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Postcontemporary: Keine Zeit

Versuche zur Zeitgenossenschaft #6

Von Sabina Holzer

Die Zeit ist abhandengekommen. Die Maschinenmenschen haben sie an sich genommen, so heißt es. Sie haben sich die Zeit zur Brust genommen. Zum Herzen, sozusagen, das nicht mehr am rechten Fleck ist. Eine Leerstelle tut sich da auf. Ein schwarzes Loch, will sie beinahe sagen. Und fragt sich, ob sie die Krümmung der Raumzeit auch in sich trägt. So verbogen wie sie sich vorkommt. Und ihr komischer kosmischer Körper kommt ihr in den Sinn, der Steine in ihrer Galle fabriziert, die wie kleine Planeten in ihrem Körper ihr (Un)Wesen treiben.
Was schlägt und brummt da in den Ohren und summt den Sinussong? Besteht das Herz darauf, ein Herz zu sein? Altmodisch, wie es ist. Unzeitgemäß sozusagen, auf seinen Rhythmus pochend.

 

Keine Zeit hat sie, um sich damit zu beschäftigen. Das macht ihr zu schaffen. Die Zeit rinnt ihr durch die Finger. Die ihrerseits versuchen mittels Streifzügen über Bildschirme und Gesichtsbücher die Welt zu ertasten. (Richtigstellung: Viele Bildschirme, ein Gesichtsbuch mit vielen Gesichtern. Augenlose Späher.) Manchmal wird diese kopfgesengte Blindheit von einem Zwitschern unterbrochen. Sie hebt den Blick. Ach, nur ein Anruf für den Mitfahrer in der Straßenbahn. Ach, nur der Präsident. Im Präsens ausgebreitet. Unprädestiniert, wie sie findet, dieser Präsident. Und vertieft sich wieder ins Heute. Das Heute der Leute. Das sich nicht mehr um die Fakten kümmert. Diese immer wieder mit neuen Schlagzeilen zertrümmert. Muss man regelrecht sagen. Da gibt es keine Regeln mehr. Gesetzlos fliegen die Faktentrümmer umher wie Meteoritenreste, von denen niemand weiß, woher sie kommen. Niemand will getroffen werden. Alle ducken sich und machen weiter, als ob nichts gewesen wäre. War da etwas? Was? Sie steigt aus. Genug des Echos. Ist das die Blase? Ist das die Welt? Die kreist, in zeit- und zahlloser Wiederkehr. Ladend zwischen Null und Eins.

 

Verwegen sucht sie Wege. Versucht, sie auf eigenartigen Fluchtlinien zu finden. Manche davon, speziell die auf den Fluchtrouten, sind ein Fluch. Sind sie einmal geschlossen, werden sie zur Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt. Die Hölle auf Erden. Unmenschlich. Kein Vor und Zurück gibt es dann. Nur zeitlosen Stillstand. Ohne Sinn und ohne Ziel. Die Menschen dort sind schon bald keine Menschen mehr. Darum gibt es für sie kein Weiter. In das versprochene Land. In den Staat, der sich verspricht. Und nicht mehr weiß, wie er seine verfassungsrechtlichen Grundsätze grammatikalisch umbauen soll, um die Situation zu fassen. Sie ist unfassbar. Diese Zeit. Dieses Jetzt, das sich ungeachtet jeglicher Differenzen ausbreitet. Diese Situation, die nicht hier ist. Aber wo, bitte schön, ist denn die Grenze des Hier und Jetzt? Der Lage. Der Nation. Für die einen ein veraltetes Modell, für die anderen gerade wieder hoch im Kurs. Sie behaupten, sie könnten uns zeigen, woher-wir-kommen und wer-wir-sind und wohin-wir-gehen. Als ob die Nation alle Probleme löst. Mit solchen Linearitäten kommen wir sicher nicht weiter. Das ist unzeitgemäß.

 

Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, diese Schieflage. Sie existiert. Das ist nicht zu leugnen. Auch die Lügenpresse berichtet davon. Von dem immer größer werdenden Riss. Dieser Spaltung. Dieser Faltung. Dieser Kluft. Da bekommt sie es schon mal mit der Angst zu tun, dass sie hinunterschlittert. Abfällt und ausfällt. Dass sie sogar von den Algorithmen fallen gelassen wird und plötzlich in ihrer Unscheinbarkeit nirgends mehr aufscheint. Nicht mal zum Schein mehr Freunde hat, die ihre Befindlichkeiten im Gesichtsbuch veröffentlichen. Die Maschinenmenschen werden da auch nicht weiter helfen. Und die Genossen? Die haben sich auf unerklärliche Weise zurückgezogen. Außerhalb der Zeit haben sie gewartet. Lange gewartet. Niemand weiß, was sie tatsächlich getrieben haben. Wahrscheinlich haben sie einfach mitgespielt. Aber jetzt mal schnell in der Gegenwart ankommen? So einfach ist das nicht. Gegenwart ist gleich Erinnerung. Geisterhaft spukt sie in die Zukunft. In die wir uns begeben sollen. Ganz einfach. Ohne Angeberei hingeben. Der Zukunft. Sie wird. Gegenwärtig. Ganz wach. Wie das linkischen Werden. So zeitlos. Wirksam. Auch ohne Macht.

 

(7.2.2017)