Sein hammermäßiges Outfit

BERTRAND BONELLOS FILM “NOCTURAMA” BEIM DONAUFESTIVAL IN KREMS

Von Helmut Ploebst

Großalarm. Polizeisirenen auf den abendlichen Straßen im Zentrum von Paris. Dort in einem Nobelkaufhaus halten sich einige junge Leute versteckt. Sie gehören zu einer Gruppe, die gerade einen gemeinsamen Plan ausgeführt hat. Nachdem das Haus geschlossen ist und die acht wieder zusammen sind, berichtet einer von ihnen, Omar, er habe das Securitypersonal gefesselt und geknebelt im Überwachungsraum eingesperrt. Jetzt könne niemand hören oder beobachten, was in dem Gebäude vor sich geht – auch nicht von draußen.

 

Leere, Dunkel, Stille. Die Gruppe will bis zum Morgen warten. Dann, so sieht es ihr Plan vor, würde sich die erste Aufregung gelegt haben, und alle könnten unerkannt nach Hause fahren. Das Schweigen des riesigen Konsumtempels ist schwer zu ertragen, also wird Licht gemacht und die Musikanlage aufgedreht. Sogar die Rolltreppen werden angeworfen. Das Haus ist zu einer Kapsel geworden, die der unheimlichen Blase entspricht, in der die Youngsters aufgewachsen sind. Die Kapsel enthält, womit auch sie sich gerne ausstatten: Yacine beispielsweise trägt ein blaues T-Shirt mit grünem Nike-Haken auf der Brust. Er tritt vor eine stylish weiße, gesichtslose Modepuppe, der genau das gleiche Modell übergestreift wurde.

 

Akt des Eltern- und Selbstmords

 

Die Zeit wird zäh. Und Omar läßt die Musik so richtig dröhnen. So beginnt der zweite Akt des Films Nocturama (2016) von Bertrand Bonello, der in Österreich bei der Viennale ’16 und in Deutschland ab Mai des Vorjahres zu sehen war und jetzt, am 29. April 2018, als Teil der Kuratierung zu unserer „Endlosen Gegenwart“ beim Donaufestival in Krems (27. April bis 6. Mai) läuft. [1] Bonello bezeichnet seine ausgeklügelte, erst linear angelegte, dann immer schleifenhaftere Szenenchoreografie aus scharfen Schnitten als ein „mysterious ballet“. [2] Dessen Inhalt erweist sich als danse macabre einer Generation, die ab der Mitte der 1990er Jahre geboren wurde.

 

„Ambiguity“ ist ein weiterer Begriff, den Bonello in Bezug auf Nocturama anführt, um den Kontext seiner Geschichte zu beleuchten. Im Unterschied zu den 1970er Jahren sei die Ideologie der Gegenwart komplexer, sagt er, und die Wirklichkeit mehrdeutiger, unklarer geworden. Daher sei es durchaus möglich, daß jemand „von Terrorismus und zugleich vom Kapitalismus fasziniert sein“ könne. So sind seine Charaktere auch. Sie wollen nicht sein wie ihre Eltern, aber sie funktionieren nach demselben Schnittmuster. Die Serie von Anschlägen, mit der sie Paris in den Ausnahmezustand versetzen, ist ein Akt des Eltern- und des Selbstmords zugleich.

 

Der Westen als zugedröhnte Partymeile

 

Zwischen Miloš Formans One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1975) und John Badhams Saturday Night Fever (1977) respektive Grease (1978) hat sich ein Riß aufgetan, dem sehr bald Sylvester Stallones Staying Alive (1983) entwichen ist. In diesem Zeitraum, zwischen 1975 und 1983, wurde aus dem Irrenhaus des Kalten Krieges die Disco des Neoliberalismus. Aus dem Rebellen Jack Nicholson fraß sich – wie nach dem Muster von Ridley Scotts Alien (1979) – ein tanzender John Travolta, und aus der aufbegehrenden Moderne brach die relativistische Postmoderne. Der „Zeitgeist“ der westlichen Eighties verwandelte diesen Westen in eine zugedröhnte Partymeile, in der zukunftsverneinende Punks gegen hedonistische Poppers standen, die zweiteren an die Unis gingen und danach alles möglich machten, was die lärmende Leere der Gegenwart erzeugt.

 

Zehn Kinder jener Generation, die im deutschen Sprachraum nach dem Autotyp „Golf“ genannt wurde, ziehen etwas durch, das eine lineare Aktion ist, und ziehen sich danach – für sie fatalerweise – in ein Warenwahnhaus zurück, in dem sich alle vermeintlichen Eindeutigkeiten wieder verflüchtigen. Das Pariser Kaufhaus heißt „La Samaritaine“. Der darin zelebrierte Markenfetischismus ist ein Erbe der abgründigen Poppers- und Golf-Generation, und der Einsatz der Musik erinnert in manchen Momenten an die heute in „Clubs“ verwandelten Discotempel von damals.

 

Eine leere Geste

 

Einer der acht in „La Samaritaine“ riskiert es, nach draußen auf die Gasse zu gehen, um eine Zigarette zu rauchen. Dort trifft er auf einen Obdachlosen, der auf seine Frau wartet. Er lädt ihn zur „Party“ ein, und bald taucht das Paar tatsächlich auf. Diese „Großeltern“ sind kein bisschen irritiert, sondern überwältigt von all dem Warenglanz. Die soziale Geste verweist auf den in Bezug auf seine Funktion zynisch klingenden Namen des Hauses, der daher kommt, daß an seiner Stelle bis 1813 ein Wasserpumpenhaus zur Versorgung des Louvre und des Tuileriengartens stand. An seiner Fassade trug es ein Relief, nach dem das Pumpwerk benannt wurde: Es zeigte die Begegnung von Jesus mit der Samariterin.

 

Im Film sind unter anderem Ultraviolence von Heartsrevolution, I don’t like it von Chief Keef (feat. Lil’ Reese), Shirley Basseys Version von My Way, John Barrys The Persuaders und Blondie in Giorgio Moroders Call Me zu hören. Aus dieser Palette, die mit eigener Musik ergänzt wird, läßt Bonello Clubmomente und ein queeres Playback-Solo im röhrenden Beltingstil von Shirley Bassey steigen. All das geschieht innerhalb einer angedeuteten Kaaba des Kapitalismus. Als die Attacke auf das Pariser Bataclan geschah, war der Film im Rohschnitt fertig und hieß noch Paris est une fête (nach dem französischen Titel des Buchs A Moveable Feast von Ernest Hemingway). Nach dem 13. November 2015 wurde dieses Buch zu einem weit verbreiteten Symbol der Reaktion auf die Anschläge dieses Tages, und Bonello beschloss, seinen Film umzubenennen: nach einem Album von Nick Cave – Nocturama.

 

Im Herzen des Hedonismus

 

Unter der Perspektive, daß der islamistische Terror ideologisch einen Aspekt der Revolte gegen den westlichen Kapitalismus enthält, ist der Vergleich zwischen den hedonistischen Symbolen des Clubs und des Konsumtempels naheliegend. Bonellos Attentäter greifen das Innenministerium, einen gläsernen Büroturm, ein Denkmal, eine Reihe geparkter Autos an, und sie verüben Morde an zwei einflußreichen Männern. In „La Samaritaine“ geistern sie danach inmitten einer Struktur umher, in der die Röhren des Systems, das sie zu attackieren glaubten, symbolisch zusammenlaufen.

 

Hier berührt Nocturama wohl eine der empfindlichsten Stellen einer normativ gewordenen Ambiguität, in der nun bereits drei Generationen dem Phantasma folgen, es sei schon eine Geste wider das neoliberale System, wenn die „richtige“ Musik genossen werde, ob im Club oder gratis auf den iPod geladen. Die acht Verlorenen stecken in dem reliefreligiösen Pumphaus leerer Signifikanten, einem Herzen des Hedonismus, fest. Bertrand Bonello hat sich viel Zeit genommen, um ihren Weg dahin als ersten Akt seines Films darzustellen, und er nimmt sich ebensoviel Zeit dafür, die Performance ihrer Regression im Kaufhaus auszubuchstabieren. Zu zeigen, wie sie sich in diesem Schlaraffenland bedienen, ratlos die Kleidung wechseln oder mit Spielzeugwaffen Gangster mimen, wie einer Go-Kart fährt, Sex mit einer Modepuppe mimt, ein Bad nimmt und schreit: „Seh ich nicht hammermäßig aus in diesem Outfit?!“ Wie ein anderer hofft: „Wir kommen ins Paradies!“ Und dabei schon ganz nah an die Vorstellungen islamistischer Terroristen kommt.

 

Brennende Jeanne d’Arc

 

Einige teure TV-Geräte in der Abteilung von Bang & Olufsen und Loewe lassen spät nachts erkennen, daß sich das Kaufhaus bereits im Visier derer da draußen befindet. Doch die drei, die das sehen, verschweigen ihr Wissen vor den anderen. Im Nachrichtenkanal heißt es, der Präsident habe die Gruppe zu Staatsfeinden erklärt, das mache Verhandlungen überflüssig. Schließlich gibt Omar zu, dass er das Wachpersonal nicht gefesselt, sondern erschossen hat. Da sind die schwarz gerüsteten Sturmtruppler von draußen bereits eingedrungen.

 

Niemand kommt davon. Nicht das obdachlose Ehepaar, das zu keinem Zeitpunkt begriffen hat, was wirklich in dem Kaufhaus abläuft, noch der minderjährige Afrofranzose Mika, noch Sabrina, die das vergoldete Denkmal der Jeanne d’Arc an der Place des Pyramides mit einer brennbaren Substanz eingerieben und angezündet hat. An dieser Statue pflegt der Front National übrigens jedes Jahr den 1. Mai zu feiern. Sabrina ist es auch, die als erste sagt: „Wir werden alle sterben.“

 

Auflösung der besseren Welt

 

Traurig. Doch der Tod der zentralen Figuren des Dramas ist bloß ein in den Vordergrund gestelltes Randmotiv. Die eigentliche Tragödie bei Nocturama baut sich in Bonellos Darstellung der Auflösung einer während der philosophischen – im Gegensatz zur ökonomischen – Postmoderne konzipierten besseren Welt zusammen, die im Denken von Toleranz, Komplexität, Offenheit und Unabgeschlossenheit verankert hätte sein sollen. Die ökonomische Postmoderne hat, wie während eines Dialogs zwischen Sarah und André über dessen Politikwissenschaftsstudium anklingt, die philosophische durchdrungen und damit ausgesetzt.

 

Am Ende dieser danse macabre steht die Einsicht, daß ein Teil der Digital Natives die Semiotik, die Analyse und die Poesie der poststrukturalistischen Reden im Lichtzerhacker und Popgeröhre des Spektakels übersehen und überhört hat. Also lassen die im Lärm der Verhältnisse sprachlos gewordenen Youngsters als „Rebels without a Cause“ – ohne zu wissen, was sie tun – Waffen sprechen.

Fußnoten:

  1. ^ Vgl. https://www.donaufestival.at/de/startseite.
  2. ^ Vgl. Interview mit Bonello auf der DVD „Nocturama“. Berlin: good!movies 2017; siehe www.realfictionfilme.de.

 

(25.4.2018)