Kunst muss moralfrei sein
Zur Untersuchung des Verhältnisses von Macht und Kunst
Leonhard Emmerling: Kunst der Entzweiung – Zur Machtlosigkeit von Kunst. Wien: Turia + Kant 2017.
Kunst und Ästhetik – was haben sie der Gesellschaft zu sagen? Was können Kunst und Reflexion über sie zur Gesellschaft beitragen? Was ist ihre Wirkung? Dient uns die Kunst als Modell eines gelungenen Seins, und ist sie nur dann von Belang, wenn dieses Modell erfolgreich ist? Kann ein subjektives ästhetisches Urteil ausreichend sein? In welcher Beziehung steht es zur Gemeinschaft? Geht dieses Urteil nicht oft nahtlos in ein moralisches über, und ist dieses wiederum nicht der Notwendigkeit einer Normierung verpflichtet, die sich mit unserer westlichen Auffassung von Freiheit nicht verbinden lässt, nicht verbinden lassen sollte?
Was also, fragt Leonhard Emmerling in seinem Buch Kunst der Entzweiung – Zur Machtlosigkeit von Kunst vermag „Ästhetik und Kunst in der Gesellschaft zu leisten und was nicht“? Und er nimmt dazu eine spannende, erhellende und genaue Analyse vor.
Auf Immanuel Kant und die Aufklärung zurückgehend, beleuchtet Emmerling zunächst zentrale Terminologien, die bis heute den Kunstdiskurs (des deutschsprachigen Raums) bestimmen. In dessen Kern finden sich: „das Schöne” und mit ihm das „ästhetische Urteil”, welches im Zuge nie endender Reflexion niemals zur Erkenntnis werden kann. Im Verhältnis zu diesem gesellt sich das „bestimmende Urteil”, das sich zu empirischen Fakten verhält und daraus seine Schlüsse zieht. Und schließlich wäre da noch „die Freiheit“ in Bezug auf Urteilskraft und das selbstgesetzliche Werk, dem gegenüber sich das autonome Subjekt im Verhältnis zu dem Heteronom der Gesellschaft erfährt. Diese letztere Erfahrung wäre, so betont Emmerling, „nicht Übereinstimmung im schon immer Gewussten oder Behauptung von Übereinstimmung mit allen anderen“, vielmehr ist es die „Unabsicherbarkeit dieses Prozesses des tastenden, zweifelnden Urteilens“, durch den der Gemeinsinn entsteht (S. 27).
Wenn Freiheit zum Gesetz wird
Auch „das Erhabene“ kommt ins Spiel: Bei Schiller verbindet sich dieses mit der Moral, die Kant noch als explizit getrennt vom ästhetischen Urteil und dem Schönen verstanden hatte. Damit verändert sich der gesellschaftliche Stand des Schönen. „Dem Schönen wird nun abverlangt, im Hinblick auf das Soziale eine Leistung zu erbringen, seinen Wert zu erweisen in Relation zu einem Größeren und Bedeutsamen, des ‚Menschen Bestimmung‘“. (S. 48) In dieser Hinsicht aber muss das Schöne versagen. Die Verpflichtung auf eine bestimmte Wirkung verändert die Kunst nachhaltig. Denn was auch immer sie zu geben verpflichtet sein sollte, steht in Verbindung mit dem, was auch immer unter Freiheit verstanden wird. Und wenn Freiheit zum Gesetz wird, dem entsprochen werden muss, ist die Freiheit nicht mehr frei.
So stattet Emmerling diesen und anderen Begriffen der Ästhetik, die uns seit dem 18. Jahrhundert begleiten, einen Besuch ab, um ihre Dynamiken und Verkettungen im 20. und 21. Jahrhundert weiterzuverfolgen. Dabei lässt er nicht unerwähnt, dass sich die Bestimmung des Menschen seit der Aufklärung immer wieder verändert hat – je nach vorherrschenden Staatssystemen, die diese Bestimmungen konstruierten, formulierten und damit anordneten, welche Subjekte an Systemen teilnehmen, sichtbar werden durften, und welchen die Existenzberechtigung abgesprochen werden sollte.
Auch wenn es bei dieser Erwähnung bleibt, die Emmerling in diesem Buch explizit nicht weiter vertieft, handelt es sich doch um einen wichtigen Hinweis. Denn er lässt das eröffnete Feld noch einmal in einem anderen Licht erscheinen, das wesentlich ist für die von Emmerling aufgezeigten Dynamiken, an denen Kunst immer Anteil hat: die Kräfteverhältnisse zwischen Staat, Wirtschaft, Gemeinschaft und Individuum. Die auf diese Weise vorgenommene Klärung der Begriffe der Aufklärung mag zuweilen etwas unzeitgemäß scheinen. Doch sie ermöglicht ein differenziertes Mitdenken in einer komplexen weiteren Auseinandersetzung: Auf anregende Weise zeichnet Emmerling die Bewegungen des Denkens nach, die wesentlich für die Entwicklung unserer westlichen Demokratien waren.
Anspruch des erweiterten Kunstbegriffs
Nietzsche zufolge, der die Trennungen zwischen Körper und Geist, Geist und Materie aufhebt, der die „Sphäre von Schein und Wahrheit, von subjektiver Allgemeinheit und Objektivität, von Autonomie und Heteronomie“ nicht mehr auseinanderhalten möchte, wird die Kunst zur lebensbejahenden Kraft. Die Auflösung der Dichotomien von Wirklichkeit und Schein, wahr und falsch, entspricht der Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben, welche die Avantgarde des 20. Jahrhunderts bestimmte. Es ist dieser Anspruch, der, wie Emmerling in seiner durchaus polemischen Einleitung feststellt, mittlerweile von einem neoliberalen Markt übernommen und für seine Zwecke realisiert wurde.
Mit Nietzsche beginnt auch die „Autonomwerdung des Werkes im Denken über Kunst“ und damit „die Entwicklung des Kunstmarktes, die Herausbildung des Typus des Künstlers als Unternehmer, der seine Dienste zur Verfügung stellt, die oft beschriebene Emanzipation der Kunst von den Beschränkungen und Bestimmungen feudaler und kirchlicher Auftraggeber“ (S. 82). Emmerling beleuchtet die progressiven Kräfte der Kunst, die im 20. Jahrhundert zu einem erweiterten Kunstbegriff führen. Künstlerische Strategien, die den Rausch und die Augenblickshaftigkeit in ihr Zentrum stellen, um damit einer „Kunst des Verlernens“ (S. 129) nachzugehen, verschränken sich nun mit gesellschaftlichen Dynamiken von Freiheit, Entscheidung, Individuum, Radikalität und Gemeinschaft. Genannt werden hier namentlich nur Duchamp und Beuys. Obwohl die Ausgangspunkte dieser beiden Künstler verschieden sind, treffen sie sich laut Emmerling am Ende doch: „Bei Beuys verschwindet die ästhetische Differenz, da das Leben sich gemäß der Kunst umordnet; bei Duchamp verschwindet sie, weil endlich Wege gefunden wurden, Werke zu schaffen, die keine Kunst sind.“ (S. 91)
Der erweiterte Kunstbegriff macht es nötig, eigene Bezugssysteme zu formulieren: Manifeste, Pamphlete, Schriften – von Künstlerınnen verfasst – werden ins Feld gerufen, wodurch das Konzept der „Entzweiung” seine Wirksamkeit entfalten kann. Die so entstehenden Systeme sind in sich geschlossen, indem sie mit einem „Außen” (einem anderen System) kommunizieren, sich aber damit nicht notwendigerweise in Bezug setzen müssen, um ihre Existenzberechtigung zu finden.
Laut Emmerling reagiert die Kunst mit zwei Methoden auf den Verlust ihrer Notwendigkeit. Zum einen durch Komplexitätsreduktion, indem sie ein Modell in Form einer vereinfachten Repräsentation schafft, aus der heraus eine Wahrnehmung und Reflexion stattfinden kann. Zum anderen durch Komplexitätsproduktion, indem sich das Kunstwerk zum verschränkten Absoluten ohne Verweischarakter nach außen macht. „Was der Welt entnommen wird an Material, Themen oder Verfahrensweisen, wird im Inneren des Kunstwerks transformiert, Zusammenhänge werden weiter verknotet, verdichtet“ und in andere Zusammenhänge überführt. (S. 120) Jedoch muss Kunst, die sich selbst aufspaltet und entzweit, in einer immer komplexeren Gesellschaft darauf achten, ihren eigenen Wert zu untermauern – sowohl der „Gesamtheit des Systems als ihrer Umwelt“ gegenüber als auch „für die Subsysteme, in die sie sich aufspaltet“ (ebd.): Da sie sonst leicht durch andere soziale Praktiken austauschbar werde.
Verkoppelung von Kunst und Moral
Der Autor verweist auf den ethical turn, der dem social turn der relationalen Ästhetik folgt. Hier werde von der Kunst „Stellungnahme zu Problemen verlangt, mit denen sich eigentlich die Moral befasst.“ (S. 139) Das Kunstwerk wird auf seinen „propositionalen Gehalt“ hin beurteilt, um zu prüfen, inwiefern dieser sich mit aktualen Vorstellungen des Guten und Wahren in der „außerkünstlerischen Wirklichkeit“ in Übereinstimmung befindet. (S. 141) Dabei wird das Faktum, dass ein Großteil der Kunst Ware war und ist und damit zusätzlichen Interessen (intellektuell, ästhetisch, spirituell, etc.) folgen muss, oft außer Acht gelassen.
Das Kunstwerk scheint vehement einen „Mehrwert” transportieren zu müssen. „Auch die Verweigerung des Mehrwerts durch die Kunst lässt sich im System Kunst als eben dieser ‚Mehrwert‘ lesen.“ (S. 144) So entstehen verschiedene „konkurrierende Moralen“ (S. 146), die den systemeigenen Vorstellungen von dem, was gut wäre, entsprechen. Ein Kunstwerk allerdings ist für Emmerling die „Produktion der Einheit und Gleichzeitigkeit des Gegensatzes von Schein und Wirklichkeit, als Produktion der Einheit des durch Entzweiung Geschiedenen, verklammert durch die Form.“ (S. 149) Und weist somit weit über sich hinaus: „Seine Syntax – die Art und Weise, wie Formelemente im Werk aufeinander verweisen – ist zu dicht, als dass sie sich auf einen propositionalen Gehalt eindampfen ließe.“
Unbestimmtheit ist also konstitutiv für die künstlerische Kommunikation und wird nur zeitweise durch das In-Beziehung-Treten mit einem bestimmten Subsystem vermindert. „Kunst ist hochgetriebene Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Kommunikation.“ (S. 121) Während eine Aussage als wahr oder falsch bezeichnet werden kann, ist dies bei einem Kunstwerk nicht möglich. „Ein Ballett, ein Gedicht, ein Popsong, ein Gemälde ist keine Aussage, über deren Wahrheitsgehalt geurteilt werden kann.“ (S. 160) Ein Kunstwerk ist eine Form von Wirklichkeitsverarbeitung. Es ist mit der Wirklichkeit über einer Art Membran verbunden, einer Durchdringung von innen und außen, welche sich zugleich im gegenseitigen Werden konstituiert, als „Ausdruck, Widerdruck jenes Eindrucks von Wirklichkeit.“
Die Ästhetik, ein Teilsystem der Kultur, beschreibt Emmerling als Verfahren, in dem „die Zuweisung von Werten an soziale Tatsachen beobachtet“ wird, die „aus einer Anzahl von Gründen als ästhetische Gegenstände konstituiert werden, ohne als solche dauerhaft bestimmbar zu bleiben“ (S. 169). Ästhetik als moralische Praxis, die sich selbst „ein Gutes“ zu setzen imstande ist, bedarf wiederum ihrerseits einer Ethik als Korrektiv, die ihre Wertsetzungen beobachtet. Sie kann bewerten, „wann Ästhetik in dem von ihr gesetzten Guten argumentiert, und wann sie sich der Übergriffigkeit des Moralischen überlässt“ (S. 186). Denn die „Festlegung der Kunst auf bestimmte Ziele, unter deren Gesichtspunkte sie als gut oder verwerflich, als konstruktiv oder zersetzend, als verächtlich oder bewundernswert und dergleichen erachtet wird, ist eine Form der Schließung der konstitutiven Entzweitheit des ästhetischen Gegenstands zugunsten einer Moral, welche, da normativ verfasst, sich der Reflexion verweigert“.
Die Stärke der Schwäche
So wird erkennbar, wie genau Emmerling dem moralischen Impetus und etwaigen moralischen Aufträgen an die Kunst auf der Spur ist – um schlussendlich in einer transversal diskursiven Verschränkung ein Plädoyer für die Schwäche der Kunst zu halten. Denn „[d]as Verhältnis der Gesellschaft zu der von ihr etablierten Ökonomie von Werten stellt sich als vom Diskurs der Macht strukturiert da, der darauf dringt, alles Widerständige in die Tyrannei einer auf Einsinnigkeit zulaufenden Rationalität einzusaugen.“ (S. 194) In diesem Sinne sei es nicht problematisch, dass die Wirkungsmacht der Kunst fragwürdig ist. Vielmehr sei es so, dass sich die Kunst zur Macht verhält – „als das in ihr von ihr Entzweite, als der Verzicht auf die Teilnahme an Macht und als die Inanspruchnahme des Rechts auf Verzicht, das dennoch Berücksichtigung verlangt wie diese gewährt“ (S. 197). In diesem Sinne plädiert Emmerling für ein „machtloses Beharren auf dem Recht des Subjekts, sich der Vergemeinschaftung, der Totalität zu entziehen“ und für „ein Beharren auf dem Fragmentierten“.
Es gilt, der Kunst die Möglichkeit zu geben, das Undenkbare darzustellen, dies zu reflektieren und so zu neuen Erfahrungen zu gelangen, und nicht, sie an moralische Vorstellungen zu binden. Vielmehr muss die Kunst immer wieder von den Fängen der Moral frei gehalten werden – die Autonomie des Kunstwerks und des ästhetischen Urteils konsequent respektiert werden. Denn (nur) so kann ein singuläres Subjekt gegenüber einem singulären Gegenstand durch Mit-Sein und Teilhabe an der Gemeinschaft in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk eine politische Praxis der Freiheit etablieren.
Kunst der Entzweiung – Zur Machtlosigkeit von Kunst liest sich als Aufforderung zu einer differenzierenden Beschäftigung mit subjektiven Denkbewegungen in Rücksichtnahme auf eine Allgemeinheit, von der das Subjekt immer Teil bleibt. Die Kunst ermöglicht in ihrer komplexen Produktion von Schein, Wirklichkeit und Spiel die Schaffung eines ästhetischen Gegenstands, der sich moralischen Normierungen entgegenstellt und so dem Denken die Möglichkeit gibt, sich in neue Bereiche vorzutasten. Es ist eine Aufforderung an die Ästhetik, diese Bewegungen zu begleiten, um zu klären, welche Wertzuweisungen, welche Konstellationen, außerkünstlerische „Umstände, Kommunikationsformen […] sich ergänzenden und widersprechenden Tendenzen sich in verschiedenen geographischen, sozialen und politischen Räumen identifizieren und darstellen“. (S.170)
In diesem Band werden wesentliche Merkmale und Werte unserer derzeit vieldiskutierten westlichen Kultur beleuchtet. Sie gründen auf den Möglichkeiten der Reflexion, in denen sich das Subjekt seinem eigenen Urteil stellt – indem es von seinen eigenen Interessen zurücktritt oder sich deren gewahr wird. Die Rede ist von einer Reflexion des Subjekts in Rücksichtnahme und in Beziehung zu einer Allgemeinheit und dem Anderen (dem Fremden, dem eigenen blinden Fleck), dessen Teil es immer ist. Die westlichen Demokratien und wir, die wir auf diese Demokratie bauen, stehen vor der großen Herausforderung, diese Merkmale in ihren Dynamiken, Übertragbarkeiten, Kontaminiertheiten, ihrer Virulenz, handzuhaben.
Wir wissen, dass wir gut daran täten, die Schaffung einer Werte-Ökonomie nicht weiter einem neoliberalen Markt zu überlassen. Und selbst wenn hier wieder die Versuchung besteht, die Kunst im Sinne eines besseren, anderen Wertesystems einmal mehr eintreten zu lassen, so geht es doch wesentlich (und wieder und wieder) darum, mit etwas in Beziehung zu bleiben, dessen wir nicht habhaft werden können – und es gleichzeitig zu beschützen und ihm Raum zu geben. Was auch heißt, dass jede/r einzelne aufgefordert ist, in seinem / ihrem Berufsfeld für zivilgesellschaftliche Belange einzutreten.
(7.2.2017)