der Solidarität in Wien aufgeführt. Vielleicht gehe ich in zwei Wochen raus und tanze diesen Aufruf – einfach so.
Weil ich nicht aufhören will zu tanzen und mir nicht vorschreiben lasse, was möglich ist und was nicht. Und weil es auch ein Aufruf an die Gegenwart und an die Zukunft ist. Ein Aufruf, aus dem Trott auszubrechen – und jetzt können wir, innehaltend, in Bewegung bleiben. Für welches Publikum, weiß ich noch nicht. Vielleicht entsteht aus diesen Trümmern an Plänen, Vorhaben, Spielplänen und schrillem Produzieren etwas Neues: neue Verbindungen und neue Verhältnisse.
Anmerkungen:
Aus dem Pressetext des Tanzquartier Wien: „Die Tänzerin Hanna Berger (1910-1962) zählte in der Zeit, als Wien ein Zentrum der Moderne war, neben zahlreichen anderen Künstlerinnen zu den markantesten Vertreterinnen des Modernen Tanzes. Während der NS-Diktatur war Berger im Widerstand aktiv, sie wurde in Berlin als Kommunistin verhaftet, und kehrte 1945 nach Wien zurück, wo sie sich bis zu ihrem frühen Tod der Weiterentwicklung des Tanzes in unterschiedlichsten Bereichen widmete. Eva Schaller setzt sich in Recalling Her Dance tänzerisch mit Biographie und Werk der vielfältigen, auch politisch radikalen Tanz-Künstlerin auseinander. Tagebucheinträge, Notizen zu ihren Choreographien, historisches Text- und Bildmaterial fließen in die Arbeit ein. Neben materiellem Archiv und Überlieferung ist das Tanzen als Ort und Träger von Informationen zentral. (...) Recalling Her Dance ist ein Stück über die Vermittlung von Körperwissen, ein Weitertanzen und Weiterdenken von Idealen und Lebensrealitäten und zugleich ein Versuch der eigenen Verortung als Tänzerin hier und jetzt.“
Eva Schaller, geboren 1985 in Wien, studierte an der Ballettschule der Wiener Staatsoper und der Codarts Rotterdam. Sie arbeitete sie mit Emio Greco und Anouk van Dijk im Rahmen internationaler Gastspiele, in Wien u.a. mit Christine Gaigg. Seit 2016 ist sie Countertechnique-Lehrerin und unterrichtet in Tanzinstitutionen europaweit. Eigene choreografische Projekte realisierte sie bei Residencies in Athen, bei Dansateliers Rotterdam und mit D.ID. Das Solo Vestris4.0 war bei imagetanz im brut Wien (2018), What we hold inside (2019) auf Festivals in Österreich und Slowenien zu sehen. 2019 wurde Schaller als Stipendiatin zum Campus der AdK Berlin, Thema: Aktualität des Tanzerbes, eingeladen. Im Jahr 2019 Wahl zur „Hoffnungsträgerin“ im Jahrbuch Tanz, Berlin.
(25.4.2020)